Femizide bekämpfen, aber nicht unbedingt für Frauen …

Der von uns hochgeschätzte Verbrecher Verlag bringt jedes Jahr ein Spektrum interessanter und lesenswerter Bücher heraus und macht mit der darin aufgefundenen Bandbreite an kritischer Literatur immer wieder Lust darauf mehr aus dem Sortiment zu lesen. Wir haben uns für einen Titel entschieden, der, nach unserer intensiven Beschäftigung mit dem Thema der gesellschaftlichen Gewalt gegen Frauen, hier nachzulesen, klang wie die ins Buch gebrachte Synopsis unserer Arbeit. Spoiler: Es geht um Femizide.

Der Begriff des Femizids

„Femi[ni]zide. Kollektiv patriarchale Gewalt bekämpfen“ ist das Werk eines „Autor*innenkollektivs“, das sich BIWI KEFEMPOM nennt. Diese Abkürzung bedeutet „Bis wir keinen einzigen Femi(ni)zid mehr politisieren müssen“. Die Autorinnen, die sich im Buch dann trotz kollektiven Umschlagsnamens, namentlich und mit Biographie vorstellen, befassen sich intensiv mit dem Begriff des Femi(ni)zids und zeichnen die Entstehung einer Bewegung nach, die sich gegen die durch ihn zum Ausdruck gebrachte Gewalt gegen Frauen in Stellung bringt. Dabei werden besonders die politischen Strategien zur Politisierung von Femi(ni)ziden ins Auge gefasst und die politische Praxis der Protestformen, die darin zur Anwendung kommen, dargestellt. An diesen Stellen glänzt das Buch durch detailreiche zeithistorische Abbildung und die genaue Erfassung politischer Zusammenhänge, die zugleich als Inspirationsquelle für neue Bewegungen verstanden werden können. Hier entsteht die Möglichkeit aus einem Text heraus eine Praxis zu imaginieren, in der politische Organisation und Widerstand möglich sind. Es geht um die Anleitung zu feministischen Raumnahmen die zur Begegnung, Vernetzung und Politisierung genutzt werden können, die die Trennung von privat und öffentlich durchkreuzen und Vereinzelung und Ohnmacht entgegenwirken können. (vgl. 127f.) Der Kampf gegen die patriarchalischen Gewaltstrukturen soll bewusst zwischen aktiver Verteidigung „Frauenpatrouille“ und künstlerischer Aneignung „Straßentheater“ stattfinden. (vgl. 136) Zur Erforschung der Grundlagen der herrschenden Gewaltverhältnisse sollen feministische Genealogien entwickelt werden, die die historischen Verläufe der Gewaltentwicklung explizit machen und die Erarbeitung einer feministischen Geschichtsschreibung ermöglichen. (vgl. 23f) Diese soll eine Identifizierung und Infragestellung von rechtfertigenden Narrativen misogyner Gewalt durch patriarchale Institutionen ermöglichen. (vgl. 27)

Wir sind mit dem Ziel dieses Buches solidarisch. Besonders die letzten Sätze im vorigen Absatz könnten das Motto unseres momentanen Projekts einer feministischen Geschichte Österreichs sein. Die Aufklärung über patriarchale Gewaltverhältnisse und die Erarbeitung von Begriffen zu ihrer Kritik steht auch im Zentrum unserer publizistischen Tätigkeit. Darüber hinaus sehen wir auch den Sinn einer interventionistischen Textproduktion, die einen Anspruch über das Erteilen von guten Ratschlägen hinaus erhebt. Brauchbare Interventionen wecken Gefühle, indem sie den Gewaltverhältnissen durch die explizite Darstellung der konkreten Gewalt die Maske herunterreißen. Die Sprache der Verhältnisse ist die Sprache der Gewalt. An diesem Faktum kommt kein interventionistischer Text vorbei. Es ist daher nahezu unmöglich einen interventionistischen Text zu verfassen, der gleichzeitig nach akademischen Maßgaben und mit Rücksicht auf individuelle Befindlichkeiten operiert. An dieser Stelle beginnen unsere Probleme mit diesem Text.

Gesellschaftliche Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit Femiziden

Für die Autorinnen soll es konsequenterweise „kein akademisches Privileg, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit“ (21) sein, sich mit Femi(ni)ziden auseinanderzusetzen. Gleichzeitig geht es in dem Buch merkbar von Anfang an nicht in erster Linie um patriarchale Gewalt gegen Frauen, sondern um ein allgemeines und in seiner Beschreibung oft diffuses Gewaltproblem gegen, durch akademisches Vokabular erfasste, Opfergruppen. Zusammengefasst unter dem sperrigen Begriff FLINTA erweitert sich der Bedrohungshorizont von „Frauen“ etwa auch auf „Lesben“. Und es stellt sich zum ersten und nicht zum letzten Mal in diesem Buch die Frage, ob das ganz ernst gemeint sein kann? Sind Lesben keine Frauen? Aber gleich danach wird klar, worum es wirklich geht. Und zwar um die akademischen Privilegien von „inter, nicht-binären, trans oder agender Personen“ (ebda.).

Der, im ersten Halbsatz des ersten Kapitels dankenswerterweise kritisierte akademische Jargon wird im zweiten Halbsatz zur Hilfe genommen, um die Position der Frauen in dem Buch über Gewalt gegen Frauen zu relativieren. Denn nun geht es nicht mehr um das Faktum, dass Frauen unter männlicher Gewalt zu leiden haben, sondern um „die traurige Tatsache, dass FLINTAs tagtäglich ermordet werden“. Es geht also um ein ganzes Spektrum an von Gewalt betroffenen Gruppen, von denen einige auch männlich gelesen werden können und es geht auch nicht mehr eindeutig um männliche Gewaltstrukturen und das Patriarchat, sondern um „die strukturellen und kontextspezifischen Bedingungen, die Femi(ni)zide ermöglichen“. Und wir dachten das zumindest wäre schon geklärt. Aber die akademischen Peergroups fordern ihre Opfer an Klarheit und deshalb wird selbst dieser akademisch verklausulierte Minimalkompromiss noch einmal aufgeweicht zugunsten der Relativierung im dritten Satz, dass es um „feminisierte und/oder rassifizierte Menschen“ gehen soll. Drei Sätze, die das Programm des Buches gut beschreiben. Wo es im Titel um den Kampf gegen patriarchale Gewalt geht, geht es ab dem Einbezug des Begriffs FLINTA, der bewusst „kein abgeschlossener Begriff“ (13) ist, nicht mehr um Feminismus, sondern um ein allgemeines Kritikprojekt mit „dekolonialer“ Perspektive, in der also auch die Rechte von Männern und die Opfer von Rassismus eine wichtige Rolle spielen.

Feminismus vs. Antirassismus?

Die Ungerechtigkeit des europäischen Asylrechtsregimes ist evident. Wir haben uns an anderer Stelle damit befasst. Feminismus und Antirassismus gehen für uns selbstverständlich Hand in Hand, weil wir ALLE Verhältnisse umgeworfen wissen wollen, in denen Menschen erniedrigte und geknechtete Wesen sind. Also nicht nur die Verhältnisse, die unserem persönlichen akademischen Racket unangenehm sind, sondern wirklich alle. Also auch die rassistischen! Was dabei für uns daher keinerlei Sinn macht, ist das Ausspielen des einen Anliegens gegen das andere. Wenn die Autorinnen etwa gegen Ende des Buches auf die Ambivalenzen von Schutzräumen innerhalb westlicher rechtsstaatlicher Demokratien hinweisen und das ausgerechnet mit dem Hinweis auf häusliche Gewalt gegen Frauen zu illustrieren versuchen. Denn für sie besteht ein Widerspruch zwischen Feminismus und Antirassismus bereits dort, wo „eine Anzeige wegen partnerschaftlicher Gewalt mit der Androhung einer potentiellen Abschiebung des Täters verbunden ist“ (263). Dem schließt sich die Behauptung an, dass sich diese Widersprüche „nicht auflösen“ lassen, sondern nur benenn- und angreifbar seien. Aber wäre nicht eher dafür zu kämpfen, dass auch diejenigen, die potentiell von rassistischer Gewalt betroffen sind, trotzdem nicht mehr Gewalt gegen ihre Frauen ausüben? Eine für Feministinnen wahrscheinlich recht leicht zu beantwortende Frage. Diese Art der aus dem Abstrakten schöpfenden Theoretisierung erweckt den Eindruck, Frauenrechte seien nur relevant, wenn sie nicht mit anderen Rechten oder Ansprüchen kollidieren.

Die Analyse des Rassismus ist ein wertvoller Beitrag zur Kritik von Herrschaftsverhältnissen. Eric Williams bahnbrechende Studie aus den 1940er Jahren „Capitalism and Slavery“ hat den Blick auf den Zusammenhang von rassistischer Gewalt und Kapitalverhältnis erweitert. Cedric J. Robinsons „Black Marxism“, hat die Rolle des Kampfes gegen die rassistischen Tendenzen des Kapitalismus im Rahmen einer Aneignung durch die politische Bewegung eines „Schwarzen Radikalismus“ wirkungsvoll thematisiert. Beides sind Konzepte der Politisierung der Kritik an Rassismus im Kapitalismus. Beide gibt es seit Jahrzehnten, sie müssten nicht begrifflich neu ausgepackt werden. Aber für die Kritik an der Gewalt gegen Frauen braucht man sie am aktuellen Stand der Diskurskräfte eventuell gar nicht. Denn so weit, dass Frauen den Luxus haben durchzuatmen und mal den Nöten von Männern Platz zu machen, sind wir noch nicht.

Darüber hinaus muss man konstatieren, dass nicht alle dekolonialen Perspektiven sich gleichermaßen intensiv mit dem Wohl von Frauen auseinandersetzen. Damit soll nicht gesagt werden, es gäbe keinen antirassistischen Feminismus. Unserer Überzeugung nach ist Feminismus immer auch antirassistisch, oder er ist eben keiner. Aber der Widerstand gegen postkoloniale (westliche) Gewaltstrukturen geht leider oft genug eher mit der Rechtfertigung nicht-westlicher patriarchaler Strukturen einher, als mit deren Kritik. Und so verwundert es dann doch ein wenig, wenn in einem Buch, in dem es doch in allererster Linie um Frauen gehen sollte, diese eigentlich beinahe nur eine Nebenrolle einnehmen.

Frauenmorde und davongekommene Täter

Begrifflich problematisch wird es aber, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass es um „feminisierte und/oder rassifizierte Menschen“ gehen soll. Was im akademischen Jargon zweierlei bedeuten kann: Menschen, die von äußeren Zuschreibungen zu Opfern gemacht werden, oder Menschen, die sich selbst aufgrund bestimmter äußerer Zuschreibungen als Opfer definieren. Der Verdacht, dass es zumindest teilweise auch um zweiteres gehen soll, bestätigt sich auf der nächsten Seite. Hier wird der Begriff „Protokolle der Angst“ erklärt, der im vierten Satz des ersten Kapitels eingeführt wird. Wir erinnern uns auch an den ersten Satz des ersten Kapitels, in dem ablehnend von akademischem Privileg die Rede war und machen uns bewusst, wie umfangreich und diffus dagegen der in den ersten paar Sätzen etablierte akademische Apparat bereits ist. Jedenfalls soll der Begriff der Protokolle der Angst zum Ausdruck bringen, dass „tägliche Erfahrung“ „das Erlernen sozialer Mechanismen“ mit sich bringt und diese dazu führen, dass sich feminisiert wahrnehmende Menschen, also FLINTAs, im Alltag oft Angst empfinden.

Moralisierung von Verhalten und Körpern“

Und wir teilen die Kritik an der „Moralisierung von Verhalten und Körpern“ (22), die hier vorgestellt wird, die in allen Teilen der Welt in großer Hauptsache Frauen betrifft, aber wir müssen dennoch auf die unfreiwillige Komik verweisen, die entsteht, wenn die Autorinnen versuchen aus ihrer Perspektive zu beschreiben, wie (ihnen) „bei jeder unglücklichen Verkettung von Ereignissen […] das Unaussprechliche geschehen [kann]“. Wer durch das Vorwort aufmerksam durchgekommen ist, rechnet hier mit dem Schlimmsten, sicherlich ist das Unaussprechliche, darauf bezogen, dass weltweite massenhaft Frauenmorde geschehen und die Täter viel zu oft damit durchkommen. Dass Frauen entführt und zur Prostitution gezwungen, zwangsverheiratet, genital verstümmelt, zur Zwangsarbeit benutzt, als gratis Haus- und Pflegehilfe milliardenfach ausgebeutet werden, als Kriegstaktik massenvergewaltigt und weibliche Föten wegen Erbregelungen zu hunderttausenden zugunsten eines Sohnes abgetrieben werden. Aber darum geht es an dieser Stelle nicht, unaussprechlich ist vielmehr ein viel niedrigschwelligeres Erleben, das, in der Art wie es hier vorgetragen ist, in Teilen, jedem passieren kann, nicht nur Frauen.

Das Gefühl vermittelt zu bekommen, nichts wert zu sein

„Unsere Körper werden ungewollt berührt; Autoritätspersonen überschreiten ihre Kompetenzen und Grenzen; Äußerungen zwingen uns zur Rechtfertigung; Freund*innen und Bekannte unterstellen etwas, womit wir nicht gerechnet hätten; ein ungutes Gefühl beim Nachhausekommen; das Gefühl vermittelt zu bekommen, nichts wert zu sein; nach der Arbeit; am Ende einer Party oder auf der Straße spricht uns eine Person an; die Blicke bringen uns in unangenehme Situationen – Erfahrungen die unser Leben gefährden können.“ (22)

Es stimmt, was die Autorinnen danach schreiben, die Angst kann zur Gewohnheit werden und ist für Frauen im Alltag immer vorhanden, und sie immer wieder auf unterschiedliche Arten zu thematisieren, ist Teil des publizistischen feministischen Kampfes. Aber wenn es schon ein Übergriff ist, wenn man sich durch Äußerungen anderer zur Rechtfertigung angehalten sieht, dann geht es nicht um Feminismus, sondern um Befindlichkeit.

Aufarbeitung der historischen Gewalt

Trotzdem interessant zu lesen, ist das Buch immer dort, wo es um die Aufarbeitung der historischen Gewalt geht, wo konkret an der Problematik gearbeitet wird. Das Kapitel „Die Politisierung von Femi(ni)ziden von Mexiko bis Argentinien“ beginnt mit der akademischen Klammer, dass die zehntausenden verschwundenen, in die Sklaverei verkauften und wahrscheinlich letztendlich ermordeten Frauen in Mexiko als „als Frauen gelesene Personen“ (35) angesehen werden müssen, was angesichts der sehr wahrscheinlichen prozentuellen absoluten Mehrheit von schlicht Frauen, die dieses Schicksal erleiden müssen, einen unangenehmen Beigeschmack der akademischen Relativierung mit sich bringt. Es ist aber ansonsten informativ und on point.

Das darauffolgende Kapitel über die analytische Perspektive auf das Thema zeigt aber wieder, wie schwer sich die Autorinnen von den rein akademischen Gefolgschaftsdebatten lösen können, die wohl ihre Lebenswelt in erster Linie bestimmen. Denn kaum ist die genealogische Kritik, die Identifizierung von Gewaltverhältnissen und die Infragestellung rechtfertigender misogyner Narrative ein wenig in Schwung gekommen, muss gleich wieder das queere akademische Racket mit theoretischen Relativierungen ruhiggestellt werden. So ist den Autorinnen die Kritik am Patriarchat, die auf den vorigen Seiten beinahe begonnen hätte, so unheimlich, dass sie klarstellen müssen auch eine Kritik an „feministischen Theorien, die ‚Frausein‘ als universell und homogen darstellen“ (54) vornehmen zu wollen. Wobei sie mit der Behauptung arbeiten, solche Theorien würden „unterschiedliche verkörperte Erfahrungen als unterlegen oder unbedeutend präsentieren und unsichtbar machen“ (54). Welche Theorien das genau sind, wird nicht an Primär-Quellen belegt, das wäre auch schwer, sondern nur an der Literatur, die diese imaginierten rein binären feministischen Theorien kritisieren.

„Abgrenzung“ von „der ersten Generation der Kritischen Theorie“

Dem entspricht die, in den Rängen des Postfeminismus Beifall heischende, ansonsten eher dunkel bleibende „Abgrenzung“ von „der ersten Generation der Kritischen Theorie“ (55), die damit, wie schon zu Weiland Heideggers Zeiten, als uncool verfemt wird, ohne, dass dies inhaltlich in irgendeiner Form belegt wird. Denn der Bezug auf die Originalquellen bleibt auf ein zustimmend verwendetes Zitat von Max Horkheimer beschränkt. Der Aufweis des, feministisch betrachtet, unkritischen Charakters der sogenannten Kritischen Theorie wird durch ein indirektes Zitat aus einem Aufsatz von Barbara Umrath von 2018 erledigt, dem zu entnehmen ist, dass „in den älteren Texten […] eine systematische Beschäftigung mit patriarchalen Strukturen und Geschlechterverhältnissen aus[bleibt], oder […] zumeist affirmativ oder abwertend auf ‚Weiblichkeit‘ oder ‚Familie‘ Bezug genommen“ (59) wird. Was mindestens beim Studium der Schlüsselwerke Kritischer Theorie, wie der „Dialektik der Aufklärung“, als überzogen bezeichnet werden kann. Denn gerade dort wird die Gesellschaftskritik auch als Kritik der Geschlechterverhältnisse vorgetragen, in Opposition zum Nationalsozialismus und lange bevor es akademische Mode wurde.

Kritische Theorie und Feminismus

Diesem Vorurteil hätte man durchaus am Stand der Forschung begegnen können und sich mit Karin Stögners und Alexandra Colligs, ein Jahr vor dem Femi(ni)zide-Band erschienenen, Buch „Kritische Theorie und Feminismus“ (Suhrkamp) auseinandersetzen, um zu dem Ergebnis zu kommen: „Wenngleich also Kritische Theorie nicht explizit feministisch genannt werden kann, ist sie doch Impulsgeberin für feministische  Theorien, seien es materialistische, dekonstruktivistischer, normative oder queere und intersektionale Richtungen.“ (Stögner/Colligs 2022: 13)

Das ficht die Autorinnen jedoch nicht an, sie sind auf S. 60 beinahe völlig weggekommen von der Kritik patriarchaler Gewalt, wenden sich der Kritik eines „weißen, bürgerlichen, heteronormativen und cis-orientierten Feminismus“ (60f.) zu und fordern „Feminist*innen“ zur „stets neuen Reflexion“ (61) auf. Was sollten Feminist*innen angesichts patriarchaler Gewaltstrukturen auch Besseres zu tun haben?

Warum diese scheinbar rein akademischen Plänkeleien nicht nur Theoriedünkel und persönliche Präferenzsysteme zum Ausdruck bringen, wird dann auf den nächsten Seiten sichtbar, wenn es um feministische Kampfmöglichkeiten geht. Feministischer Streik liegt in der Luft und „bewegt sich im Spannungsfeld von konkreter verkörperter Erfahrung und struktureller Kritik“ (64). Das Ziel soll aber offenbar nicht in erster Linie das kämpferische Niederringen männlicher Vorherrschaft über die Einteilung von Hausarbeit für Frauen sein, sondern „Begriffe und Konzepte, die innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung als Normen gelten und so diese Gewalt ermöglichen und herstellen“ (65) zu hinterfragen. So weit, so abstrakt.

Normen die Gewalt gegen Frauen ermöglichen

Aber der Clou kommt noch, denn wenn man fragt, was diese Normen sind, die diese Gewalt gegen Frauen ermöglichen, dann erhält man eine Antwort, die ein wenig unbefriedigend ist, wenn man sich auf die zuvor angekündigte „dialektische Einheit von Theorie und Praxis, die sich gegenseitig bedingt, aber nur ‚als Konflikt‘ bestehen kann“ (59) verlassen hat. Denn die Gewaltverhältnisse basieren auf der bürgerlich heteronormativen Familie, dem rassistischen Nationalstaat und der binären Geschlechterordnung (65). Also allem, was bereits den Hippies verhasst war und mithin die klassische Leier von der Autorität. Dass aber die Familie, auch aus sozialarbeiterischer Perspektive, eine wichtige Quelle von Stabilität für die Individuen sein kann, der demokratische Rechtsstaat besonders gegenüber Individualrechten im Allgemeinen und Frauenrechten im Speziellen historisch und aktuell einfach essentiell ist und dass die binäre Geschlechterordnung selbst noch nicht zu Gewalt führen muss, wird hier fern von jeder Dialektik einfach mal unter den Tisch fallen gelassen. Das geht so weit, dass gewaltvoller gesellschaftlicher „Ausnahmezustand“ als „Normalzustand“ imaginiert wird.

Auf der Seite der Gewalt der Kollektive

Das verwundert aber nicht, wird doch bereits im Untertitel des Buches ein Kategorienfehler angekündigt, der sich durch das gesamte Buch zieht: „Kollektiv patriarchale Gewalt bekämpfen“ bedeutet ja, als Kollektiv kämpfen. Aber gesellschaftliche Gewalt, zumal die der Verhältnisse gegen die Individuen, entsteht ja erst durch kollektive Zwänge. Nur im Kollektiv kann ein binäres Geschlechterverhältnis überhaupt existieren und nur durch die Macht kollektiver Verbrüderung, unter Einbezug einiger Frauen, kann die Unterdrückung der Frauen aufrechterhalten werden. Aufgrund dieses Kategorienfehlers sind die Autorinnen immer ein wenig auf der Seite der Gewalt der Kollektive, denen sie die Frauen ja eigentlich entziehen müssten, um deren individuelle Unversehrtheit garantieren zu können. Daher thematisieren sie die Religion, einen der zentralen Faktoren der Unterdrückung und Verfolgung von Frauen und Homosexuellen weltweit, eben nicht an der Stelle ihrer analytischen Perspektive auf die gesellschaftlichen Gewaltstrukturen, sondern an zwei anderen Stellen, wo es weniger um die Rolle der religiösen Zwangskollektive, als um staatlichen und mehrheitsgesellschaftlichen Rassismus geht. (117ff. und 226ff.)

Niemand braucht noch mehr Gewalt gegen Frauen

Darin liegt wiederum eine eigene Wahrheit. Denn natürlich ist die Vorstellung, dass Gewalt gegen Frauen durch den Zuzug von Menschen aus als rückschrittlich geframten Ländern erst importiert wird, sowohl rassistisch als auch blind den Tatsachen männlicher Gewalt gegenüber. Denn natürlich hat auch Österreich eine Jahrtausende andauernde Kultur des Frauenmords, die ungebrochen weiterbesteht und bräuchte diesbezüglich gar keine Importe. Aber das ist dann auch der Punkt: Niemand braucht noch mehr Gewalt gegen Frauen. Und deshalb sollte diese auch nicht indirekt dadurch gerechtfertigt werden, dass man sie aus politischer Korrektheit heraus nicht bespricht.

Abgesehen davon bleibt auch die organisierte kirchliche Gewalt gegen Kinder außen vor. Als wären nicht gerade religiöse Zwangskollektive mittels der Instrumentalisierung des binären Geschlechterverhältnisses zu den mächtigsten Akteuren der Moralisierung des Körpers aufgestiegen. Aber wahrscheinlich würde das zu weit führen …

Verwendung des Begriffs Feminizid

Diese Linie zieht sich im weiteren Verlauf des Buches durch. Es wird Begriffskritik vor die Kritik der Verhältnisse gesetzt. (71) Wir schließen uns der Aussage an, dass das „Spektrum patriarchaler Gewalt […] breit“ (74) ist und eine „zentrale Dimension patriarchaler Gewalt [darin besteht], dass sie nicht beim Namen genannt wird“ (76). Aber uns würde nicht einfallen, daraus die Frage zu basteln, ob durch die Verwendung des Begriffs Feminizid „‚das Feminine‘ essentialisiert und essentialistisch reproduziert wird“ (77). Auch deshalb, weil sich diese Frage nur stellt, wenn sie gegen das Interesse des expliziten Schutzes von Frauen gestellt wird. Denn worauf die Frage am Ende des Abschnitts abzielt, ist natürlich nicht, die Herabwürdigung von Weiblichkeit im Diskurs über Gewalt gegen Frauen anzuklagen, sondern darauf nicht nur patriarchale und misogyne Muster der gesellschaftlichen Gewalt gegen Frauen zu thematisieren (die religiösen Muster bleiben auch hier draußen), sondern um „transfeindliche Muster“ (78) an deren Seite zu stellen. Dieses Muster wird in Form einer mäandernden Sprachübung durch die folgenden Kapitel fortgesetzt. Der Text scheint nicht vom Fleck zu kommen, immer wenn es konkret zu werden scheint, folgt ein neuer Exkurs zur Begriffskritik, bleibt die Präsentation der Materie selbstreferentiell und auf den akademischen Spezialdiskurs bezogen oder hält sich bei Allgemeinplätzen auf, wie dem, dass es bei der Aufrechterhaltung der Gewaltverhältnisse um Macht und Kontrolle geht. (107)

Mit dem Kapitel Protestformen erreicht das Buch, trotz der Umwege, eine sehr lesenswerte Form, in der es endlich um das sprichwörtliche Eingemachte geht. Eine schnörkellose Geschichte politischer Proteste, ihrer Wege und Wirkungen, die in dem Kapitel „Überlegungen zu Zählungen, Begriffen und Benennungen“ mündet, das gefüllt ist mit nützlichen Definitionen und Erläuterungen zum Thema. Also das, was man sich von dem Buch erwartet: Mittel zur Aufklärung und Politisierung der schlechten Verhältnisse, anstatt akademischem Sonderdiskurs mit relativistischen Tendenzen.

Fazit zum Buch

Das Buch ist lesenswert und wird hier ausdrücklich empfohlen. Es gibt nützliche Perspektiven im Umgang mit dem Begriff des Femi(ni)zids und eine Darstellung politischer Aktionsformen, die vermehrt zur Nachahmung anregen sollten.

Aber es bleibt dennoch die bittere Erkenntnis, dass wir im feministischen Kampf, trotz aller erkämpfter gesellschaftlicher Akzeptanz, zusehends allein dastehen. Denn, obwohl es die Intention des Buches ist aufzuklären, wird darin mittels akademisch anschlussfähiger postfeministischer Rhetorik mindestens ebenso viel verdunkelt.

Der Skandal an dieser Rhetorik ist, dass sich Frauen, wenn es um den Mord an ihnen geht, als Betroffene gerade noch mitgemeint fühlen dürfen. Es geht nicht um sie, es geht um alles andere und dann irgendwann auch noch vielleicht um sie. Wenn, so wie die postfeministische Theorie das gerne hätte, davon ausgegangen wird, dass Sprache Realität erzeugt, dann ist das ein unverzeihlicher Lapsus für ein Buch, das sich gegen den Mord an Frauen einsetzen will. Wenn Sprache politisch ist, dann ist die Marginalisierung von Frauen, in einem Text in dem es um die Kritik an der ständigen gesellschaftlich sanktionierten Ermordung von Frauen gehen sollte, ein antifeministisches Projekt.

Suhrkamp hat kein Kontingent

Anfang Jänner 2024 sind gleich zwei Bücher über Antisemitismus in deutschen Verlagen erschienen, deren Gegenüberstellung auch in Anbetracht der „rastlose(n) Selbstzerstörung der Aufklärung“, mit der wir uns täglich konfrontiert sehen, notwendig ist. Es handelt sich dabei um Texte, die bereits in den 1960ern bzw. 1970ern entstanden sind, und die wohl auch deshalb gerade prädestiniert sind, ihre Aktualität an der unerträglichen Gegenwart messen zu lassen. Es geht um Theodor W. Adornos Rede „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“, 2024, Suhrkamp Verlag, und Jean Amérys „Der neue Antisemitismus“, 2024, Klett-Cotta.

Hochmotiviert schickte ich mich also an, um je ein Belegexemplar der Bücher anzufragen. Bei Klett-Cotta bekam ich sofort ein Exemplar zugeschickt, vom Suhrkamp Verlag erhielt ich die Information das „Kontigent an Rezensionsexemplaren“ sei „begrenzt“. An irgendwelche dahergelaufenen Blogger könne man also keine Bücher mehr ausgeben. Nicht einmal für das derzeit in der Buchbranche relativ beliebte obligatorische PDF war wohl noch Geld da. Schweren Herzens entschied ich mich also meine letzten zehn Euro dem Suhrkamp Verlag zu spenden, der diese wohl dringlicher braucht als ich.

Im Winter 1962 hielt Adorno in Wiesbaden bei einer Tagung des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit einen Vortrag mit dem Titel „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“, der im Suhrkamp Verlag nun in Buchform vorliegt. Zunächst hinterfragt Adorno die Behauptung der „Meinungsforscher“, dass der Antisemitismus „kein aktuelles Problem“ in Deutschland sei, eine Formel, der man auch heute wieder bis recht kürzlich gerne anhing – ausgenommen davon natürlich rechtsextreme Formen von Antisemitismus. Adorno betont Antisemitismus als „Teil eines ‚Tickets‘“, als „Mittel“ ansonsten „divergierende() Kräfte eines jeden Rechtsradikalismus auf die gemeinsame Formel zu bringen“ (12).

Dass der Antisemitismus nicht nur „divergierende Kräfte“ des „Rechtsradikalismus“ eint, sondern noch ganz andere Kräfte, die sich bis vor kurzem noch spinnefeind waren, sieht man bei Betrachtung der Querfronten, die sich seit dem siebentem Oktober 2023 gebildet haben. Nur zu bekannt klingen da auch Adornos damalige Worte über jene, die sich „derart (…) dem Gerücht zuwende(n)“. Auch auf der einen oder anderen Demonstration gegen Israel finden sich genug Menschen, die sich als Teil einer „heimlichen, wahrhaften und durch die Oberflächenformen der Gesellschaft nur unterdrückten Gemeinschaft“ (16) imaginieren. Niemand interessiere sich für das Leid der Palästinenser, alle Medien seien auf Seite der Israelis, nichts könne man öffentlich sagen, brüllt es da im Chor tausender Stimmen ins Megaphon.

Adorno nennt diese Art der Selbstdarstellung einen der „wesentlichen Tricks von Antisemiten“, die Tendenz „sich als Verfolgte darzustellen; sich zu gebärden, als wäre durch die öffentliche Meinung, die Äußerungen des Antisemitismus heute unmöglich macht, der Antisemit eigentlich der, gegen den der Stachel der Gesellschaft sich richtet, während im allgemeinen die Antisemiten doch die sind, die den Stachel der Gesellschaft am grausamsten und am erfolgreichsten handhaben“ (16-17).

Das beliebte Argument führe zur Schlussfolgerung, „wenn man nichts gegen die Juden sagen (dürfe), dann (…) sei an dem, was man gegen sie sagen könnte, auch schon etwas daran.“ Dies bezeichnet er als „Projektionsmechanismus“, durch den „die Verfolger (…) sich aufspielen, als wären sie die Verfolgten“ (27), ein Phänomen, das man bei Karl Kraus als „verfolgende Unschuld“ kennengelernt hat, und das, in Bezug auf Antisemitismus, der Soziologe David Hirsh später konkreter als Livingstone-Formulierung bezeichnete: eine Verweigerung sich mit einem Antisemitismus-Vorwurf auseinanderzusetzen, und dem Ankläger stattdessen vorzuwerfen, dieser sei an einer Verschwörung zur Unterdrückung der Redefreiheit beteiligt.

Nach Adorno führt der „Krypto-Antisemitismus (…) von selbst auf den Autoritätsglauben“ (17). Adorno kommt auch auf Möglichkeiten zu sprechen eine solche Form von Antisemitismus langfristig zu bekämpfen: einerseits, bei Kindern die noch formbar seien, durch den Versuch einer Ausbildung des autoritären Charakters entgegenzuwirken, bei jenen, wo diese Charakterstruktur sich aber bereits verfestigt habe, dürfe man nicht davor zurückscheuen, ebendiese von ihnen geliebte Autorität gegen sie zu wenden, „um ihnen zu zeigen, daß das einzige, was ihnen imponiert, nämlich wirklich gesellschaftliche Autorität, einstweilen denn doch noch gegen sie steht“ (18).

Der „antisemitische Charakter“ sei „wirklich der Untertan“, „die Radfahrernatur“, er gebe sich rebellisch, sei aber „ständig bereit, vor den Trägern der wirklichen Macht, der ökonomischen oder welcher auch immer, sich zu ducken und es mit ihr zu halten“ (34-35). Gleichzeitig sei Antisemitismus heute, anders als zur Zeit Hitlers, nicht so stark durch die väterliche Brutalität geprägt, sondern durch „Impfung“ im Elternhaus und familiäre Kälte (36-37), welcher man pädagogisch entgegenzuwirken habe, ebenso wie Gruppen- und Cliquenbildung, welche dem Phänomen des Antisemitismus ähnle. Es seien stattdessen individuelle Freundschaften zu fördern (40-41). Ebenso wichtig sei es, die „Identifikation von Juden und Geist“ zu brechen, das Vorurteil also, das Bildung mit dem Judentum identifiziert und Antiintellektualismus fördert, mit dem zur Zeit des Nationalsozialismus der Dualismus zwischen Geist und Geschicklichkeit (Körper) festgeschrieben wurde (44-45).

Adorno bezeichnet Antisemitismus als „Massenmedium“, das sich an bereits vorhandene unbewusste Neigungen anhaftet und diese potenziert, anstatt sie bewusst und damit „lösbar“ zu machen (22). Antisemitismus sei strukturell verwandt mit dem Aberglauben und der Propaganda und immer antiaufklärerisch. Adorno sieht in der massenmedialen Verbreitung, einer „rationale(n) Fixierung irrationaler Tendenzen“, eine der „gefährlichsten ideologischen Kräfte in der gegenwärtigen Gesellschaft“ (22). Man müsse sich daher gegen „alles Reklameähnliche wehren“ (23), auch im Kampf gegen den Antisemitismus, mit „empathische(r) Aufklärung, mit der ganzen Wahrheit, unter striktem Verzicht auf alles Reklameähnliche“ (24). Und an Reklame fehlt es in der medialen Berichterstattung um den Nahost-Konflikt und der demonstrativen Zurschaustellung auf diversen Kundgebungen nicht, in der schlagworthaften Verwendung von Begriffen wie „Genozid“, „Apartheid“, „Siedler-Kolonialismus“, „Kindermörder Israel“ etc., sowie der mantraartigen Wiederholung von „From the River to the Sea …“ und anderen Schablonen.

Adorno schlägt vor, sich erst gar nicht mit der Wiederlegung von „irgendwelche(n) Fakten und Daten, die nicht absolut sicher sein sollen“ zu befassen (25). Er bezieht sich hier explizit auf Trickgriffe der Holocaustleugnung, die Anzweiflung von 6 Millionen getöteten Juden. Heute zeigt sich ein ähnliches Muster auch wieder im Zweifel an den Zahlen der getöteten Israelis vom 7.10.23, den Vergewaltigungen israelischer Zivilistinnen; in vielen Fällen sogar im Zweifel daran, dass überhaupt etwas geschah. Adorno legt nahe, sich erst gar nicht auf „eine unendliche Diskussion innerhalb von Strukturen“ einzulassen, „die von den Antisemitinnen gewissermaßen vorgegeben sind“, da man hierbei wiederum „deren Spielregeln sich unterwerfen würde“. Die komplexe Wahrheit sei immer vorzuziehen, man solle sich nicht auf diverse Spielereien mit Zahlen und auf ein Aufrechnen einlassen (25).

Hier geht Adorno auch kurz auf die „Dresdner Verteidigung“ ein, jenes Tu-quoque-Argument, das bereits in den Nürnberger Prozessen durch die Verteidigung der Nationalsozialisten zur Anwendung kam, in der eine Gleichstellung der gezielten und grausamen Ermordung von Jüdinnen und Juden und des Vernichtungsantisemitismus der Nazis, mit der Tötung von Zivilistinnen bei der Bombardierung von Dresden versucht wurde. Das Deutsche Nachrichtenbüro hatte zudem direkt nach dem Luftangriff die Zahlen toter Zivilist*innen bereits stark übertrieben und als Massenmord dargestellt – die Rede war hier von 100.000-200.000 Opfern, heute geht man von ca. 25.000 Toten aus. Adorno besteht darauf, dass keiner bestreite, dass auch diese Bombardierung furchtbar gewesen sei, jedoch sei „das ganze Schema des Denkens“ zu bezweifeln, welches von einer „Vergleichbarkeit von Kriegshandlungen mit der planmäßigen Ausrottung ganzer Gruppen der Bevölkerung“ ausgehe (26). Auch im Falle des Pogroms von Oktober wird heute wieder eine ähnliche Tu-quoque-Argumentation herangezogen, wenn die Absicht eines Genozids – denn ja, für die Definition eines Genozids ist die Absicht von Bedeutung – durch Hamas ignoriert wird und die Reaktion darauf, die Kriegshandlungen Israels im Gazastreifen, stattdessen zum Genozid umgedeutet werden, wenn Zahlen dramatisiert werden und von Seiten Hamas tote Soldaten als tote Zivilisten ausgegeben werden etc. Die erst kürzliche teilweise Rücknahme der Zahlen bei den getöteten Frauen und Kindern im Gazakrieg vonseiten der UN spricht hier eine deutliche Sprache, wie verlässlich die Berichterstattung ist. Um die Hälfte weniger seien bisher tatsächlich identifiziert, was Zweifel an verbreiteten Behauptung, 72% der Todesopfer seien Frauen und Kinder, aufkommen lässt. Auf Seiten Nazi-Deutschlands gab es übrigens weitaus mehr zivile Opfer als auf Seite der Briten und Amerikaner. Wobei wir wieder bei jenen Zahlenspielereien wären, von denen Adorno uns doch gerade noch versucht hat abzubringen.

Für Adorno ist es wichtig die Juden als „wesentlich(e) Träger der Aufklärung“ (28) zu identifizieren. Das „antisemitische Potential“, sei ebenso nur mit einem Bekenntnis zur Aufklärung zu bekämpfen. Dem Vorwurf „Juden entzögen sich der harten körperlichen Arbeit“, solle man nicht mit Beispielen von Juden aus der Arbeiterklasse begegnen, sondern mit dem Hinweis darauf, dass „harte physische Arbeit heute eigentlich bereits überflüssig“ sei und „es etwas tief Verlogenes hat, einer bestimmten Gruppe Vorwürfe zu machen, daß sie nicht hart genug physisch arbeitet“, denn es sei „Menschenrecht, sich nicht physisch abzuquälen, sondern lieber sich geistig zu entfalten“. Die Argumentation der Verteidiger Israels, dass Juden in Israel „mit saurem Schweiß das Land fruchtbar machen“, entfiele dadurch einfach (29), denn diese sei „im Grunde nur der Reflex auf die furchtbare soziale Rückbildung, die den Juden durch den Antisemitismus aufgezwungen wurde“. Ebenso sei dem „Vorwurf des Vermittlertums der Juden“, welcher immer mit jenem der Verschlagenheit und der Unehrlichkeit einhergehe, zu begegnen. Denn eine „bürgerliche Tauschgesellschaft“ bedürfe eben einer solchen Vermittlerrolle (30): „Ohne die Sphäre des Vermittlertums, die von Handel, Geldkapital und Mobilität, wäre die Freiheit des Geistes, der sich von der bloßen Unmittelbarkeit gegebener Verhältnisse löst, unvorstellbar gewesen.“ (31)

Dass Adorno mit seiner Sorge um die Pädagogik und deren Einfluss auf die Ausbildung des antisemitischen Potentials Recht hatte, zeigt sich heute anhand der akademisch institutionalisierten Formen des Antisemitismus und des Antizionismus in der vermeintlich progressiven postmodernen Philosophie, die sich in den Sozialwissenschaften festgesetzt haben.

Detlev Claussen schreibt im Vorwort von Léon Poliakovs „Vom Antizionismus zum Antisemitismus“, dass die „antizionistische Selbststilisierung (…) ein Bedürfnis nach Weltanschauung“ dokumentiere „die von der Wirklichkeit in Geschichte und Gegenwart unabhängig macht“, die Flucht in ein manichäisches Weltbild, aus dem Wunsch heraus sich der „Auseinandersetzung mit einer widersprüchlichen Realität“ zu entziehen (Léon Poliakov: Vom Antizionismus zum Antisemitismus, S. 12). Lässig hüllt man sich an den Unis nun in die Kufiya, wobei man sich bei der Verwendung der roten oder schwarzen Variante dann nicht mehr ganz so sicher ist, und schminkt sich die Augenlider schwarz-rot-grün, während man aus Solidarität mit den „Freiheitskämpfern“ mit der AK-47 „We don’t want no two states, we want 48“, „Iran you make us proud“, „Burn Tel Aviv zu the ground“, „Long live the Intifada“, „Ya Hamas, we love you“ und „Jews, go back to Poland“ brüllt. Vergessen sind die Proteste im Iran 2022 unter dem Motto „Frau Leben Freiheit“, deren Protagonist*innen man im Nachhinein nur noch, im Einklang mit der Islamischen Republik Iran, als „kryptojüdische“ Agenten und Agenden zu identifizieren vermag.

Hat Adorno sich in seiner Rede explizit mit dem Antisemitismus der Rechten befasst, erkannte Jean Amérys Blick auf das Problem des Antisemitismus schon früh, dass nicht nur der Rechtsextremismus ein solches hatte, sondern dass die Linke – und er sah sich selbst als Teil davon – im Angesicht des Nahost-Konflikts zunehmend an der Aufgabe scheiterte zu den eigenen progressiven Werten zu stehen. Améry gab sich auch zeitlebens des Öfteren der Kritik der Dialektik der Dialektiker hin, wenn diese beispielsweise die Quäler mit den Gequälten beliebig gleichsetzte – denn schließlich war doch ein jeder irgendwann Opfer von irgendwem.

„Den dialektischen Denkern sitzt allerwegen die Furcht vor der Banalität im Nacken – etwa der Banalität, Opfer Opfer und Quäler Quäler sein zu lassen, wie sie es beide waren, als geschlachtet wurde.“ (Jean Amery: Jargon der Dialektik [1967], In: Werke, Bd. 6 Aufsätze zur Philosophie. S. 290)

Dass Améry dieser Angst vor der Einfachheit nicht zum Opfer fiel, seine Erkenntnisse aber dennoch nie banal blieben, zeigt sich in der Textsammlung „Der neue Antisemitismus“. Im einleitenden Essay „Mein Judentum“, 1978 plädiert Améry für den Begriff „Judesein“, da ihm die Identität des Juden von außen aufgezwungen wurde. Er wuchs als Hans Mayer im katholischen Oberösterreich auf, mit Weihnachtsmesse und „Jessasmariaundjosef“, als Sohn eines nichtgläubigen Juden, der im Ersten Weltkrieg starb und einer Christin, mit teils jüdischen Vorfahren. Erst nach dem Umzug nach Wien wird ihm in der Auseinandersetzung mit dem „intellektuellen“ Antisemitismus und der „Lektüre (…) nationalsozialistischer Schriften“ langsam „das Eigenbild vom Gegner“ aufgeprägt (25). Als er 1935 in einem Kaffeehaus das „Nürnberger Reichsbürgergesetz“ liest, wird ihm erstmals wirklich sein „Judesein“ klar (29). 1938 flüchtet er mit seiner ersten Frau Richtung Belgien, wo er andere Juden trifft, die ihm aber, trotz „Schicksalsgemeinschaft“, fremd sind. Er hat „zwar“ prinzipiell „(s)ein Judesein angenommen“, praktisch „versagt()“ er aber (31).

Dass er nicht nur in Deutschland zum „Juden gemacht“ wird, sondern „(d)ie Welt“ ihn „als einen solchen“ haben will, erkennt er auf der Flucht, was dazu führt, dass er sich zunehmend ein „Gefühl der Solidarität mit jedem Juden“ abringt (32). In Frankreich bricht er aus dem Internierungslager aus und unternimmt den „letzten Versuch“ sich „dem Judesein (…) zu entziehen“, indem er sich dem Widerstand anschließt und zunächst als Widerstandskämpfer festgenommen wird (33). Als den Nazis aber seine jüdische Herkunft klar wird, bekommt er ohne Prozess das Todesurteil: Auschwitz (34). Sein „Judesein“ wird hierin bestätigt, mit dem „Judentum“ hat er nichts zu tun (35).

Und dieser Blick, der sich aus seiner Erfahrung speist, ist es auch, der Amérys klare Positionierung zu Israel bestimmte:

„Das einzige, was mich positiv mit der Mehrzahl der Juden der Welt verbindet, ist eine Solidarität, die ich mir längst nicht mehr als Pflicht gebieten muss, und namentlich die mit dem Staat Israel. (…) Für mich ist Israel keine Verheißung, kein biblisch legitimierter Territorialanspruch, kein Heiliges Land, nur Sammelplatz von Überlebenden, ein Staatsgebilde, wo jeder einzelne Einwohner noch immer und auf lange Zeit hin um seine physische Existenz bangen muss. Mit Israel solidarisch sein heißt für mich, den toten Kameraden die Treue bewahren.“ (36-37)

„Der ehrbare Antisemitismus“ von 1969 befasst sich mit dem, was wir auch heute noch in der Auseinandersetzung mit dem sogenannten Antizionismus der Linken sehen, einer Aktualisierung des klassischen Antisemitismus, seiner Anpassung an gegenwärtige Entwicklungen: Man redet vom „israelische(n) Unterdrücker, der mit dem ehernen Tritt römischer Legionen friedliches palästinensisches Land zerstampft“. Der „Sozialismus der dummen Kerle“ stand also bereits 1969 „im Begriff, ein integrierender Bestandteil des Sozialismus schlechthin zu werden, und so macht jeder Sozialist sich selber freien Willens zum dummen Kerl“ (40). Wo heute der Diskurs aber fest in der Hand von Godwins Gesetz liegt und der Vergleich nicht vor einer Gleichsetzung der Israelis mit den Nationalsozialisten, oder zumindest mit dem Apartheidsregime Südafrikas, haltmacht, war 1969 von Vergleichen mit Vietnam und Algerien dominiert, bzw. vom Klassiker, der guten alten David-gegen-Goliath-Analogie (41). Was heute der „Terrorstaat Israel“ ist, war 1969 der „Verbrecherstaat Israel“, das heutige „kolonialistische Gebilde“ ist der „Brückenkopf des Imperialismus“ der 60er-Jahre (42). Auch das bekannte Argument, man betreibe „Meinungserpressung“ „mit sechs Millionen“ erwähnt Améry (45).

Améry lenkt ein, dass Israel zwar „objektiv die unerfreuliche Rolle der Besatzungsmacht“ trage, doch das „Bestehen dieses Staatswesens“ ihm „wichtiger“ sei „als das irgendeines anderen“ (43), sein „Bestand“ sei „unerlässlich für alle Juden“ (44).

Er geht hier auf die linke Doktrin der Solidarisierung mit den Schwächeren ein, anders als viele Linke sieht er aber die Araber als die Stärkeren, „an Zahl“, „an Öl“, „an Dollars“ und sogar „an Zukunftspotential“ (46). Die Linke versäume es, zu sehen „dass trotz Rothschild und einem wohlhabenden amerikanisch-jüdischen Mittelstand der Jude immer noch schlechter dran ist als Frantz Fanons Kolonialisierter, sieht das so wenig wie das Phänomen des anti-imperialistischen jüdischen Freiheitskampfes, der gegen England ausgefochten wurde.“ Auch sei es nicht „die Schuld der Israelis, wenn die Sowjetunion vergaß, was 1948 vor der UNO Gromyko (…) vorgetragen hat“, namentlich die offizielle Anerkennung des Staates Israel und die Befremdung über „die Einstellung der arabischen Staaten (…) militärische Maßnahmen zu ergreifen mit dem Ziele, die nationale Befreiungsbewegung der Juden zu vernichten“ (46-47).

Améry zitiert hier auch den damaligen Unterrichtsminister von Syrien: „Der Hass, den wir unseren Kindern einprägen, ist ein heiliger Hass“ (49). Dass sich dieser heilige Hass inzwischen institutionalisiert hat, liegt auch daran, dass dieser mit Hilfe von u. a. von der UNRWA publizierten und durch die EU finanzierten Schulbüchern verbreitet wird, und damit bereits Kinder mit Antisemitismus „geimpft“ werden – hier nicken wir wieder kurz Richtung Adorno – was wohl ein gewichtiger Grund für die heutige Misere ist.

Améry weist das Argument zurück, das auf einer Trennung von Antisemitismus und Antizionismus besteht: „Fest steht: der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar.“ (42)

Améry lässt dazu den Philosophen Robert Misrahi zu Wort kommen: „Der Antizionismus ist ein von Grund auf reaktionäres Phänomen, das von den revolutionären progressistischen antikolonialistischen Phrasen über Israel verschleiert wird“ (49). Améry beschließt seinen Essay mit der Anklage „Die Allianz des antisemitischen Spießer-Stammtisches mit den Barrikaden ist wider die Natur, Sünde wider den Geist (…)“, einen „ehrbaren Antisemitismus“ gebe es nicht (50).

„Die Linke und der ‚Zionismus‘“ stammt von 1969 und beschäftigt sich mit dem, auch heute wieder stark spürbaren, „(E)nt-definieren“ des Begriffes „Zionismus“. Als „Zionisten“ werden auch hier bereits „fast alle Einwohner des Staates Israel, mit Ausnahme winziger Sekten, die, in diesem Staate und durch ihn lebend, das staatliche Gebilde Israel bekämpfen“, bezeichnet. Doch nicht nur das, auch Juden, welche in der Diaspora leben, und die für die Existenz Israels eintreten, würden unter dem Begriff summiert (51). Inzwischen werden unter dem Ausdruck überhaupt alle geführt, die für diese Existenz eintreten. Besonders nach dem 7. Oktober lebt die Tradition neu auf, die zur Unterteilung in „gute“ und „schlechte“ Juden führt, wobei es sich bei Zionisten um die „schlechten“ handelt.

Im Zusammenhang mit den Studentenbesetzungen an amerikanischen Universitäten wird periodisch die Trumpfkarte herausgezogen, wenn es heißt, diese seien maßgeblich von jüdischen Studierenden mitorganisiert worden. Als der ORF vor einigen Tagen über den „Protest“ eines Mannes gegen den Gazakrieg bei der Konferenz gegen Antisemitismus berichtete, bei dem dieser mehrere Liter Kunstblut verschüttete, wurden Kommentierende nicht müde darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Mann um einen Juden handelte. Zudem wird regelmäßig behauptet „viele Juden“ seien Anti-Zionisten – der nächste Name, der dann zumeist fällt, ist Norman Finkelstein – und selbst der ist nicht begeistert von der Verwendung des Slogans „From the river to the sea“, was man aber in der Protestbewegung geflissentlich ignoriert. Mit der Behauptung die Opfer vom 7. Oktober seien „nur“ Zionisten oder – noch schlimmer – IDF-Soldaten, wobei natürlich geflissentlich vergessen wird, dass die IDF ein Pflichtheer ist – und damit keine unschuldigen Zivilisten, kann man alle Gräueltaten relativieren.

Die Gleichsetzung von „Zionismus“ mit dem Nationalsozialismus stellt schon Améry fest, so nenne man ihn auch „National-Zionismus“. Er vermeint im Kampf gegen diesen „Zionismus“ den „Eifer“ der Jakobiner wiederzuerkennen, wenn Israel „als (…) Waffenträger westlicher, beziehungsweise amerikanischer imperialistischer Unterdrückung“ gezeichnet wird. Sarkastisch bemerkt er: „Unter Zionismus versteht die Linke ungefähr das, was man so vor rund dreißig Jahren in Deutschland als ‚Weltjudentum‘ genannt hat“. Das „Israel-Bild“ der Linken sei „gekennzeichnet durch die hässlichen Züge militaristischer, so nicht faschistischer Gewalttätigkeit“, was dann logischerweise dazu führe, dass man sich den „verschiedenen arabischen Freikorps“ – gemeint ist hier die Fatah – zuwende (52). Spiegelbildlich findet sich dies heute wieder in der Liebe zur rechtsextremen Hamas, deren zugrundeliegender Orientalismus (wenn Saids Theorie schon bedient werden muss) wohl kaum zu leugnen ist. Die „Widerstandskämpfer“ der Fatah wurden durch die noch extremere Hamas ersetzt.

Doch wenn bereits 1969 „die Nazi-Katastrophe tiefe Geschichte“ (53) war, wie will man heute erst die linke Bewegung zur Selbstreflexion bringen? Denn, davon ist Améry überzeugt: „Um das Phänomen Israel zu verstehen, muss man (…) vollumfänglich die jüdische Katastrophe begreifen. In Israel ist, metaphorisch gesprochen, jedermann Sohn, Enkel, eines Vergasten; in Deutschland und im übrigen Europa kann man es sich leisten, überhaupt nicht ‚Sohn‘, nicht ‚Enkel‘ zu sein.“ (54)

Dem Einwand, was die Palästinenser*innen denn dafür könnten, hält Améry entgegen, dass „die arabischen Flüchtlinge bei einigem guten Willen der arabischen Staaten in diesen Aufnahme hätten finden können, während vor den unter Hitler verfolgten und mit Mord bedrohten Juden alle Türen zufielen“ (55). Dem Argument, das so gerne vorgebracht wird, bei Israel handle es sich um ein ganz und gar unnatürliches Staatengebilde, ganz im Gegenteil zu den anderen hunderten ganz und gar natürlichen Staatengebilden, begegnet Améry mit einem lapidaren Hinweis darauf, dass der Staat Israel nun einmal existiere und „nicht mit weniger völkerrechtlicher Legitimation geschaffen“ wurde „als irgendein anderer“ (55).

Als „Besatzer“ könne Israel sich aber natürlich nicht „dem Mechanismus von Gewalt und Gegengewalt“ entziehen. Die Frage, welche Wahl Israel aufgrund seiner historischen Lage habe, wolle man sich aber in der Linken nicht stellen: „Ein für allemal haben sich für die in erschreckender Vereinfachung die Fronten gebildet: hie der israelische Unterdrücker, da der arabische Freiheitskämpfer!“ (56)

Der alte Antisemitismus findet da auch ein „zudem noch als Alibi geltendes Ventil durch den Antizionismus der Junglinken“; es seien die Juden „welche da als Unterdrücker stigmatisiert werden“, die schließlich „immer schon den Popanz des Weltfeindes abgeben mussten“ (59). Améry warnt mit dem „Antizionismus“ reiche man „dem Antisemitismus jenen kleinen Finger (…) dem unweigerlich die ganze Hand nachfolgen“ müsse (61), und zusätzlich laufe man Gefahr die Juden weltweit „ins reaktionäre Lager“ abzudrängen (60). Ebendies ist inzwischen Realität, aber vielleicht nicht auf die Weise, wie Améry es gemeint hat – schließlich sind in der westlichen Welt Jüdinnen und Juden in progressiven und linken Bewegungen bis heute in beträchtlicher Anzahl vertreten und wählen auch oft linke Parteien – sondern insofern als sie als Zionisten automatisch als Reaktionäre kategorisiert werden. Was die Politik in Israel betrifft, so setzt sich der Großteil der israelischen Bevölkerung inzwischen aus Mizrachim – Juden aus dem Nahen Osten – zusammen, die tendenziell eher Parteien rechts der Mitte wählen und hier auch aktiv in der Politik vertreten sind (siehe: Ben-Gvir), während die von der Linken so verteufelten Ashkenazim (Stichwort: „Go back to Poland!“) eher linke Parteien bevorzugen.

In „Juden, Linke – Linke Juden“ von 1973 kritisiert Améry bereits die Verklärung von Terroranschlägen zur „Gegengewalt“, mit der man versuche „jede Art von Grausamkeit zu rechtfertigen“ (65). Auch hier fühlt man sich an die Wortmeldungen nach dem 7. Oktober und – vielfach – seither erinnert. An die Rechtfertigung der Vergewaltigungen und die Brutalität gegen Kinder, die man dann im Slogan „Kindermörder Israel“, der sich obendrauf der uralten Ritualmordlegende bedient, nur dem israelischen Militär vorwirft. Eine weitere Entwicklung, die Améry bereits feststellte, ist die Tendenz das „Wort eines Juden“ nicht zu akzeptieren, wenn dieser sich proisraelisch äußert, und nur noch das Wort jener Juden gelten zu lassen, das dem linken Selbstverständnis nicht entgegensteht. Diese Meinung sieht Améry aber nicht als repräsentativ für einen Großteil der Juden weltweit. Dennoch ist es Améry wichtig zu betonen, dass diese Bindung an den Staat Israel nicht bedeute, man stimme allem widerspruchslos zu, was in der israelischen Politik passiert (66). Heute spiegelt sich die Tendenz das Wort des „schlechten“ Juden nicht zu akzeptieren, auch in der Tendenz wider, jede pro-israelische Aussage mit der Frage zu beantworten, ob derjenige, der sich so äußert, vielleicht selbst Jude oder zumindest Kryptojude sei.

Dies erinnert stark an das, was Léon Poliakovs Essay von 1969 bereits thematisierte. Er befasste sich mit der „Entstehung“ des Begriffs Antizionismus – wie er heute gern gebraucht wird – in Russland, wobei er auf die Russische Revolution eingeht, die Rolle jüdischer Revolutionäre, sowie Antisemitismus und Verfolgung zur Zeit der Sowjetunion, die in Schauprozessen in den 1950ern mündeten, die sich nur vordergründig gegen „Zionisten“, in Wahrheit aber gegen Juden richteten. Anstatt sie in den Akten als Juden zu kennzeichnen, nannte man sie Zionisten. Den Angeklagten wurde zumeist Verschwörung, Verrat und „zionistische“ Spionage vorgeworfen. Die sowjetische Zeitung „Krasnaja Swesda“ schrieb am 20. Februar 1953 „(d)er Kampf gegen den Zionismus (…) habe mit Antisemitismus nicht das Geringste zu tun“ (Poliakov, 68). Auch hier zeigte sich, wer Jude war, musste Zionist sein und wer Zionist war, war höchstwahrscheinlich auch Jude (Poliakov, 66).

In „Der neue Antisemitismus“ von 1976 fragt Améry „Was sagt der neue Antisemit? (…) Er sei nicht der, als den man ihn hinstelle, nicht Antisemit also sei er, sondern Anti-Zionist!“ (75) So ist es 1976 bereits gang und gebe „Schlagt die Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot!“ zu rufen, zweifelsfrei ohne den eigenen Antifaschismus je hinterfragen zu müssen, bzw. ohne sich an „das ganz eindeutige ‚Juda verrecke‘ der Nazis“ erinnert zu fühlen (76). Antizionismus sei also „die Aktualisierung des uralten, offensichtlich unausrottbaren, ganz und gar irrationalen Judenhasses von eh und je“ (77). Der Wille des Antisemiten sei es, im Juden, egal was dieser tue, als „das radikal Böse“ zu sehen (79). In seiner Rede „Der ehrbare Antisemitismus“ zur Woche der Brüderlichkeit 1976 bemerkt Améry die Rolle der UdSSR für die Meinungsbildung der Linken, für die Israel „ein imperialistisches Krebsgeschwür“ sei und „die Juden im Allgemeinen Komplizen des kapitalistischen Komplotts in Permanenz“ (86).

Im Gegensatz zu den Behauptungen der Antizionisten, sei die „Funktion“, die Israel im jüdischen Bewusstsein einnehme, Améry zufolge, eine psychologische: „Seit es Israel gibt, weiß er, der Jude ist nicht, wie der Antisemit es ihm so lange eingeredet hatte, bis es zur Überredung schließlich gekommen war, feige, unfähig zu manueller Arbeit, geboren nur zu Geldgeschäften, untauglich zum Landbau, ein faselnder Stubenhocker und bestenfalls geistreichelnder Schwätzer. Er weiß aber noch mehr: Nämlich, dass, wenn immer es ihm, wo immer, an den Kragen ginge, ein Fleck Erde da ist, der ihn aufnähme, unter allen Umständen. Er weiß, dass er solange Israel besteht, nicht noch einmal unter schweigsamer Zustimmung der ungastlichen Wirtsvölker, günstigenfalls unteren deren unverbindlichem Bedauern, in den Feuerofen gesteckt werden kann.“ (Améry, 68)

Dass es dabei als „einzigen Alliierten“ die USA an seiner Seite habe, sei der Tatsache geschuldet, dass es eben nicht besonders viel Auswahl gebe: „Es hat die einzige Hand ergriffen, die sich ihm hilfreich entgegenstreckte.“ (70)

„Müssten nicht eben sie [Anm.: die Linken], die mehrheitlich akademisch gebildet sind und auch einige Geschichtskenntnis haben, verstehen, dass prinzipiell die Lösung der palästinensischen Frage nur eine technische ist, während der von soviel Hass umbrandete Judenstaat, wenn er unterginge, seinen Bewohnern als Erbstück nichts hinterlassen würde als das Schlachtmesser des bereits zum Mord erzogenen Gegners?“ (82), fragt er.

Améry ist der Überzeugung, dass die Linke dies insgeheim wisse, es aber verdränge, und diese Indifferenz sei es, welche schließlich den Kreis schließe zum „Spießer-Antisemitismus“. Die größere Gefahr gehe inzwischen von diesem linken Antisemitismus aus, der aus einer Mischung aus Ignoranz, aber auch „antisemitischer Tradition“ schöpfe und „mit historisch-moralischem Pathos“ auftrete (82-83).

Auch die typische Argumentation, dass man ja nichts gegen Juden habe, sondern ein Problem mit Israel, wird hier wieder klar. Dagegen bringt Améry seinen Namensverwandten Hans Mayer ins Feld, der schrieb „Wer den Zionismus angreift, aber beileibe nichts gegen die Juden sagen möchte, macht sich oder anderen etwas vor. Der Staat Israel ist ein Judenstaat. Wer ihn zerstören möchte, erklärtermaßen oder durch eine Politik, die nichts anderes bewirken kann als solche Vernichtung, betreibt den Judenhass von einst und von jeher. Wie sehr das auch am Wechselspiel von Außenpolitik und Innenpolitik beobachtet werden kann, zeigt die Innenpolitik der derzeitigen anti-zionistischen Staaten: Sie wird ihre jüdischen Bürger im Innern virtuell als ‚Zionisten‘ verstehen und entsprechend traktieren.“ (87)

Und so komme es in der Auseinandersetzung mit dem Nahost-Konflikt zu einer Solidarisierung der Linken mit dem „dummen Antisemitismus“ und dem Antisemitismus der Bourgeoisie, die „atmet erleichtert auf, dass sie hier für einmal im Gleichschritt marschieren kann mit der ansonsten von ihr als Ärgernis angesehenen jungen Generation“, Menschen, die selbst „oftmals noch keinen Juden von Angesicht zu Angesicht sahen“, „(u)nd es ist ihnen wohl beim Gedanken, dass ausnahmsweise auch sie sich in Richtung des objektiven Geistes bewegen“. Der Antisemitismus sei in diesem Zusammenschluss „ehrbar“ geworden (89).

Améry stellt das „Recht“ der Palästinenser*innen klar, die sich zu jener Zeit noch „in der Phase der Nationwerdung“ befanden, die es bis dahin „als Nation nicht gab“ (93). Jene, die innerhalb Israels lebten, hätten das Recht gleiche Bürgerrechte auszuüben, jedoch auch eine Pflicht auf Loyalität mit dem Staat. Jene, die außerhalb lebten, sollten jedoch endlich anerkennen, dass Israel als Staat existiere und dass es sich beim Zionismus um eine „nationale Befreiungsbewegung“ handle (94).

Schon 1976 schreibt Améry über das gängige Argument, dass die Juden im Islam „stets friedlich“ mit den Muslimen gelebt hätten und verweist auf die Dokumentation Albert Memmis, eines tunesisch-jüdischen Schriftstellers, die dieser Argumentation bereits damals widersprach. Antisemitismus sei auch hier Alltag gewesen, Juden hätten stets als „Bürger zweiter Klasse“ gelebt und dies gelte auch für die wenigen, die immer noch in arabischen Ländern lebten (98-99). Pessimistisch stellt er fest, heute werde „(a)us der Nahost-Frage (…) im Nu eine neue Judenfrage“ und wie diese gern beantwortet werde, „das wissen wir aus der Geschichte“. Das „ebenso vorsichtige wie deutliche Abrücken von Israel“ (101) sehen wir gegenwärtig wieder deutlich.

Améry geht zudem auf die UN-Resolution von 1975 ein, die mit Hilfe der UdSSR und einiger arabischer Staaten adaptiert wurde, nach der Zionismus fortan als Form von Rassismus und rassistischer Diskriminierung zu gelten habe. Er erwähnt nun Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre, die er sarkastisch als „weitum als Knechte des Imperialismus bekannte Persönlichkeiten“ bezeichnet, als Beispiel für jene kleine Gruppe von Linken, die gegen diese Resolution protestierten, die aber im Endeffekt keinerlei Macht hatte (95). „Wo Macht ist, vom Weißen Haus in Washington bis zum Palais d’Elysée, von Downing Street bis zum Kreml, wo man längst verdrängt hat, dass es mehrheitlich Juden waren, die das Vaterland aller Werktätigen aus dem Boden des alten Russland stampften, ist man, diplomatisch mehr oder weniger paraphrasierend, bereit, das ‚Recht der Araber‘, das sich in Petro-Dollars quantifizieren lässt, zu verteidigen und das Recht der Juden, welches das ewige Unrecht der Armen ist, für ein paar Silberlinge zu verkaufen.“(95)

„Öffentliche Meinung“, so Améry, setze sich aus „Meinungen über Meinungen“ zusammen. Er stellt hier eine maßgebliche Änderung in der öffentlichen Wahrnehmung Israels fest und hebt dabei auch die Rolle des Vatikans hervor, was die Bereitschaft anging, diese UN-Resolution zu unterstützen. So sprach der Papst vom „islamischen Charakter Jerusalems“ und einer notwendigen Vermeidung der „Judaisierung der Stadt“ (96), wohlwissend, dass Ostjerusalem erst 1948 von Jordanien besetzt worden war, wobei man das jüdische Viertel zerstörte – in der Altstadt von Jerusalem wurden 35 Synagogen demoliert und der Friedhof verwüstet, wobei Jordanien anschließend die Grabsteine für den Straßen- und Latrinenbau verwendete. Im Sechstagekrieg 1967 wurde Ostjerusalem wieder von Israel erobert.

Améry kommt im Laufe seiner Essays immer wieder auf die Rolle zu sprechen, die Israel für alle Juden der Welt spiele – auch für jene, die sich selbst als Antizionisten bezeichnen. So sei dieser „ein Gemeinwesen, das die Juden gelehrt hat, sich ihr Eigenbild nicht von Antisemiten aufprägen zu lassen“ (80). Für Améry ist dabei die „Virtualität (…) entscheidend“ (92). Seit es diesen Staat gebe, „haben die Juden für alle Fälle ein virtuelles Asyl“. Israel bedeutete endlich jüdische Souveränität. Juden waren nicht mehr dem Gutdünken der „Wirtsvölker“ ausgeliefert, die sich jederzeit entscheiden konnten, diese zu vertreiben, ihnen Besitz und Vermögen abzunehmen, sie zu ermorden, zu unterwerfen und des Landes zu verweisen. Ihr Schicksal lag nun vielmehr in ihrer eigenen Hand und hing von ihrem Sieg ab (81). Die Bindung an Israel habe nichts mit „Blut- und Rassemythen“ gemeinsam, sondern die Existenz Israels habe „alle Juden der Welt den aufrechten Gang wieder gelehrt“ (91).

Nach einer Reise nach Israel sieht sich Améry in seiner Position bestätigt, die Reise habe ihm aber „die allerletzten Illusionen genommen, dass ebendiese Position auch nur die geringste Chance hat, die Öffentlichkeit zu überzeugen“ (117).

Diese Desillusion zieht sich schließlich weiter durch seinen Text von 1977 „Grenzen der Solidarität“. Berichte über Folterungen in israelischen Gefängnissen schockieren ihn, doch das führt nicht dazu, dass er sich gegen Israel stellt, auch wenn er „in der Haut eines jeden Gefolterten (…) stecke“. Der Moral sei stets der Vorrang zu geben. Er warnt zudem davor, „rabbinische Gesetze zur Grundlage einer sozialen Gemeinschaft“ zu machen und damit die Legitimität des Staates von „Legenden“ abhängig zu machen (122-123).

Er appelliert an die Humanität der Israelis, selbst im Angesicht der Mordlust der Nachbarn, auch in Anbetracht der Diaspora, denn was in Israel passiere, werde auf alle Juden projiziert (125). „Bringt es nicht dahin, dass die unaufkündbare Solidarität, die uns an euch bindet, zur Katastrophengemeinschaft miteinander Untergehender werde.“ (125)

Améry ist überzeugt, sollte Israel zerstört werden und Israelis in der Folge gezwungen sein des Landes flüchten, werde auch die Linke endgültig zerstört, welche im Falle von Despotien der Welt, die nicht westlich seien, stets schweige. Dieser Konflikt sei eine Möglichkeit für die Bewegung sich die Frage zu stellen, ob sie noch für „humanistische() Werte“, Demokratie und Gerechtigkeit eintrete (106-107), ob sie also noch ein „Kind der Aufklärung“ (111) sei. Das „politische Hexeneinmaleins“ aber, sei die „totale Verwirrung der Begriffe, der definitive Verlust moralisch-politischer Maßstäbe“ (107).

Während Juden in den 30-er Jahren „empfohlen“ wurde nach Palästina auszuwandern, wird ihnen heute „empfohlen“ nach Polen – und damit zwischen den Zeilen in die Gaskammern – zurückzukehren, und wiederholt damit die revisionistische Behauptung, nach der Israel nur aus europäischen („weißen“) Juden, Kolonialisten und Siedlern bestehe. Wenn es sich bei Israel aber um ein kolonialistisches Projekt handelt, wo liegt dann das Zentrum des jüdischen Staates, in das die Zionisten heute zurückkehren sollen? Im Falle von Polen ist die Forderung doppelt hinterfotzig, hatte man sich seiner jüdischen Bevölkerung doch zwischen 1968 und 1972 ein zweites Mal – diesmal unter Federführung der Kommunisten – entledigt, als man ihnen zurief „Zionisten zurück nach Zion!“, sie zu Staatsfeinden erklärte und ihnen die Pässe abnahm.

Wenn das der Antizionismus ist, der sich so stolz und klar vom Antisemitismus abheben soll, warum klingt er dann so altbacken, als komme er mit der Zeitmaschine geradewegs aus dem Jahr 1894 angerattert, frisch wie die Patina auf der wiederbelebten Dolchstoßlegende? Doch nicht jeder Antizionist ist ein Antisemit, wie nicht jeder Holocaustleugner ein Holocaustleugner ist. Der Vorwand ist eben doch die harte Währung des Antisemitismus, demnach man die Juden präventiv schon für die Gründung Israels in die Gaskammern geschickt habe und ganz bestimmt in Zukunft weiterhin schicken werde, bis Palästina endlich frei sei.

Wer aber „die Existenzberechtigung Israels in Frage stellt, der ist entweder zu dumm, um einzusehen, dass er bei der Veranstaltung eines Über-Auschwitz mitwirkt, oder er steuert bewusst auf dieses Über-Auschwitz hin.“ (71)

Schnitzler und Kanzler. Wieder eine Rezension

1954 soll der eiserne Bühnenvorhang der neu errichteten Wiener Staatsoper neu gestaltet werden. Der damalige Künstlerhaus-Präsident Karl Maria May warnt vor den vorgeschlagenen Künstlern Oskar Kokoschka („ein ehemaliger Österreicher, der, als seine Heimat in Not war, in englische Staatsbürgerschaft untergeschlüpft ist“) und Marc Chagall („ein national-israelischer Künstler russischer Herkunft“) und empfiehlt seinen Vorgänger Rudolf Eisenmenger für den Auftrag. Rudolf war ab 1931 im nationalsozialistischen „Kampfbund für deutsche Kultur“ und malte mit Vorliebe junge Männer mit Braunhemden und Hakenkreuzfahnen. Da der „verordnete Geschmack der NS Zeit […] in Nachkriegsösterreich auch in der Bildenden Kunst dominiert“ (123), war er bereits 1947 wieder entnazifiziert und 1951 Professor. (126)

Eisenmengers Nazi-Vorhang wurde erst 43 Jahre später durch Staatsoperndirektor Ioan Holender verdeckt und seither gibt es jedes Jahr einen durch eine Jury ausgewählten Künstler, der eine Spielzeit lang den Vorhang mit seinem eigenen Kunstwerk überdecken darf. (127) Laut Auflagen des Bundesdenkmalamts muss der Vorhang aber trotzdem drei Monate im Jahr zu sehen sein. Eine Geschichte von markant österreichischen Dimensionen.

Der Carl Ueberreuter Verlag gibt Bücher zur österreichischen Zeitgeschichte heraus die laut Selbstauskunft „packend erzählt“ sind. Und der vorliegende Text des renommierten Journalisten Herbert Lackner ist wirklich packend, bis in die Organisation des Textes hinein. Oder vielmehr er ist journalistisch, denn die einzelnen Kapitel erhalten jeweils eine Zusammenfassung vorangestellt, wie sie in einem Zeitungsartikel üblich ist. Da stehen dann Absätze wie der folgende: „Kaum ist Arthur Schnitzler bezwungen und Hugo Bettauer tot, drohen neuen ‚Gefahren‘: Eine ‚Negeroper‘ und eine ‚Halbnegerin‘ namens Josephine Baker kommen nach Wien.“ (35)

Das, was nach den reißerischen Ankündigungen kommt ist dennoch gut erzählt, spannend zu lesen und, für das kompakte Format, gespickt mit wissenswerten Informationen. Dazu noch Porträt-Fotos von den wichtigen Protagonisten, durch die die eine oder andere Mörder-Visage ein Gesicht bekommt sowie Fotos von Ausschreitungen, die das Beschriebene lebendig werden lassen. Im Großen kann man sagen: Mission accomplished. Man kriegt richtig Lust die anderen Titel Lackners, aus dem Verlagssortiment, beworben am Ende des vorliegenden Buches, ebenfalls zu bestellen.

Spannende Literatur ist ja zu allen Zeiten etwas Tolles. Ich räume aber ein, dass ich von einer „politischen Kulturgeschichte“ Österreichs einen Text erwartet hatte, der mehr als 200 Seiten in großzügigem Druckformat umfasst. Aber bei Betrachtung der Seitenzahlen bei den anderen Bänden, der Reihe „Zeitgeschichte“, wird klar, das gehört zum Konzept. Packend erzählte Zeitgeschichte hat nicht mehr als ungefähr 200 Seiten. Und Papier ist ja teuer. Was sich auch darin bemerkbar macht, dass der Verlag auf Anfrage zur Rezension PDFs verschickt und keine Bücher. Verständlich aus Sicht des Verlags. Enttäuschend aus Sicht des Rezensenten, der dadurch um die ideelle Anerkennung umfällt für seine geleistete Arbeit zumindest das besprochene Buch ins Regal stellen zu können.

Aber vielleicht ist es ja auch ein Vermarktungstrick, dass die Bücher so kurzgehalten werden. Lackner hat 2017, 2019 und 2021 bereits Bücher zur österreichischen Geschichte vorgelegt, die thematisch miteinander in enger Beziehung stehen und vielleicht in der Gesamtschau diese politische Kulturgeschichte zu einer umfassenden Erzählung werden lassen. Der Verlag hat das Prinzip der Serie genutzt und dieses Projekt, vielleicht auch dem Produktionsprozess des Autors entgegenkommend, in mehrere Staffeln gegliedert. So konnte anstatt eines Riesenziegels mit 800 Seiten, der auch in der gebundenen Version, nicht viel mehr als 40 Euro kosten darf, wenn er außerhalb von Universitätsbibliotheken verkäuflich bleiben soll, eine Serie von Büchern erzeugt werden, die gemeinsam mehr als 80 Euro kosten dürfen.

Lackners Stil kommt dem Verlagsziel Papier zu sparen sehr entgegen. Er schreibt knapp und klar und erzählt dennoch brillant, weil er das Mäandern beherrscht, also das schnelle Durchstreifen von ganzen Regionen mittels kurvigem Wegverlauf. Die Geschichte wird als Ereignissammlung präsentiert. Die Ereignisse werden in guter journalistischer Machart zu Geschichten aufgebaut, die von Protagonisten und Antagonisten bespielt werden und über einen Spannungsbogen verfügen. Jedes Kapitel ein Eintrag in der Geschichte Österreichs, der beispielhaft für die verzwickten politischen Verhältnisse in diesem Land stehen kann. Alle Kapitel zusammen, in Lackners Selbstsicht, „eine durcherzählte fast romanartige Geschichte“ (8).

Bei der Lektüre wird schnell klar, die politische Kultur in Österreich ist eng verknüpft mit Skandalen. Kulturelle Skandale wohlgemerkt, durch die auf dem Feld der Kulturproduktion politische Kämpfe symbolisch ausgefochten werden. Es geht um Kulturkampf, den Lackner als Kampf der Künstler um „Existenz und Freiheit“ (7) gegen eine konservative rechtsorientierte Gesellschaft, in der zuerst die katholische Kirche, dann der Austrofaschismus und der Nationalsozialismus regieren. Das neue Österreich ab 1945 ist aber auch nicht besser, denn es stützt sich von Anfang an auf konservative Kulturtraditionen belohnt die faschistischen und reaktionären Dichter und schmäht ihre Kontrahenten mit aktiver Politik. (114) Das liegt auch am Personal. Die beiden ersten Unterrichts- und Kulturminister der Zweiten Republik, Felix Hurdes und Heinrich Drimmel (ÖVP)- waren Funktionäre in Kurt Schuschniggs Kanzlerdiktatur, Drimmel darüber hinaus noch Heimwehrmann. (116)

Konsequent wurde der 1934 eingeführte und ab 1950 wieder vergebene Große Österreichische Staatspreis für Literatur, „fast durchwegs“ an „die Stars des Ständestaats, die auch in der NS-Zeit hofierte Autoren blieben“ (116) verliehen. Ein besonderes Exemplar unter den vielen Autoren mit klingenden Namen, wie aus US-Amerikanischen Nazifilmen, Leitgeb, Braun, Henz, Mell, war Karl Heinrich Waggerl. 1938 der NSDAP beigetreten und Obmann der Salzburger Reichsschrifttumskammer, behauptete er nach Kriegsende nichts von seiner NS-Mitgliedschaft gewusst zu haben. (117) Dabei hatte er bezüglich der Preisverleihung gegenüber den durch die Nazis vertriebenen Autorinnen zwei große Vorteile: 1. Er hat den Preis bereits 1934 erhalten. 2. Die Satzung des Staatspreises sieht vor, dass nur, wer seinen Wohnsitz in Österreich hat, ausgezeichnet werden kann. Alfred Polgar, Hermann Broch, Max Brod, Elias Canetti, Vicki Baum und viele andere waren deshalb des Preises nicht würdig. Lackner schreibt sehr schön: „Österreich hat Waggerl. Und Elias Canetti kann sich 1981 mit dem Literaturnobelpreis trösten …“ (118).

Die Kontinuität der Nazis an den Hebeln der Macht in der Zweiten Republik macht betroffen. Das betrifft auch die Musik. Im Fall von Alban Bergs Oper Wozzek hat dessen Witwe Helene noch 1951 bei den Salzburger Festspielen Probleme die Oper aufführen zu lassen. Die Oper wird bei der Eröffnungsrede durch den damaligen Landeshauptmann Josef Klaus verschwiegen, „echte Kunst“ dagegen gelobt. Die Nazis bezeichneten das Gegenteil von echter Kunst als entartete Kunst und diese Einteilung ist in manchen Kulturdebatten bis heute bemerkbar. Das Tragen von Bikinis ist in Vorarlberg bis in die 1960er Jahre untersagt und mit Berufung auf ein Lichtspielgesetz von 1927 wird das letzte Filmverbot unter dem Siegel echt/entartet in Vorarlberg noch 1987 ausgesprochen. (135)

Lackner liefert eine Geschichtsreise, die augenöffnend für die Gegenwart wirkt. Kleidungsvorschriften für Frauen. Verbote von Filmaufführungen. FPÖ-Plakate die fragen: „Lieben sie Scholten, Jelinek, Peymann, Pasterk … oder Kunst und Kultur?“ Hetze gegen Minderheiten und hetzende Minderheiten. Die Kontinuitäten sind nur allzu sichtbar. Österreich ist weiterhin ein antisemitisches Land und wird davon auch nicht durch den Zuzug von Menschen aus aller Welt befreit werden. Denn nicht nur in Österreich ist der Antisemitismus ein Mittel zu Herrschaft und Triebabfuhr.

Österreich ist auch heute ein konservatives Land mit zutiefst reaktionären Sentimenten in der Mehrheitsgesellschaft. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass öffentliche Debatten über die Kulturindustrie nicht mehr von Rechten, sondern von Linken dominiert werden. Jetzt wird halt unter geänderter Flagge und neuen Mitteln verboten und zensuriert. Lackner greift das Thema Cancel Culture auf und meint, dass die alten Kulturkämpfe von neuen abgelöst werden. Aber am Ende hat wahrscheinlich der Verlag beim Autor über den Papiermangel geklagt, denn die letzten Kapitel sind, obwohl auch sehr lesenswert, hastiger formuliert. Der Abschluss wirkt unfertig.

Ein wunderbares Buch das leicht zugängliche Munition zur Kritik der Gegenwart aus ihrer Geschichte heraus liefert. Eine anekdotische Auseinandersetzung mit der österreichischen Misere und den Gründen dafür, die an einigen Stellen brillant ist und an manchen leider zu kurz, um ihre volle Wirkung zu entfalten.

Feuerwerk und Hundeelend

Als ein Mensch, der nicht gern Feste feiert, möchte ich trotzdem was zum Feiern sagen dieses Jahr. Weil ich schon wieder überall die Herzschmerzbilder von den lieben Hundis sehe, die so arm sein werden, wenn zu Silvester gefeiert wird.

Also ja, die Hundis sind arm, wenn sie sich erschrecken wegen dem Feuerwerk. Und ja das ist ein Problem. Und ja das kann man thematisieren. Und ja, da wird im Wortsinn Geld in die Luft geblasen und verbrannt und es kann sogar, wenn das Dummköpfe machen, gefährlich sein für Leib und Leben.

Aber wir leben in einer Stadt und da ist es sowieso immer laut. Und ob ein Hund in der Stadt überhaupt „artgerecht“ leben kann, ist für mich noch nicht wissenschaftlich geklärt. Und ob das nicht ganz viel mit dem Egoismus und der Ahnungslosigkeit, der Selbstgefälligkeit und der Ignoranz der Hundebesitzer zu tun hat, wenn sie sich in der Stadt auf engem Raum einen Hund halten, ist auch zu wenig erforscht. Denn da wird gehupt, da wird Auto gefahren, da werden Baustellen betrieben, die einen Höllenlärm machen. Da bleiben Hunde tagsüber allein in der Wohnung, weil die Besitzer arbeiten gehen müssen. Das stresst die Hunde auch alles. Aber dagegen begehrt keiner auf. Dagegen nimmt keiner die Hunde in Schutz. Zumindest sehe ich das in meiner Timeline nie, dass jemand ein Foto von den tausenden Hunden postet, die jedes Jahr überfahren werden auf den Straßen so einer Stadt. Kinder übrigens auch. Aber gegen den überbordenden Individualverkehr darf man nichts sagen. Denn das Auto hält den Betrieb aufrecht, weil es Menschen in die Arbeit bringt.

Was offenbar auch erträglich ist, ist eine Stadt voller Betrunkener, die sich aggressiv durch die Gassen schieben und überall ihren Müll hinterlassen, herumschreien und pöbeln und sicherlich auch die Hunde stressen. Und was auch sein darf ist das deppade Saufen und das private Böllern. Weil das kann man irgendwie trotz Polizeiverbot nicht ganz verhindern. Und auch das deppade Bleigießen, dieser in Wasser gegossene Aberglaube, steht nicht zur Debatte. Und das Bleigießen geht ja nicht einmal mehr, weil auch das irgendwie noch zu martialisch ist, jetzt gießt man Wachs. Und Partyhüte sind auch wichtig und so Partytröten und Girlanden und Konfetti und Tischbomben und der ganze Tand, was einen Berg von Müll produziert und bis ins Detail vollkommen unnötig ist.

Das darf alles sein. Nur was nicht mehr sein soll, ist eigentlich das einzige Interessante am Ganzen: Das Feuerwerk. Die ersten „Lust- oder Kunstfeuerwerke“ gab es wahrscheinlich in China während der Song-Dynastie (960–1270) und bereits damals ging es um den freien Ausdruck von Lust und Freude am Leben. Im Feuerwerk wir einmal im Jahr nicht nutzenoptimiert gehandelt. Es ist Zeichen eines freien Willens, ein Fest der Verschwendung, in dem ein Bewusstsein für die Vergänglichkeit enthalten ist. Und es ist gerade, weil es nicht alltäglich ist, eine sehr notwendige Abwechslung zum kapitalistischen Zapfenstreich, der besonders im Winter die Straßen leerfegt. In einer Zeit also, in der man im Dunkeln in die Arbeit fährt und im Dunkeln wieder zurückkommt aus der Arbeit.

Die einen machen es mit dem Vorwurf der Geldverschwendung. Er folgt der „protestantischen Ethik“ im Sinne von Max Weber und wird meist von den lustfeindlichen Elementen der Gesellschaft erhoben, die Luxus sowieso ablehnen. Der tägliche Lärm-, Stress- und Arbeitswahnsinn ist zu akzeptieren. Der einmal im Jahr stattfindende Ausbruch daraus wird dagegen verdammt und mit den Mitteln spießbürgerlicher Mitleids- und Moralapostelei bekämpft. Und das auf den Schultern von Tieren, die von Anfang an in der Großstadt nicht gut aufgehoben sind. Aber das scheint niemanden zu kümmern. Denn wo sind die Projekte, um das Leben in der Stadt lebenswerter zu machen? Wo sind zumindest die Postings, die auf das Schicksal der Hunde auf unseren hundefeindlichen Straßen verweisen?

Theodor W. Adorno schreibt in der ästhetischen Theorie sehr treffend: „Was im Kern der Ökonomie sich zuträgt, Konzentration und Zentralisation, die das Zerstreute an sich reißt und selbständige Existenzen einzig für die Berufsstatistik übrigläßt, das wirkt bis ins feinste geistige Geäder hinein, oft ohne daß die Vermittlungen zu erkennen wären. Die verlogene Personalisierung in der Politik, das Geschwafel vom Menschen in der Unmenschlichkeit sind der objektiven Pseudo-Individualisierung adäquat[;]“

Das Geschwafel vom armen Hundi in der Großstadt bleibt so lange ein verlogenes Geschwafel, wie sich Lebensbedingungen der Tiere nicht grundlegend verbessern. Das wäre nur zu erreichen, indem der Autoverkehr radikal zurückgedrängt wird. Daran ändert dann auch der eine Tag nichts, an dem man mit Hinweis auf die Hundis allen anderen Menschen den Spaß verdirbt. Das scheinbare Mitleid mit den Tieren ist in Wahrheit der Reflex gegen die Möglichkeit des Ausbrechens aus einer Wirklichkeit, die schlecht eingerichtet ist und die zu ändern schwer wäre. So schwer, dass man lieber an die Alternativen nicht erinnert wird und es somit dabei belässt das anzugreifen, was man sich gerade noch leisten zu können glaubt, ohne den sonstigen Betrieb aufzuhalten: den Spaß. Ganz ähnlich, wie in der Zeit als Bars, Museen, Theater, Kinos, Parks und Sporteinrichtungen im Namen der Gesundheit gesperrt waren und zugleich alle U-Bahnen am Arbeitsweg gerammelt voll und die Großraumbüros für jeden geöffnet. Der Betrieb muss weitergehen, der Spaß kann auf der Strecke bleiben. Aus ihm entsteht kein Profit.

Österreichische Ruinen. Recht. Kaputt. Von Nikolaus Dimmel und Alfred J. Noll

Aus Anlass des Regierens in Österreich könnte man zur Erkenntnis kommen: Jetzt reichts. Nikolaus Dimmel und Alfred J. Noll reichts und sie haben ein 800-seitiges Buch darüber geschrieben. Es nennt sich im Untertitel „Eine Ruinenbesichtigung“, und trotzdem wollen sie „nicht in das allenthalben zu vernehmende Verfallsgejammere einstimmen“ (702). Gleich in der Vorbemerkung fällt allerdings dieser Satz: „Das Recht hat seine (seit jeher bescheidene) Funktion, berufbares Widerlager gegen latent delinquente Kapitalverwertungspraktiken und Zaunpfahl gegen sozialen Rückschritt zu sein, fast durchgehend verloren.“ (13)

Also was jetzt? Gibts Verfall und jammern wir drüber, oder doch nicht? Die Widersprüchlichkeit erhält sich durch den ganzen sehr lesenswerten Text, in dem die Autoren keinesfalls moralisieren wollen (vgl. 702), bei allen Themen aber, die nicht unmittelbar juristisch sind, so weit an der Oberfläche bleiben, dass mehr als ein paar moralische Appelle leider meist nicht überbleiben. Dem korrespondiert, dass für sie progressiv zu sein bedeutet „an Wendepunkten der Geschichte oder in Transformationskrisen konservativ zu werden“ (25). Und sie sagen auch ganz offen worum es ihnen beim Konservativwerden geht: die „Bürgerlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft [soll] aufrecht erhalten bleiben“ (266).

Im ersten Teil, in dem es um die Funktionen des Rechts und das Verhältnis von Staat, Markt und Recht geht, kommen sie weitgehend ohne moralisierende Rhetorik auf die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft zu sprechen. Dass knapp 600.000 Menschen in Österreich aus Rechtsunkenntnis, Angst, Scham, Verzichtshaltung, Sanktionsandrohungen sowie durch passive Institutionalisierung der Behörden keine, oder zu wenig Sozialhilfeleistungen beantragen. Aus meiner Berufspraxis kann ich sagen, ich habe solche Fälle oft, wie zuletzt einen Herrn, der über Jahre in einem Einzelmietzimmer mit Kochplatte und Toilette am Gang von 550 Euro Mindestsicherung gelebt hat, ohne Wissen über die darüber hinausgehenden Möglichkeiten.

Im zweiten Teil „Recht vermessen“ stellen die beiden auf lesbare und verständliche Weise ihre Rechtsaufassung dar. Sie wollen „Recht als sozialen Geltungszusammenhang“ (65) thematisieren. Hier fallen zwar die moralisierenden Begriffe „Gangster-Kapitalismus“, „Polit-Kasperl-Theater“, „Schmieröl-Psychologen des Politikberatungsgewerbes“ wieder dichter (alle gefunden auf einer einzigen Seite, 132), aber zugleich arbeiten sie sehr klar die Problematik heraus, die zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Rechts in Österreich besteht, wenn die „Angemessenheit von Recht […] anhand der schaustellerischen Authentizität und medialen Performance der Rechtssetzer beurteilt“ wird. Also gesellschaftliche Fakten bei der Bewertung von Politik vom Souverän geflissentlich ignoriert werden, zugleich das Recht von ihm aber als „Ausdruck der eigenen Enteignung begriffen“ (132) wird. Anschaulich wird das in der Rechnung die die Autoren spitzfindig aufmachen. Aggregiert man die Betriebskosten des politischen Systems in Österreich „so konsumiert [es] etwa 8,5% des BIP“ (133), während die Sozialleistungen nach den radikalen Kürzungen der letzten Jahre (Das Arbeitslosengeld beträgt nur mehr 55% des letzten Gehalts!!) für Arbeitslose bei 5,5% Anteil an den gesamten Sozialausgaben liegt. (Laut Statistik Austria Pressemitteilung 13 110-138/23)

Die Autoren wissen sehr viel und zeigen das auch. Der Aufbau des Buches verrät tiefe theoretische Kenntnisse in Verbindung mit praktischer Erfahrung, auch wenn man sich an manchen Stellen wünschen würde, die praktischen Beispiele würden stärker in den Fokus geraten. Um einen Beitrag in der politischen Debatte zu leisten, muss der bürgerliche Citoyen, der von den Autoren als Voraussetzung für den funktionierenden demokratischen Rechtsstaat herausgearbeitet wird, auch die praktische Seite der Probleme erkunden können. Zwei praktizierende Anwälte könnten da eventuell handfestes Wissen zur Darstellung bringen, das es schafft das Arkanum, das über der politischen Juristerei liegt, ein wenig zu lüften. Vielleicht wird es ja in einem Anschlussband noch nachgereicht.

Das Kapitel über die Rationalität des Rechts ist wieder brillant erzählt und auf einem hohen theoretischen Niveau und endet mit dem nachdenklich stimmenden Satz: „Der Marktfundamentalismus der Gegenwart mit seiner auf Dauer gestellten kommissarischen Verwaltung des ökonomischen Notstands (Vielfachkrise) operiert mit einem Besteck, welches der materiellen Rechtsstaatlichkeit des Faschismus wesensgleich ist.“ (414)

In der Auseinandersetzung damit, was das Recht (nicht mehr) leistet, ermitteln die Autoren dann die Probleme, die sie kritisch bearbeiten wollen. Das Recht wird ökonomisch nur mehr „als Standortfaktor verstanden und seine relative Selbständigkeit abgeschliffen“. Darüber hinaus wurde der Zugang zum Recht „und dessen wirkungsvolle Mobilisierung für untere soziale Strata verschüttet“. Und „die sozialen Reproduktionsinteressen der Lohnabhängigen (Bildungsbeteiligung, gute Arbeit, Teilhabe durch Konsum, Finanzplanung und Kredit, menschenwürdiges Wohnen, Rechte auf Gesundheit, Pflege oder Sicherung vor Armut etc.) [sind] schlicht aus dem Recht ausgewandert“ (427). Eine treffende Analyse!

Der Bogen wird auch danach noch weit gespannt. Es geht um Offshoring, darwinistische Narrative in Wirtschaft und Counter Culture, um Ideologie und Kritik und immer wieder um etwas seltsam anmutende Begriffe wie „Kapitalozän“, die neben der durchaus brauchbaren sonstigen Begriffsarbeit seltsam deplaziert wirken.

Das Buch von Dimmel und Noll ist nicht historisch angelegt, die vielen gestreuten Hinweise darauf, dass die heutige Situation bewusst herbeigeführt worden ist, muss man ihnen an vielen Stellen glauben. Der vorliegende Text spielt weitgehend in der Gegenwart und oft nicht einmal in Österreich. Denn immer, wenn es ans Eingemachte des Kapitalismus geht, fehlen offenbar die lokal spezifischen Studien. Dann kommen die üblichen Allgemeinplätze von den üblichen Autoren. So wie eher Nancy Fraser, die universale Theoretikerin des Kapitalismus und seiner feministischen Kritik, zu Wort kommt als Chantal Mouffe, obwohl zweitere doch zumindest über die österreichischen Verhältnisse geschrieben hat (Über das Politische 2007). Überhaupt geht es sehr eklektisch zu und nicht immer ist vollkommen klar warum ein bestimmter Theorieteil gerade an dieser Stelle steht, oder warum sich manche Argumentation im Buch mehrmals wiederholt und andere sang- und klanglos verschwindet, nachdem sie einmal aufgebracht wurde. Sichtbar etwa bei der Aufnahme Giorgio Agambens in den Text, dessen Beitrag für die Argumentation der Autoren überhaupt nicht notwendig gewesen wäre. Dem darüber hinaus aber auf Seite 561 großflächig widersprochen wird, wenn es um die zentrale These seines frühen Werkes, dem Verständnis des Ausnahmezustands geht. Und 10 Seiten später, auf Seite 571, wir dieser wieder hervorgeholt um eben diesen Begriff vom Ausnahmezustand zustimmend heranzuziehen. Einmal im „Gegensatz zu“, dann wieder „in Anlehnung an“. Beide Male geht es um die Außerkraftsetzung der Rechtsgültigkeit des Rechts im Ausnahmezustand.

Agamben mit seinem metaphysischen Begriff des Individuums bräuchte man dafür nicht. Wie sich auch Dimmel und Noll bewusst sind, wenn sie sich theoretisch damit auseinandersetzen, dass die Ruinierung des Rechts den Ausverkauf des Staats zur Voraussetzung gehabt hat. Sie sehen 45 Jahre neoliberale Gegenreformation als Grund dafür, dass das Recht „in vielerlei Belangen seine sozial wie ökologisch kompensierende Funktion weitgehend verloren“ (418) hat.

Gerda Marx hat das am Beispiel des „Immobilienmanagement des Bundes“ in ihrer 2007 publizierten Dissertation aufgezeigt: „In den letzten Jahrzehnten ist die Besorgung von öffentlichen Aufgaben in zunehmendem Ausmaß privatrechtlich organisierten Rechtsträgern zugewiesen worden.“ Allerdings ohne, dass „die angestrebte Straffung und Vereinheitlichung des Liegenschaftsmanagements“ erreicht worden wäre. Im Gegenteil, die angestrebte Koordination des Raummanagements wurde nicht erreicht, sondern die unklare Abgrenzung der Kompetenzen und Aufgaben zwischen den Ressorts und der BIG wurde noch verschärft. Nebenbei ist es bis 2007 nicht gelungen eine vollständige Feststellung des tatsächlichen Immobilienbesitzes des Bundes durchzuführen, was dazu führte, dass „die im Zuge der Privatisierung übereigneten Liegenschaften vielfach nicht bestimmbar“ sind.

Damit waren die idealen Voraussetzungen für Korruption geschaffen. Und just in dieser Zeit wurde das derzeit stattfindende Schmierentheater aus Politikerdarstellern und solchen die es gerne werden möchten und die mal nur wegen dem Gehalt dabei sind, politisch sozialisiert. Ein Haufen neoliberaler Schwachmaten mit dem politischen Anspruch eines Head of Backoffice in einer Filiale der Raiffeisen Bank International, die für ihre besonders sauberen Geschäfte mit Russischen Kunden berühmt ist. (Ich darf moralisieren, ich habe es mir nicht selbst verboten.) Vorgemacht haben es Größen wie der ehemalige Bundeskanzler und SPÖ Grande Alfred Gusenbauer, der eigentlich seit seinem Ausscheiden aus dem Amt beinahe ausschließlich durch Negativschlagzeilen aufgefallen ist und natürlich just im aktuellsten Skandal um die Signa-Pleite des Rene Benko auch wieder als honorarnotenstellende Fußnote aus dem Rahmen fällt.

Der Standard berichtet online am 01.12.2023: Gerade einmal drei Wochen nach seinem Rücktritt als Kanzler heuerte Gusenbauer laut „News“ bei der Signa an, für eine jährliche Pauschale von 280.000 Euro, „wobei von einem Zeitaufwand von einer Arbeitswoche pro Monat ausgegangen wird“. Inzwischen sitzt Gusenbauer neben dem Beirat auch in den Aufsichtsräten der wichtigsten Signa-Immobiliengesellschaften Signa Prime und Signa Development.

Und: Auch er kassierte Millionenhonorare. Für eine „Beratung“ im Zusammenhang mit staatlichen Corona-Hilfszahlungen in Deutschland an die Benko-eigene Kaufhauskette Galeria Kaufhof etwa stellte der Altkanzler der Signa Holding im März 2020 drei Millionen Euro exklusive Umsatzsteuer in Rechnung. Im September 2021 waren es dann nochmals zwei Millionen Euro.

Pikant daran ist nicht nur, dass Gusenbauer im Juni 2022 in der ORF-Sendung „Eco“ abstritt, dass er beratend für die Signa tätig sei. Auch lassen sich in seinen Engagements Interessenkonflikte ausmachen: Der Altkanzler berät neben Benko nämlich auch noch den Baukonzern Strabag von Hans Peter Haselsteiner, in dem er als Aufsichtsratsvorsitzender fungiert. Haselsteiner – er hält 15 Prozent der Signa Holding – liegt aber seit längerem im Streit mit Benko. Der Strabag-Gründer war federführend beteiligt an jenem Aufstand der Signa-Mitinvestoren Anfang November, der Benko von der Konzernspitze der Signa verdrängen sollte. Gusenbauer ist also geschäftlich, wenn man so will, auf beiden Seiten zu Hause.

Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass auch Ex-Kanzler Kurz mit Benko gute Geschäfte macht.

Aber zurück zum Thema: Dem Text von Dimmel und Noll vorangestellt ist ein Zitat Theodor Wiesengrund Adornos, der sich allerdings im Literaturverzeichnis nicht auffinden lässt. So wie überhaupt die textorientierte Rezeption der kritischen Theorie sich auf Jürgen Habermas beschränkt. Die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Adorno kommt zwar mal vor (160) bedarf aber offenbar keines Nachweises oder eines Zitates, weshalb sich auch dieser Text nicht im Literaturverzeichnis findet. Max Horkheimer darf mit zwei kurzen Aufsätzen reüssieren, die aber ebenso unpräzise und wie eine Pflichtübung absolviert werden. Obwohl er mit der Racket-Theorie die brauchbarste Version einer Kritik an Bandenherrschaft und politischer Korruption liefert, die uns heute zur Verfügung steht, wird öfter auf die „Soziologie des Parteienwesens“ Robert Michels Bezug genommen. Michels, zugegebenermaßen als Parteienforscher ein Begründer der modernen Politikwissenschaft, ist 1928 der Partito Nazionale Fascista Benito Mussolinis beigetreten und hat sich von da an mit der Erarbeitung einer faschistischen Theorie des Korporatismus beschäftigt.  

Das vorangestellte Motto von Adorno thematisiert die Problematik der sich ein anspruchsvoller Text stellen muss. Man kann sich präzise, gewissenhaft, dem Problem angemessen äußern, dann riskiert man als schwer verständlich zu gelten, oder man kann lax und verantwortungslos formulieren und mit Verständnis belohnt werden. Das macht neugierig zumal auf ein Buch das in Österreich geschrieben wurde, wo sonst oft genug die Seichtheit und die Laxheit das Gütesiegel des Buchverkaufs ist.

Aber es ist natürlich auch eine launige Vorbemerkung von zwei Profis, die schon so manches Buch in Österreich publiziert haben und die vor allem den Ton des Feuilletons hier gut kennen. Wer sich der heimischen Journaille nicht inhaltlich anbiedert, wird oft hysterisch rezepiert und letztlich negativ rezensiert. Sie nehmen in ihrer ganzen auf das Motto folgenden Einleitung diesen hysterisierten Ton der Kritik und die mögliche Stoßrichtung der über das Buch eingereichten Mängelliste vorweg und versuchen dem politisch motivierten Raunzen vorneweg gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen.

„Ja wir haben uns viel vorgenommen, ja es ist schwierig zu lesen, ja wir haben nicht alles belegt, ja manches wird für Aufregung sorgen, aber wir wissen das, wir müssen es nicht mehr in der Rezension lesen.“

Man will sich nicht anbitzeln lassen, das Thema ist zu wichtig. Und sie haben auch Recht damit. Das Buch ist eine Grundlagenarbeit. Hier wird eine theoretische Perspektive eröffnet und der Stil ist ambitioniert unösterreichisch. Mit Kleinigkeiten halten sich die Autoren nicht auf. Sie haben ein Projekt vor sich das mit Kritik, mit Einspruch und mit Gegenwehr hantiert. Ein Projekt, das vom Duktus der Einwände gegen das bestehende System her durchaus einen Anspruch auf Veränderung setzt. Aber können sie zu einer utopischen Perspektive durchdringen?

Hier schreiben zwei Männer die schon lange in diesem Österreich erfolgreich sind. Deshalb ist bei aller kritischen Rhetorik immer zu spüren, dass ihnen nicht ganz geheuer ist bei dem was sie da sagen. Sie zitieren zwar ausgiebig Marx und Gramsci, vom operativen Impetus her sind sie aber eher bei Eduard Bernstein zu Hause. Auf Seite 523 sind sie sogar ein bissl wehleidig, was ihren eigenen Berufsstand angeht. Das Thema Digitalisierung streifen sie nur an der Oberfläche. Was verwundert angesichts des Versuchs eine zeitgemäße Darstellung der Probleme des Rechts anzufertigen. Julie E. Cohen und Ifeoma Ajunwa, die spezifisch zum Thema der Digitalisierung und dem Wandel des (Arbeits-)Rechts arbeiten, sucht man auf der, ansonsten beeindruckend langen, Literaturliste vergebens. Ebenso Simon Schaupps Kritik der digitalen Dequalifizierung von Arbeit und dem damit verbundenen Lohndumping fehlt. Aber auch Klassiker der Kritik des digitalen Kapitalismus, bei denen das Recht durchaus eine Rolle spielt, wie David Schiller und Wolfgang Fritz Haug, bleiben unerwähnt.

Empört sind Dimmel und Noll in Zusammenhang mit der Digitalisierung vor allem über das digitale „Ende des Anwaltsmonopols bei der Erbringung von Rechtsdienstleistungen“ (524). Das erleichtert zwar, wie sie selber zugeben, „einkommensschwachen Haushalten den Zugang zum Recht“ (523), aber gleichzeitig werden dadurch haufenweise legal assistants in den USA arbeitslos. Das kommt einer „Industrialisierung des Dienstleistungsmarkts auf dem Gebiet der Rechtsberatung gleich“ (524) und könnte auch damit in Zusammenhang stehen, dass „die Digitalisierung ein zentraler Treiber der Herausbildung eines autoritären Überwachungsstaates“ (ebda.) ist.

Als Berufsstandswahrer behält man sich vor abzuwägen, ob es besser ist, dass Arme gleichberechtigten Zugang zu Informationen über das Recht haben, oder Anwälte Jobs. Als in der Sozialarbeit tätiger Mensch kann ich nur sagen, das Ende des Anwaltsmonopols bei niedrigschwelliger Beratung wäre eine absolute Demokratisierung des Rechtsstaats und eine Unterstützung für alle, durch denselbigen, Deklassierten.

Gleichzeitig sind Dimmel und Noll an vielen Stellen zu Recht empört und bringen das auch selbstkritisch zum Ausdruck, wenn sie feststellen, dass ein „merklicher Teil der Krise des Rechts ganz offenkundig darin besteht, dass diese Krise innerhalb der Rechtswissenschaft kaum angemessen reflektiert wird“ (546).

Aber als gelernte Anwälte mit bürügerlicher Sozialisierung sind sie kaum gewillt, alle Verhältnisse umzustoßen in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes Wesen ist. Vielmehr scheinen sie zurück zu wollen in eine Zeit in der alles besser war, ohne, dass sie historisch klären würden, ob es diese Zeit je gab. Oder was die Gründe für ihren kurzen Bestand und ihr Ende waren. Wenn die neoliberale Gegenreformation seit 45 Jahren läuft, dann sind sie wohl mit David Harvey einig, dass der Neoliberalismus Ende der 1970er Jahre beginnt. Dimmel und Noll waren 1977, im Jahr der Versenkung der Lucona, 18 und 17 Jahre alt. Und sie haben trotzdem teilweise recht, denn der große Unterschied zu den jetzigen Verhältnissen ist, dass Nationalratspräsident Leopold Gratz und Innenminister Karl Blecha von der damaligen SPÖ zurücktraten. Das würde Wolfgang Sobotka von der jetzigen ÖVP niemals passieren.

In ihrem Abschlusskapitel überschrieben mit „Und jetzt, wohin?“, also der bürgerlichen Variante Lenins „Was tun?“, einigen sie sich darauf, dass es das Recht und die Anwälte weiterhin braucht, um zwischen partikularen Interessen zu vermitteln und vor allem Fragen der Umverteilung und Gerechtigkeit gesamtgesellschaftlich zu be- und verhandeln, anstatt sie immer mehr den Individuen zuzuschieben.

Sie bezeichnen das Recht als „Speerspitze der Durchkapitalisierung“ (561), was mit sich bringt, dass es zu einer zunehmenden „Flucht der Herrschenden und der von den bestehenden Verhältnissen Profitierenden aus dem Recht“ (427) kommt. Diejenigen die sich die Regeln machen können, halten sich nur daran, wenn sie ihren wirtschaftlichen Interessen entsprechen.

Dimmel und Noll wenden sich gegen die Ungerechtigkeiten die aus der „Nichtanwendung geltenden Rechts“ (546) resultieren, aus der fortgesetzten kommissarischen Verwaltung, die dafür sorgt, dass Niedriglöhne niedrig bleiben und zugleich Liftbetreiber und Hoteliers, die mit diesen Niedriglöhnen ihre Marge machen, während der Pandemie mit 6 Milliarden Euro unterstützt wurden. Um hinter die Perfidie dieser Situation zu steigen, braucht es für die Autoren, eine kollektive Vernunft. Und, wie jeder Jurist der Welt jedem juristischen Laien der Welt jederzeit für gutes Geld erklären wird: „Jede Form kollektiver Vernunft kann sich nur im System des Rechts entfalten.“ (684)

Das Recht soll sich nicht am Markt ausrichten. Aber rationale Rechtspolitik muss Leistung bringen. Die „Leistungskapazität des Rechts […] hängt […] davon ab, ob es ökonomische Bedarfsdeckung, ökologisch Nachhaltigkeit und soziale Inklusion bzw. normative Sozialintegration auf partizipative Weise, evidence-based und in einer den rechtsstaatlichen Grundprinzipien verpflichteten Weise organisieren und gewährleisten kann.“ (691) Überprüfen kann man das durch „rekursive Rückkopplung von Gesetzgebungsprozessen an außerrechtliche Wissensbestände und Expertisen, die Ersetzung des Bundesrats durch eine Kammer von Fachleuten, durch partizipative Verfahren der Rechtssetzung, etwa durch Kinder-, Stadtteil- und Bürgerparlamente durch unmittelbare Antragspositionen von Kontrollagenturen“ (691f.).

Widerstand bedeutet für die Autoren „die Entwicklung rechtlicher Argumentations- und Begründungsfiguren, welche dem Widerstand Legitimität (Rechtfertigung) Legalität (Berechtigung) verleihen, […] die Herauspräparierung antihegemonialer, alternativer Normenbegründungen“ (699).

Das Buch ist eine große Reise durch die Rechtsphilosophie und die bürgerliche Kapitalismuskritik. Es fordert zum Nachdenken heraus und es ist, mit all seinen Fehlern, das zur Zeit beste Buch auf diesem Gebiet. Man kann es im Regal allein schon wegen seines Umfangs sehr gut, neben Joseph Buttingers „Am Beispiel Österreichs“ platzieren und hätte zwei Klassiker nebeneinanderstehen. Einen vergangenen und einen künftigen.

Dreidimensionales Schach mit Taube

Heute kam es im Gazastreifen zu einem vorübergehenden Waffenstillstand zwischen den israelischen Streitkräften und der Hamas. Die Vereinbarung sieht eine mindestens viertägige Unterbrechung der Kampfhandlungen vor. In der Zeit sollen mindestens 50 Frauen und Kinder der ca. 240 Geiseln, die am 7. Oktober entführt wurden, gegen 150 palästinensische weibliche und minderjährige Häftlinge ausgetauscht werden, die in israelischen Gefängnissen sitzen.

Doch nicht, dass man in der Waffenstillstand-Antizionismus-Fraktion nun kurzfristig zufrieden wäre. Nein, auch hier gibt es einiges zu bemängeln, z. B. die Anzahl der auszutauschenden Gefangenen. Doch man wird überrascht sein, sie sind nicht etwa zu wenige, sie sind zu viele! Die Anzahl der freizulassenden Gefangenen übersteigt jene der Geiseln.

In seiner Absurdität zur Spitze getrieben hat das Disproportionalitätsargument damit das Interview von Kay Burley auf Sky News mit dem israelischen Regierungssprecher Eylon Levy. Sie konfrontierte ihn mit der, in ihrem Kopf bestimmt überaus spitzfindigen, Einschätzung eines Geisel-Unterhändlers, der einen zahlenmäßigen Vergleich zwischen den 50 israelischen Geiseln und den von Hamas ausgehandelten 150 in israelischen Gefängnissen eingesperrten Palästinensern anstellte, was ihn zu der Frage brachte, ob Israel palästinensische Leben weniger schätze als israelische Leben. Eylon Levy entgleiste zunächst die Mimik merklich, ehe er Burley wissen ließ, „(…) wenn wir einen Gefangenen für jede Geisel befreien könnten, würden wir das offensichtlich machen. (…) Es ist nicht unsere Entscheidung diese Gefangenen, die Blut an ihren Händen haben, freizulassen (…) Fällt Ihnen auf, die Frage der Proportionalität interessiert Unterstützer der Palästinenser nicht, wenn sie dafür mehr ihrer Gefangenen freibekommen, aber es ist eine Frechheit zu suggerieren, dass die Tatsache, dass wir bereit sind Gefangene freizulassen, die für terroristische Straftaten verurteilt wurden, und zwar mehr als wir dafür von unseren eigenen unschuldigen Kindern zurückbekommen, irgendwie darauf hinweist, dass uns palästinensische Leben egal sind (…).“

Als wäre in letzter Instanz nicht der Geiselnehmer für die Festlegung der Zahl der freizulassenden Geiseln verantwortlich, die sich in seiner Gewalt befinden, vor allem nachdem dieser bereits mehrfach demonstriert hat, welchen (geringen) Wert deren Leben für ihn hat. Der Logik Burleys und ihres ominösen Unterhändlers zufolge wäre anzunehmen, dass die Freilassung aller Geiseln im Austausch für keinen einzigen palästinensischen Gefangenen wohl die Spitze der Wertschätzung für palästinensisches Leben dargestellt hätte.

Solcherlei Absurdität, die sich daraus ergibt, wenn das Gehirn damit kämpft die Realität an das bereits vorgefertigte Bild des Anderen anzupassen, von dem man nur das Allerschlimmste anzunehmen bereit ist, erinnert an die Behauptung der amerikanischen Queer-Theory Professorin an der Rutgers Universität New Jersey, Jasbir Puar, die in ihrem Buch „The Right to Maim“ behauptet hatte: „Die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) haben über Jahrzehnte hinweg nachweislich Leben verschont und eher auf Verstümmelung als auf Tötung hinaus geschossen.“ Die Tatsache, dass es nur wenige Vergewaltigungen palästinensischer Frauen durch die IDF gebe, weise zudem darauf hin, dass Israelis Palästinenserinnen so sehr dehumanisierten, dass sie sie nicht einmal mehr vergewaltigen würden. Es zeige sich, „dass das Fehlen von militärischen Vergewaltigungen lediglich die ethnischen Grenzen verstärkt und die Unterschiede zwischen den Ethnien verdeutlicht – genau wie es organisierte militärische Vergewaltigungen getan hätten.“* Jasbir Puar, die auch Anhängerin der These ist, dass Israel einen Genozid an Palästinensern begeht, wirft Israel einen Genozid mit gezielter Nicht-Tötung von Zivilisten zu Verstümmelungszwecken vor, andere Aktivistinnen werfen wiederum gezielte Nicht-Gruppenvergewaltigung von Zivilistinnen durch das Militär vor, welche aber dieselben Auswirkungen habe, wie Gruppenvergewaltigungen. Puar hatte ebenso an anderer Stelle behauptet Israel entnehme Palästinenserinnen Organe – eine moderne Version der Ritualmordlegende.  

*Ergänzung: Diese Behauptung stammt nicht von Jasbir Puar, sondern von der Soziologin Tal Nitzan.

Roger Waters war einmal ein Musiker

Als schmähstad bezeichnet man den österreichischen Zustand der Sprachlosigkeit in Anbetracht des Ausgeliefertseins an eine unerträgliche Realität, die einem auf der Zunge liegt wie ein rostiger Löffel. Das Pogrom in Israel vom 7.10.2023, das ca. 1.400 Menschen das Leben kostete und damit das größte Massaker an Juden in der jüngsten Geschichte darstellt, hatte leider nur bei den wenigsten Artgenossinnen eine solche Schmähstadheit zur Folge. Was sich die Jahre davor bereits „im Kleinen“ regelmäßig wiederholt hatte, führte nicht, wie von der kleinen Minderheit „nicht-israel-kritischer“ Linker angenommen, zur Erkenntnis, dass es sich um einen zivilisatorischen Bruch handelte und zur Solidarität mit den getöteten Israelis und ihren Familien, sondern entwickelte sich zum ausgewachsenen Relativierungsmanöver der antifaschistischenTM Internationale. Es stellte sich also, nicht wie von einigen naiverweise erwartet, ein großer Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung Israels ein, sondern es geschah, was auch bisher wiederholt der Fall war, wenn es sich um das Thema Israel handelte, die Verantwortung verschob sich auf die Angegriffenen, während man den Angreifern die Verantwortung entzog.

Organisationen wie Black Lives Matter Chicago, die zurecht auf rassistische Praxis und Strukturen in der US-amerikanischen Exekutive hingewiesen hatten, sahen sich bemüßigt sich über die 260 massakrierten Besucherinnen des „Supernova Sukkot Gathering“ lustig zu machen, indem Sie die schematische Darstellung eines Fallschirmspringers mit „I stand with Palestine“ Schriftzug teilten, ein Bild also jener Hamas-Kämpfer, die massenhaft in Fallschirmen auf dem Gelände gelandet waren, ehe sie sich über ihre Opfer hermachten. Fridays For Future Wunderkind Greta Thunberg veröffentlichte einige, im günstigsten Interpretationsfall, unbedarfte Äußerungen zum Terroranschlag der Hamas. Fridays for Future teilt mit den Kadern der Mordbande die Ansicht, die Killer von israelischen Babys seien „Märtyrer“.

Ereignisse wie diese sollten aber keine Überraschung sein, hatte sich ähnliches doch Jahr um Jahr wiederholt. 2019 behauptete die Black Lives Matter Aktivistin Tamika Mallory Trump habe sich mit seinen Reisebeschränkungen und Anti-Immigrationsgesetze ein Beispiel an Israel genommen. Unterstützerinnen von BLM zogen während der Demonstrationen nach der Tötung George Floyds durch die Polizei Parallelen zwischen seinem Schicksal und der Behandlung von Palästinenserinnen durch israelische Soldaten. Der ehemalige Musiker Roger Waters hatte zur selben Zeit in einem Interview behauptet der „Mord an George Floyd (…) wurde mit einer Technik verübt, die von den IDF, den Besatzungskräften, erfunden wurde. (…) Das ist eine israelische Technik, die den militarisierten Polizeikräften der USA von israelischen Experten beigebracht wird, die die USA in die Vereinigten Staaten fliegen lässt, um ihnen beizubringen, wie man Schwarze ermorden kann, weil sie gesehen haben wie effizient die Israelis bei der Ermordung von Palästinensern in den besetzten Gebieten waren (…)“

Apropos Märtyrer: Die ehemalige linke Vorzeigefeministin Nicole Schöndorfer postete am Tag nach dem Terroranschlag in Israel auf Instagram davon „auch die mehr als 300 Märtyrer von Gaza“ zu ehren, „die durch die feigen Luftangriffe des zerfallenden zionistischen Gebildes und seiner dezimierten Armee gefallen sind, die es nicht wagt, sich den heldenhaften Bewohnern des Streifens zu nähern, außer aus der Ferne in einem von den USA finanzierten Kampfflugzeug, das Bomben auf sie abwirft.“

Zwar wird ständig wiederholt Hamas repräsentiere nicht die Bevölkerung des Gazastreifens, was dann aber mit solchen Aussagen wieder zunichtegemacht wird. Wenn behauptet wird, dass die Palästinenserinnen nicht Hamas sind, Hamas aber dann doch den Freiheitskampf der Palästinenserinnen führt. Hamas repräsentiert übrigens buchstäblich die Bevölkerung des Gazastreifens. Denn Hamas ist die politische Vertretung des Gazastreifens. Wenn im Begriff „der Westen“ eine Deckungsgleichheit der Bevölkerungen sämtlicher westlicher Länder mit deren Regierungen mitschwingt, so gilt dies wohl auch für die Gazaner (44,45%), die Hamas 2006 gewählt haben. Wenn Teile der Bevölkerung noch dazu Süßigkeiten verteilen, um das Massaker zu feiern, sowie sich selbst an der Quälerei beteiligen, gilt dies umso mehr. Wenn man allerdings anerkennt, dass die politische Klasse und die Bevölkerung nicht zwingend deckungsgleich sind, muss man annehmen, dass dies auch nicht zwingend auf die Bewohner des Gazastreifens zutrifft. Auch die deutsche Bevölkerung stand nicht geschlossen hinter Hitler, jedoch geschlossen genug, dass diejenigen, die Widerstand leisteten, nicht deutlich genug ins Gewicht fielen. Ein vom palästinensischen Bildungsministerium 2004 herausgegebenes Schulbuch lehrt, zu den „Grundlagen des Zionismus, die auf dem Ersten Zionistenkongress 1897 beschlossen wurden“ gehöre „eine Gruppe vertraulicher Resolutionen (…) unter dem Namen ,Die Protokolle der Weisen von Zion‘“ mit dem Ziel der Weltherrschaft. Die Gründungscharta der Hamas spricht dezidiert von der Pflicht Israel zu erobern, da es sich um ein „islamisches Heimatland“ handle und damit für immer islamisch bleiben müsse. Ebenso in der Charta zu lesen ist „Das Jüngste Gericht wird nicht kommen, solange Muslime nicht die Juden bekämpfen und sie töten. Dann aber werden sich die Juden hinter Steinen und Bäumen verstecken, und die Steine und Bäume werden rufen: ,Oh, Muslim, ein Jude versteckt sich hinter mir, komm und töte ihn.‘“ Vom Fluss bis zum Meer!

Dass die andere Seite mittlerweile auch wahnhaft agiert, liegt nicht nur am Lagerkoller der nicht enden wollenden kriegerischen, terroristischen und propagandistischen Bedrängung durch die lieben Nachbarn, sondern auch daran, dass sich an der Spitze des israelischen Staates eine Clique breit gemacht hat, die mehr an ihrem Eigeninteresse als am Wohl ihrer Bürger, oder gar der Region orientiert ist.

„We don’t need no occupation – we don’t need no racist wall“ schrieb Roger Waters anlässlich eines Konzerts in Israel auf eine Schutzmauer an der Grenze zum Westjordanland und bringt damit den anti-israelischen Wahn auf eine Formel, die bei denen, die den so genannten Nahostkonflikt zu kompliziert finden, auf fruchtbaren Boden fällt. Denn natürlich sind Segregation und Rassismus dem friedlichen Zusammenleben nicht förderlich. Und natürlich ist die Besetzung eines anderen Landes ein völkerrechtliches Verbrechen. Und selbstverständlich ist eine Mauer das Symbol des Ausschlusses und der gewaltsamen Einhegung schlechthin.

Aber diese einfache Formel ist, wie man am 7.10. 2023 sehen konnte, in diesem konkreten Fall falsch. Denn die Mauer steht nicht nur als Symbol für die Spaltung, sondern auch als reale Schutzmöglichkeit vor eben dem Terror, der gerade verübt wurde. Bereits Aristophanes schreibt vor 2.500 Jahren: „Nicht von den Freunden, sondern von den Feinden lernen Städte die Lektion hoher Mauern.“ Die Mauer war jahrtausendelang ein Symbol der Verteidigungsfähigkeit von Gemeinschaften in einer kriegerischen Welt. Mauern sind in ihrer Funktion beschützend, nicht teilend, oder gar rassistisch. Aber Roger Waters lebt ja nicht gerade in der gefährlichsten aller Welten. Er kritisiert meist aus seinem Manhattan Townhouse mit Sicherheitsdienst und Portier heraus. Oder aus seiner 16,2 Millionen Dollar Villa im Vorort Bridgehampton nahe New York. Die historische Pferderennbahn dort wäre geeignet das Royal Ascot zu beherbergen.

Roger Waters selbst hat dieses Zweithaus übrigens an einer Stelle bauen lassen, an der sich ein aus dem 19. Jahrhundert stammendes historisches Wohnhaus befunden hat. Er hat es abreißen lassen, vermutlich mit Bulldozern, und mit einer Mauer umgeben, wie man sich auf virtualglobetrotting.com ansehen kann.

Das Mauerproblem wird in der Auseinandersetzung mit dem Konflikt gerne im Zusammenhang mit der Disproportionalität, von der der Konflikt dominiert sein soll, in den Raum gestellt. Zu viele Palästinenserinnen seien bisher im Konflikt gestorben, zu wenige Israelis. Man wirft also den Israelis vor, dass sie sich nicht oft genug ermorden lassen – man hofft wahrscheinlich auf einen weiteren Anlass zum Begehen eines Gedenktags – dass sie einfach nicht oft genug sterben, sich dagegen zu sehr und zu gut darauf eingestellt haben zu überleben, im Konflikt auf unfaire und unlautere Mittel zurückgreifen, die sie damit von den begrenzten Mitteln ihrer Angreifer abheben, um ihr eigenes Überleben sicherzustellen. So haben sie in Reaktion auf die Zweite Intifada 2000, als Reaktion auf Terroranschläge aus der Westbank also, mit dem Bau der Sperranlagen, der Mauer, erst begonnen. Zudem investierten sie, als Reaktion auf andauernde Raketenbeschüsse, in eine Luftabwehranlage, den Iron Dome. Der Vorwurf ist, dass der Staat Israel sich ein Raketenabwehrsystem zum Schutz der eigenen Bevölkerung leistet, während die hochsubventionierte Hamas ihre Bevölkerung für Special Effects verheizt? Mit welcher Begründung? Dass die Waffen des Gazastreifens schlecht sind? Dass gefälligst ausgeglichen oft gestorben werden soll? Dass gefälligst alle gleich schlechte Waffen haben sollten? Dass gefälligst beiden politischen Vertretungen die eigene Bevölkerung egal sein sollte? Ist eine strenge Kontrolle des Personenverkehrs an der Grenze eine disproportionale Reaktion auf Terroranschläge? Man weiß es einfach nicht. Seit Staatsgründung verzeichnete Israel über 1.600 Terroranschläge. Die Frage ist, ab wie vielen jüdischen Opfern wäre die Frage der Disproportionalität gelöst? Wie wäre es mit 6 Millionen? Wie wäre es mit 900.000 vertriebenen Juden aus den arabischen Ländern und der muslimischen Welt?

Disproportionalität. Wie wäre es mit einer Kriegserklärung gegen Israel einen Tag nach Ausrufung des Staates, durch fünf arabische Armeen, mit dem expliziten Ziel der Auslöschung aller Juden auf dem Gebiet des neuen Staates? Einer Kriegserklärung gegen das einen Tag alte Land ohne Heer, das nur mithilfe von paramilitärischen Gruppen siegte? Wie wäre es mit 103 Verurteilungen Israels vor dem UNO-Menschenrechtsrat zwischen 2006 und 2023, einem Rat in dem Saudi-Arabien 2015 den Vorsitz hatte? 2022 belief sich die Zahl der Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen gegen Israel auf 15, der Rest der Resolutionen wurden gegen 13 weitere Länder (je eine Resolution pro Land, bis auf Russland mit 6 Resolutionen) verhängt. Zu den Ländern zählten u. a. Nordkorea und Afghanistan.

Reden wir über Disproportionalität. Im Mai 2023 feuerte der Palästinensische Islamische Jihad 104 Raketen nach Israel, worauf Israel Luftangriffe flog, was wiederum zum Abschuss von 400 Raketen gegen Israel führte. Die Tagesschau kommentierte dies folgendermaßen „Aus Gaza sollen rund 400 Raketen auf Israel abgeschossen worden sein – als Reaktion auf die Luftangriffe.“ Disproportionalität. Ab wie vielen Raketen wäre ein Luftangriff Israels gerechtfertigt? Ab wie vielen israelischen Opfern wären Luftangriffe auf Hamas in Gaza gerechtfertigt?

Oder wollen wir über die Disproportionalität der Analogien sprechen? Was ist zum Beispiel Genozid? Und wie kann man einen jahrzehntelangen Genozid mit einem jährlichen Bevölkerungswachstum von 2,8% im Gazastreifen beschreiben? Als mäßig erfolgreich? Was ist nochmal ein Konzentrationslager? Was bedeutet Apartheid? Was Kolonialismus, Imperialismus, Nazismus, Faschismus? Wissen wir das? Gibt es dazu historische Forschung? Gibt es für diese Wörter überhaupt Definitionen? Wozu wurde Sprache erfunden? Etwa um zu kommunizieren? Ist es überhaupt noch notwendig, dass wir uns über die Bedeutung von Wörtern einig sind? Sollte es nicht möglich sein, dass man einfach alles mit allem vergleicht und jedes beliebige Wort für jedes beliebige zeitgenössische Phänomen verwendet?

Die UN stimmte nach dem größten Massaker an Juden in der jüngsten Geschichte über eine Resolution gegen Israel ab, damit es zum Waffenstillstand angehalten wird, eine Resolution die den Auslöser des Krieges, Hamas, mit keinem Wort erwähnte. 13 Länder stimmten dagegen.

Proportionalität. Israel ist das einzige Land der Welt, das dafür kritisiert wird, dass es LGBTQ-Rechte unterstützt und eine Gay Pride hat. Das nennt sich dann „Pinkwashing“. Die nicht vorhandenen Rechte von LGBTQ-Personen im Gazastreifen würdigte man zuletzt allerdings mit einer LGBTQ-Palestine-Crossover-Flagge bei einem Pro-Palästinensischen Protest in New York.

Proportionalität. Israel ist doppelt so groß wie Oberösterreich. Proportionalität. Ein jüdischer Staat weltweit. 50 muslimische Nationen weltweit. Juden machen 0,19% der Weltbevölkerung aus. Das sind 15 Millionen. Ca. 7 Millionen leben in Israel. 21% von Israels Bevölkerung sind muslimische Araberinnen, 5% gehören anderen Religionen an. Die letzte Zählung ergab dagegen eine Zahl von 13 Millionen Palästinenserinnen weltweit, Tendenz steigend. Warum? Auch weil der Flüchtlingsstatus der Palästinenserinnen vererbt wird. Sprechen wir noch einmal über das Rückkehrrecht? Im Gazastreifen leben keine Juden.

Proportionalität wäre auch gefragt beim Verteilen der Verantwortung. Denn Israel, das seit Jahren den Gazastreifen mit Wasser, Strom und Lebensmitteln versorgt, hat auch in Kriegszeiten das feindliche Gebiet mit Wasser, Strom und Lebensmitteln zu versorgen. Die Nichtlieferung in Zeiten des Krieges sei ein „Versuch den Gazastreifen auszuhungern“. Warum es im Gazastreifen allerdings keine funktionierende Wasserversorgung gibt und was mit den Trinkwasserrohren passiert ist, die vor Jahren aus Israel kamen, bleibt unbeantwortet. Man könnte meinen der Gazastreifen habe nur eine Grenze mit Israel. Wenn da nicht Ägypten wäre. Hungern eigentlich die Ägypter auch die Gazaner aus? Nein, so erfährt man in Diskussionen, denn „die Grenze zu Ägypten ist seit Jahren zu“ und „da bisher Lebensmittellieferungen aus Israel kamen“, war die „Konsequenz der ägyptischen Grenzsperre (…) nie, dass in den Gazastreifen keine Lebensmittel kommen“. Aha. Man könnte sich jetzt vielleicht fragen, ob die Konsequenz aus der ägyptischen Grenzsperre nicht doch ist, dass keine Lebensmittel in den Gazastreifen kommen. Israel hat zwar 2005 den Gazastreifen verlassen, aber: wer einmal liefert, hat eine lebenslange Verpflichtung, selbst im Kriegszustand, selbst wenn es sich um das feindliche Gebiet handelt, wer nie liefert, kann auch nie in der Pflicht sein zu liefern. Nun gut.

Ähnlich verhält es sich mit der Tötung von Zivilistinnen. Wenn Hamas sich hinter Zivilistinnen versteckt und von Krankenhäusern, Schulhäusern, Gebetshäusern aus Raketen schießt, damit also internationales Recht bricht, ist es Israels Schuld, wenn Zivilistinnen sterben, auch wenn Israel das Gebiet bombardiert, weil sich dort Terroristen und Kriegsmaterial befinden und davor Warnungen an die Zivilbevölkerung ausspricht das Gebiet zu verlassen. Wenn diesen Warnungen aus unterschiedlichen Gründen – weil beispielsweise Hamas die Bevölkerung nicht gehen lässt und damit internationales Recht bricht – nicht nachgekommen wird, ist es ebenfalls Israels Schuld. Die Bevölkerung des Gazastreifens verdient also keinen Schutz durch die eigene Führung, dafür soll der angrenzende Staat, mit dem man sich im Krieg befindet, auch Sorge tragen? Der Terrorakt sind nicht die entführten und gemetzelten israelischen Zivilistinnen und der andauernde Raketenbeschuss, sondern der Versuch Israels den Kriegsgegner und seine Waffenlager zu zerstören?

Natürlich ist es nur vernünftig, wenn man vollkommen absurde Dinge von Israel erwartet, die man von keinem anderen Staat der Welt verlangen würde, sich beschießen zu lassen zum Beispiel, seine Bürgerinnen der Metzelei freizugeben, ohne darauf reagieren zu dürfen. Oder die Bewohnerinnen des Gazastreifens – der unter der Kontrolle von Hamas steht – rechtlich genau gleich zu behandeln wie die eigenen Staatsbürger. Dann verfasst man Headlines wie „Israel erwidert trotz neuer Waffenruhe Beschuss aus Gaza“, ohne zu bemerken, dass eine Erwiderung eines Beschusses während eines Waffenstillstands wohl ohne vorangegangenen Beschuss während eines Waffenstillstands gar nicht notwendig gewesen wäre, und ohne sich zu fragen, ob man eigentlich irgendwo angerannt ist. Und wenn man dann doch drauf hingewiesen wird, brüllt man geistesgegenwärtig „Bitte, die unterstellen mir schon wieder Antisemitismus!“ Denn, wie weithin bekannt, ist der Vorwurf des Antisemitismus viel schlimmer als Antisemitismus selbst.

Mit Antisemitismus haben die sich seit dem 7. Oktober häufenden wahlweise „antizionistischen“, wahlweise „israelkritischen“ Ausschreitungen jedenfalls nichts zu tun. Eine Gruppe wahrscheinlich „israelkritischer“ Randalierer hat in Dagestan den Flughafen und ein Hotel gestürmt auf der Suche nach „Israelis“ oder „Juden“, so heikel waren sie dann nicht. Wahrscheinlich um zu diskutieren, man kennt es ja, da kann es schon mal heiß hergehen. Aber Putin weiß mehr. So machte er die Ukraine und den Westen für die Aufstände verantwortlich.

In Istanbul gibt es wieder „israelkritische“ Hinweisschilder auf Büchergeschäften, schön inklusiv gehalten, mit „Jews not allowed“. Der Ladenbesitzer erklärt dies so „Vielleicht hätte es Zionisten oder Israelis heißen sollen, aber ich war wütend und emotional“. Wut und Emotionalität dürften länger angehalten haben, denn das Ausbessern des Schildes ist sich nicht ausgegangen. In Berlin wurden Häuser und Straßen mit Davidsternen beschmiert. In den USA wurde das Oberhaupt der Detroiter Synagoge Samantha Woll wahrscheinlich von einem „Israelkritiker“ erstochen. In London und Sydney riefen „antizionistische“ Pro-Palästina-Demonstranten „Gas the Jews!“. Wiener „Antizionisten“ haben den Vorraum der Zeremonienhalle am jüdischen Teil des Zentralfriedhofs niedergebrannt und Hakenkreuze an die Außenmauern gemalt.

Der gazanische „antizionistische“ Filmemacher Soliman Hijjy postete ein Foto von Hitler in den sozialen Medien und behauptete er befinde sich „in einem ähnlichen Zustand der Harmonie wie Hitler während des Holocaust“. Der „israelkritische“ Vorsitzende des Ausschusses für Nationales Erbe und Kultur des Senats von Pakistan, Afnan Ullah Khan, hat als Reaktion auf die Behandlung der Gazaner durch Israel ein Foto von Adolf Hitler geteilt, mit der Überschrift „Wenigstens weiß die Welt jetzt, warum er getan hat, was er getan hat!“ Die jüdischen Opfer der Vergangenheit sollen damit im Voraus für die Taten der Juden Israels der Gegenwart mit dem Tod bestraft worden sein. Fragt sich nur, warum die präventive Strafe anscheinend noch nicht gereicht haben soll. Der Hamas-Anführer Hamad Al-Regeb hat für die Auslöschung der Juden gebetet, nicht, wegen des Konfliktes um das Land, sondern weil diese „schmutzige Tiere“ seien, „Schweine“ und „Schimpansen“ und laut dem Koran für ihre Sünden büßen müssten.

Antisemiten erkennt man oft daran, dass sie jeden Tag hunderte „israelkritische“ Artikel verfassen und teilen, in großen Tageszeitungen und Verlagen publizieren, dass sie den Vorsitz in transnationalen politischen Organisationen haben und eigene Konferenzen zu ihrem Herzensthema organisieren, dass sie längst dem politischen Mainstream angehören, das aber selbst nicht erkennen mögen, dass sie auf Facebook begeistert Postings kommentieren in denen Wörter wie „hebräisch“, „Israel“ oder „jüdisch“ vorkommen, es dabei aber dennoch schaffen – ohne dabei zu lachen – zu behaupten, „Israelkritik“ sei ein Tabuthema und niemand höre die Stimme der Palästinenserinnen. Sie verfassen Kommentar über Kommentar über Kommentar unter den Social Media Postings von Musikerinnen, Künstlerinnen und inzwischen sogar unter den Reels von Instagram-Z-Promis, und drangsalieren sie dafür, dass sie entweder das falsche, oder gar nichts, oder zu wenig über die Menschen im Gazastreifen gepostet haben.

Am Ende kann man feststellen, dass alle diese Versuche Israel zu dämonisieren Früchte tragen. Dass es wirklich mittlerweile so ist, dass man, egal wo auf der Welt, als Jude in Gefahr ist. Und, dass es dadurch den Menschen in Gaza um keinen Deut besser geht. Oder um es mit den aktuellen Worten eines Vertreters der Hamas im Deutschlandfunk zu formulieren: Auf die Frage eines Korrespondenten, weshalb die Hamas die Tunnel nicht für die eigenen Leute zum Schutz nütze, sagte der Mann von der Hamas: „Die Tunnel sind für uns. Um die Bevölkerung kümmert sich die UNO.“

Ela & Stefan

Dem Elon seine Biographie und das seltsame Gespräch darüber im Spiegel

Walter Isaacson hat eine Biographie über Elon Musk (52) geschrieben. Im Spiegel-Interview spricht er darüber und man kann Erstaunliches erfahren. Isaacson ist, laut Der Spiegel 38, 2023, Geschichtsprofessor an der Tulane Universität in New Orleans und hat dort offenbar so geringe Verpflichtungen an seine Studentinnen, dass er Zeit hat seit Jahren permanent Biographien von berühmten Wirtschaftstreibenden zu verfassen. Dass er 1996 bis 2001 Chef vom Dienst der New York Times, bis 2018 CEO des Aspen Instituts und von 2009 bis 2012 von Präsident Obama als Vorsitzender des Broadcasting Board of Governors eingesetzt war, ist den fleißigen Redakteuren nicht erwähnenswert. Er war also auch 3 Jahre neben seiner Professur für alle internationalen nicht-militärischen Hörfunk- und Fernsehprogramme der Regierung verantwortlich. Eine stolze Leistung. Man möchte fast sagen, Walter Isaacson ist wahrscheinlich ein Genie.

Aber natürlich ist auch das Broadcasting Board eine spannende Angelegenheit: Die offizielle Aufgabe der USAGM ist, Freiheit und Demokratie auf der Welt zu fördern und zu erhalten. Dies soll durch die Verbreitung von korrekten und sachlichen Nachrichten und Informationen über die USA und die Welt an das internationale Publikum umgesetzt werden. Die Sender sind nur im Ausland zu empfangen, da in den USA staatsfinanzierte Inlandspropaganda laut einem Gesetz von 1948 verboten ist.

Also Propaganda für die Änderung der Welt unter der Aufsicht von staatlichen Behörden: Die Rechtsaufsicht über die USAGM liegt beim Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Repräsentantenhauses und beim Ausschuss für Auswärtige Beziehungen des Senats. Die Haushaltsausschüsse beider Häuser des Parlaments sind sowohl für die Mittelbewilligung als auch für die Programmaufsicht zuständig.

Isaacsons Oeuvre umfasst unter anderem Leonardo da Vinci, Henry Kissinger, Benjamin Franklin, Steve Jobs und jetzt Elon Musk. Er bezeichnet jeden einzelnen davon als Genie. Auch wenn ihm zu seinen Protagonisten unterschiedliche Erinnerungen erhalten geblieben sind. Zu Leonardo da Vinci, dem einzigen legitimen Genie in dieser Aufzählung, fällt ihm im Spiegel-Interview nur ein, dass er „schwul“ war. Da kann es schon passieren, dass er in der Biographie über da Vinci diesem Geniekult auf unpassende Weise fröhnt, wie die FAZ damals festhält. Sie schreibt unter anderem: „In dem ‚geradezu peinlich’ berührenden Abschnitt ‚Von Leonardo lernen’ mache er ‚aus Leonardo einen kalifornischen Yogalehrer. ’“ (FAZ 286, 2018)

Um Weisheiten, wie diese zu produzieren, hat er sich für Elon Musks Biographie zwei Jahre Zeit genommen, um sie „an der Seite von Elon Musk“ zu verbringen. Dafür erhielt er, laut devoter Spiegelformulierung „vom reichsten Mann der Welt, Boss von Tesla, SpaceX und Eigentümer von X […] seltene und ungewöhnliche Einblicke in sein Leben“.

Wer hier bereits das Gefühl hat, dass das folgende Gespräch peinlich des Todes wird, hat eine gute Intuition.

Gleich am Anfang erfährt man, wie ein Tag im Leben des Elon aussieht. Er „fängt nicht so früh an, meistens um zehn Uhr“. Das ist doch nett, die Frage brennt natürlich auf der Zunge, ob das für seine Angestellten in den diversen Techkonzernen auch gilt. Also mir. Den Spiegelredakteuren nicht.

Den Rest des Tages lebt Elon den Kommunismus. Nur, dass die berühmte Passage aus der Deutschen Ideologie von Marx und Engels [„in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“] weder dem Geschichtsprofessor, noch den Spiegel-Journalisten bekannt ist, weshalb dieses Pikanterie unkommentiert bleibt.

Jedenfalls steht Musk auf, wann es ihm passt, und dann fliegt er in die Tesla-Fabrik in Austin und widmet sich eine Stunde lang der Lackiererei und erklärt seinen Ingenieuren, wie sie diese beschleunigen können. Danach fliegt er mit dem wartenden Privatjet nach Südtexas zum SpaceX Werk und gibt den dortigen Arbeitern und Angestellten Tipps wie sie die Triebwerke verbessern können. Die Gesichtsausdrücke der professionellen Mitarbeiter während der Belehrung durch den Amateur kann man sich sicherlich vorstellen.

Aber fleißig ist er, das muss man ihm lassen. Den Millionen armen Schweinen gegenüber, die mit ihrem Fleiß diese individual-kommunistische Lebensweise ermöglichen, muss sich Elon nicht solidarisch fühlen. Sein Fleiß ist einfach besser, denn „er konnte sich schon als Kind so sehr auf eine Sache konzentrieren, dass er darin völlig versank. Seine Mitschüler standen dann direkt vor seinem Gesicht, klatschten in die Hände und kamen nicht an ihn ran.“ Was bei Normalsterblichen, aka ökonomisch nicht-privilegierten Menschen, wahrscheinlich zu einer psychiatrischen Diagnose und der damit verbundenen Positionierung am karrieristischen Abstellgleis geführt hätte, wird bei Elon als „extremer Fokus“ verherrlicht, der als Nebeneffekt halt mit sich bringt, dass er ihn „von jeglicher Emotion abschneidet“, „Was ihn oft zu einem ziemlichen Mistkerl macht.“

Wie das zu verstehen ist, klärt sich in der nächsten Antwort des Geniekult-Professors aus New Orleans: „Wenn er nachdenkt, ist es ein Fehler, die Stille zu füllen. […] Es ist sogar gefährlich, diese Stille zu unterbrechen.“ Das hat Isaacson schnell gelernt und sich sofort in die Rolle des Unterworfenen eingefühlt und Elon seinen Ego-Raum gelassen, in dem er oft minutenlang schweigend auf die Antworten des zum Genie verklärten gewartet hat. Eine Rolle, in der man ihn wahrscheinlich während einer Prüfung mit einer seiner Studentinnen an der Universität eher selten gesehen hat. In den Worten des Professors wird aber klar, dass hier nicht nur eine freiwillige Unterwerfung stattgefunden hat, sondern auch eine wahnhafte Übertragung, denn „Dann saß er drei, vier Minuten da und sagte nichts – wie ein Computer arbeitete er nach und nach eine Fülle an Daten ab.“ Hier wird eine vermutlich narzisstische Verhaltensweise als Indikator für Genialität dargestellt. Wo ökonomisch ausgebeuteten Menschen wohl Autismus oder Soziopathie attestiert würde, herrscht hier das Erschauern vor der Macht. Eine Meisterleistung, wie sie wohl nur einem mit allen Wassern der ökonomischen Elite gewaschenen Universitätsprofessor einfallen kann.

Dass Musk in seiner Kindheit durch einen gewalttätigen Vater und unangenehme Camp-Erfahrungen beschädigt wurde, ficht die Theorie, dass seine antisozialen Verhaltensweisen Ergebnis seiner Genialität und nicht einer schweren Traumatisierung sind, für seinen Biographen nicht an. Im Gegenteil es führt zu dem absurden Vergleich, die Beziehung von Elon und seinem Vater sei wie die von Luke Skywalker und Darth Vader. Worauf dann nicht einmal die, ansonsten zu allem bereiten, Journalistendarsteller des Der Spiegel bereit sind einzugehen.

Kurz darauf kommt das Gespräch auf die Twitter-Übernahme und plötzlich geht’s ums Eingemachte. Der Spätaufsteher mit der ADHS-Arbeitsweise ist nämlich dagegen, dass Mitarbeiter Krankenstände antreten können. Beim ersten Besuch in der Twitter-Zentraler störte ihn am meisten, dass es dort Kantinen und gesundheitsfördernde Maßnahmen gab. Vor allem Krankenstände bei psychischen Problemen schließt er für seine Mitarbeiter kategorisch aus. Wahrscheinlich, weil sie ihm selbst am besten täten. O-Ton des Professors: „Er mag es nicht, wenn sich Mitarbeiter psychologisch zu sicher fühlen. Sie sollen Getriebene sein, so wie er.“ Ohne besonderen Anlass hier die Grundmerkmale von Soziopathie: sprunghaftes, impulsives Verhalten, das oft egoistisch und rücksichtslos wirkt, sowie die Unfähigkeit sich in andere hinein zu versetzen.

Dem korrespondiert seine Beziehung zu seinen nächsten männlichen Verwandten: „Sie lieben sich, prügeln sich und treten sich manchmal in die Eier.“ Eine Formulierung, wie sie nur ein wahrer akademischer Forscher entwickeln kann. Und konsequent sagt dieser Erforscher des Musk: „Man kann den Mann, der sich ins Risiko stürzt, nicht von dem trennen, der rücksichtslos mit seinem Mitmenschen umgeht.“

Kollateralschäden sind beim Aufstieg eines genialen Soziopathen halt nicht zu vermeiden. Kann man nix machen. Das macht ihn aber nicht zu einem Genie, so Isaacson. Zum Genie wird er dadurch, dass er „mit 20 Ingenieuren zusammensitzen und visualisieren“ kann, „wie sich der Einsatz von Edelstahl in seiner Starship-Rakete auswirken wird.“ Glaubt der Professor wirklich daran? Wenn ja, handelt es sich dabei um magisches Denken. Also den zwanghaften Glauben einer Person, dass ihre Gedanken, Worte oder Handlungen auf magische Weise ein bestimmtes Ereignis hervorrufen oder verhindern können, wobei allgemeingültige Regeln von Ursache und Wirkung ignoriert werden. Was bei Kindern belächelt und bei ökonomisch nicht privilegierten Erwachsenen zu Kopfschütteln führen würde, führt bei Isaacson zum Urteil Musk sei ein Genie. Dass er nebenbei Autoritäten hinterfragt und an den Verhältnissen rüttelt, ist dabei nicht Ausweis seiner Unreife und Renitenz, wie es das bei einem normalen Arbeiter wohl wäre, sondern eine Heldentat. So wie folgende Heldentat: zu der Frage, ob sein Tesla Autopilot an einem Stoppschild halten soll, sagt Musk in der Erinnerung von Isaacson: „Das ist bescheuert. Menschen machen das auch nicht.“ „Er ignorierte also einfach die Verkehrsregeln. Für manche macht ihn das zum Helden.“ Ein Held der die Straßenverkehrsordnung ignoriert, kann auch zum Mörder werden, wenn daraus ein vermeidbarer Unfall entsteht.

Ein solcher Held kann sich mit Lappalien nicht abgegeben. Das 12.000 Dollar teure Full Self Driving System in seinen Autos ist etwa alles andere als selbstfahrend. Da bleibt sogar dem wohlmeinenden Reporter des Der Spiegel der Mund offen: „Das ist doch ein Bluff.“

Die verblüffende Antwort darauf zusammengefasst. Ja schon, aber er darf das und überhaupt ist es kleinlich einem Großdenker so eine Kleinigkeit vorzuwerfen. „Er ist fixiert auf große Zukunftsvisionen.“ Eine „Realitätsverzerrung“, wie auch der Professor zugibt, aber ohne sie, wie er gleich hinzufügt, wäre Musk nicht so erfolgreich.

Wie erfolgreich er im Privatleben ist, kann man der Schilderung des nächsten biographischen Sachverhalts entnehmen, bei dem von Seiten Isaacsons, mehrere politisch inkorrekte Invektive zum Einsatz kommen, die vom Spiegel unkommentiert stehen bleiben. Es geht darum, dass sich Elon in den letzten Jahren politisiert hat. Grund dafür scheint für den Biographen die „Transition seiner Tochter Jenna“ zu sein. „Mehr als die Geschlechtsangleichung traf ihn die Tatsache, dass Jenna in dieser Zeit auch Marxistin wurde. […] Er begann zu glauben, dass sie sich mit dem woken Gedankenvirus infiziert und ihre Schule sie linksradikal gemacht hatte.“ Marxismus, woker Gedankenvirus, Schule, Linksradikalität. Die Reizwörter der rechten Wutbürger. Strohmänner für die Spiegelgefechte der Reaktionären. Der Spiegel schweigt dazu.

Konsequent in seiner Widersprüchlichkeit unterstützt Elon natürlich politische Kandidaten „die gegen das Establishment sind“. Dass der Spiegel darauf ausnahmsweise gekonnt ironisch hinzufügt, dass Musk nicht nur „der reichste der Welt, sondern auch einer der mächtigsten“ ist, und somit, wenn man diesen Gedanken einfach mal ausspricht, zum Establishment gehört, erschüttert den genialen Biographen in keiner Weise.

Dass er nebenbei selbstherrlich Weltpolitik betreibt und etwa der ukrainischen Armee Zugang zu Satellitendaten gewährt oder verweigert, wie es ihm passt, dass er laut seiner Aussage mit Putin persönlich telefoniert und einen Friedensplan für Taiwan vorgelegt haben soll, zeigt nicht etwa Größenwahn, sondern, dass er sich selbst als „großen, weltgeschichtlichen Charakter“ sieht, der aber nach wenigen Jahren begriffen hat, „dass der globale Friedensstifter keine passende Rolle für ihn ist“. Wieder ein Hinweis auf die Aufmerksamkeitsspanne dieses Genies. Weltfrieden ist entweder in zwei Jahren zu erreichen oder einfach gar nicht. Und dann beschäftigt man sich halt mit etwas anderem. Mit was, diese Frage bleibt offen. Hoffentlich nicht mit dem Gegenteil von Weltfrieden, denn davon hatten wir im Interesse des großen Kapitals bereits genug.

Egal, wie das politische Abenteuer für Musk weitergeht, es bleibt jedenfalls spannend, denn er „hat eine düstere Weltsicht“ und „liebt Drama“, „er denkt ständig an den Weltuntergang“ genau was der menschlichen Geschichte noch gefehlt hat: Ein Mannbaby mit Weltuntergangsfantasien.

Das Subjekt im Netz

Ein Gespräch mit Nivine El-Aawar.

Stefan: Luke Munn schreibt Algorithmen verfügen über eine politische Qualität. Erst einmal erzeugt, gestalten sie von selbst unsere politischen Agenden mit. Virginia Eubanks zeigt in ihrer Studie „Automating Inequality“, wie Algorithmen im Versicherungswesen in den USA eine diskriminierende und Armut verstärkende Wirkung haben. Sie fürchtet, dass die damit verbundenen Mechanismen des „red flagging“ Arme kriminalisieren und digitale Armenhäuser erzeugen könnte.

Nivine: Dem würde ich zustimmen. Algorithmen reproduzieren soziale Ungleichheiten. Dies ist der Fall, da personenbezogene Daten verarbeitet werden, welche die Interessen und Vorlieben der Nutzer*innen darstellen. Im Sinne von Bourdieu spiegeln diese den Habitus wider, welcher die soziale Position von Individuen darstellt. Wenn nun also quasi ein „digitaler Habitus“ von Algorithmen in Form von digitalen Nutzer*innenprofilen kreiert wird und dann genutzt wird, um Inhalte, wie Videos, personalisierte Werbeanzeigen, Nachrichten etc. zu kuratieren, können Algorithmen soziale Ungleichheiten nicht nur reproduzieren, sondern diese auch verstärken.

Ela: Eine Studie von 2020 (Silvia Milano, Mariarosaria Taddeo & Luciano Floridi) mit dem Titel „Recommender systems and their ethical challenges“ hat sich mit einigen Problemen im Zusammenhang mit Algorithmen befasst. Wie du bereits gesagt hast: Wenn die Klassifizierung durch den Algorithmus für die Erstellung der Nutzermodelle auf Grundlage der gesammelten Nutzerdaten basiert, werden soziale Kategorien reproduziert.

Außerdem sind Empfehlungssysteme im Zusammenhang mit Nachrichten und sozialen Medien so konzipiert, dass Nutzer*innen in ihren Filterblasen „gehalten“ werden, also sie kommen gar nicht dazu sich mit anderen Standpunkten auseinandersetzen zu müssen, sondern werden geradezu mit immer ähnlichem Content und gleichartigen Meinungen zugespammt. Bereits vorhandene Vorurteile werden dadurch verstärkt.

Zudem sind solche Algorithmen für politische Manipulation anfällig, da besonders aktive Nutzer*innen bzw. jene mit einer besonders großen Anzahl an Follower*innen die öffentliche Meinung beeinflussen können, indem sie starke positive Rückkopplungen im System erzeugen – was dazu führt, dass ihr Content besonders häufig empfohlen wird.

YouTube arbeitet ja auch so. Der ehemalige YouTube-Mitarbeiter Guillaume Chaslot hat eine Software geschrieben, um einen Einblick in die Empfehlungsmaschinerie von YouTube zu geben. Sie simuliert das Nutzer*innenverhalten und zeichnet Daten darüber auf, welche Videos von YouTube empfohlen werden, um im Endeffekt die „Vorlieben“ des Algorithmus abzubilden. Chaslots Untersuchungen legen nahe, dass YouTube systematisch Videos vorschlägt, die polarisierend, sensationslüstern und verschwörerisch sind.

Die Soziologin Zeynep Kufekci geht davon aus, dass YouTube mit Verschwörungscontent seinem Ziel der Verlängerung der Verweildauer seiner Nutzer*innen effizienter näherkommt, weshalb der Algorithmus solchen Content bevorzugt. „Die Frage“, so Kufekci, sei „ob es ethisch vertretbar“ sei, dies auch zu tun, „nur weil es funktioniert“.

Ähnliches hat die Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen 2021 über die Social Media Plattformen Instagram und Facebook verlauten lassen. 2017 hat Facebook eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, um herauszufinden, ob die Maximierung der Nutzer*innenaktivität zur politischen Polarisierung beiträgt. Man kam zum Ergebnis, dass es einen Zusammenhang gebe, aber eine Verringerung der Polarisierung hätte einen Rückgang des Nutzer*innen-Engagements bedeutet. Lösungen wie die Optimierung der Empfehlungsalgorithmen stellten sich als „wachstumsfeindlich“ heraus und wurden nicht weiterverfolgt.

Stefan: Rebecca Giblin und Cory Doctorow schreiben, dass der Online-Werbemarkt ein Betrugskonzept ist. Denn was schließlich darüber entscheidet, ob etwas überhaupt gesehen wird, ist nicht die Werbung, sondern Algorithmen. Das Datensammeln hilft nicht unbedingt beim Anpreisen von Waren. Um John Wanamaker, den ehemaligen Postminister der USA und Erfinder der modernen Werbung, zu zitieren: „Half the money I spend on advertising is wasted; the trouble is, I don’t know which half.“

Aber um das richtig verstehen zu können müsste man mal einen Schritt zurücktreten. Was sind Daten und wie verwandeln sich Daten in Ressourcen?

Nivine: Daten können allgemein als logisch geordnete Informationseinheiten bezeichnet werden, welche meist aus Codes bestehen und Symbole, Zahlen sowie Buchstaben kombinieren. Erst die IT-Systeme können diese Codes auswerten und somit die Daten verarbeiten.

Dabei ist zu betonen, dass es sich bei Debatten zum Thema Digitalisierung meistens um personenbezogene Daten handelt. Darunter werden einerseits sowohl sozioökonomische Daten als auch solche verstanden, welche individuelle Meinungen in Form von Beiträgen, Likes und Kommentaren darstellen. Außerdem fallen Verhaltensdaten, wie Suchanfragen und Metadaten, also Informationen über den Standort, unter den Begriff der personenbezogenen Daten.

Mithilfe von Datenanalysen und künstlicher Intelligenz werden sogenannte „prediktive Analysen“ durchgeführt, wodurch Vorhersagen über menschliches Verhalten getroffen werden können. Diese Vorhersagen haben zu einem sehr profitablen Markt geführt – vor allem für Plattformunternehmen wie Instagram und TikTok. Diese Unternehmen profitieren nicht nur davon, dass individuelles Verhalten vorherbestimmt werden kann, sondern auch davon, dass sich Gedanken und Verhalten aktiv beeinflussen lassen. Die Nutzer*innen werden zu transparenten Individuen, welche sich oftmals – ohne es zu wissen – in einer digitalen Sphäre befinden, welche aus ihnen Waren und Konsument*innen zugleich macht. Wie bereits Shoshana Zuboff 2018 in ihrem Buch „Überwachungskapitalismus“ beschreibt, werden menschliche Erfahrungen zu Rohstoffen für Verhaltensdaten, die es Unternehmen ermöglichen Profite zu generieren.

Dabei werden die Online-Welten von Algorithmen dominiert, indem sie die Plattformen strukturieren und deren Inhalte kuratieren. Besonders die Personalisierungsmechanismen gehen mit diversen Gefahren, wie Radikalisierungstendenzen, Überwachungsmechanismen, Intransparenz und Manipulation im Sinne der Wirtschaft einher.

Stefan: Bei Shoshana Zuboff, auf die du vorher schon hingewiesen hast, gibt es den Begriff des „Verhaltensmehrwerts“. Dieser wird im Fall von Google aus „surveillance asstes“ gewonnen aus denen „surveillance revenues“ erzielt werden, die in einem letzten Schritt in „surveillance capital“ verwandelt werden. Umso mehr die algorithmischen Maschinen an Verhaltensmehrwert konsumieren, umso präziser werden sie mit der zukünftigen Ausbeutung davon. Was macht das Datensammeln, Stichwort Big Data, mit uns und was ist algorithmische Personalisierung?

Nivine: Bei Algorithmen handelt es sich um programmierte Mechanismen, die mit Hilfe von Such- und Sortiervorschriften anhand von Datensätzen Interessen und Vorlieben erkennen können und daraus Wahrscheinlichkeiten und Folgerungen ableiten können. Genauer beschrieben sucht ein Algorithmus Datensätze und verknüpft diese miteinander, wodurch sich Entscheidungsempfehlungen ableiten lassen.

Das Ziel von Unternehmen ist es, mithilfe von Algorithmen einen individuellen Markt für die Nutzer*innen zu schaffen. Individuen erhalten personalisierte Inhalte, wodurch Unternehmen ihre Profite vergrößern können. Das Verhalten von Individuen wird also von Algorithmen verarbeitet, welche lernen die Interessen und Vorlieben der Nutzer*innen zu erkennen und kategorisieren. Ein besonders prägnantes Beispiel stellt der Algorithmus von TikTok dar, welcher die Startseite, die sogenannte „For You Page“ kuratiert. Hierbei haben Studien gezeigt, dass TikToks Algorithmus so leistungsfähig ist, dass er in der Lage ist, die Vorlieben und Interessen der Nutzer*innen in weniger als 40 Minuten zu erlernen.

Algorithmen strukturieren somit mithilfe von personenbezogenen Daten nicht nur die digitale Sphäre, sondern zunehmend das menschliche Leben als Ganzes.

Ela: 2021 wurde ein Dokument geleakt, das als „TikTok Algo 101“ betitelt war. Das „ultimative Ziel“ von TikTok ist die tägliche Vergrößerung der Zahl der aktiven Nutzer*innen. Deshalb hat man sich entschieden, den Videostrom auf zwei Messgrößen festzulegen: „Retention“, ob der Nutzer wiederkehrt, und „Verweildauer“. Ziel ist es die Nutzer*innen so lange wie möglich auf der Plattform zu halten, sie also im Endeffekt abhängig zu machen. Ich glaub man kann auch hier – wie bei YouTube, Facebook, etc. – davon ausgehen, dass man mit kontroversen Inhalten eher die Leute zum Dableiben anregt. Es geht eben um Profit.

Stefan: Was ist ein digitales Subjekt?

Nivine: Die digitale Sphäre, insbesondere soziale Medien, können als ein sozialer Raum verstanden werden. In diesen sozialen Räumen verbringen die Nutzer*innen ihre Zeit und interagieren mit der Plattform und anderen Nutzer*innen. In diesem Zusammenhang können digitale Subjekte identifiziert werden. Als digitales Subjekt kann eine Person beschrieben werden, die aus Daten, Profilen und anderen digitalen Aufzeichnungen besteht. Das digitale Subjekt unterscheidet sich vom lebenden Selbst, knüpft aber an die Subjektivität der lebenden Person an. Digitale Subjekte können als neue Formen der Subjektkonstruktion gesehen werden, die auf computergestützten Prozessen in der digitalen Sphäre basieren.

Stefan: Das klingt noch ein wenig abstrakt. Die Geschichte des Subjektbegriffs verweist auf den Herrschaftszusammenhang und heute besonders auf das Kapitalverhältnis. Der Subjektbegriff ist notwendig eng an die materiellen Verhältnisse gebunden oder er wird unklar. Zunächst einmal entsteht mit dem Subjekt auch die Herrschaft. Bei Althusser wird das Individuum zum Subjekt indem es in eine bestehende Struktur eingefügt wird. Michel Foucault bezeichnet es als Einfügung in eine Ordnung.

Aber es geht bei der „Subjektivierung“ auch um einen Wahrnehmungsprozess. Bei Marx erscheint das freie Individuum als Teilnehmendes am Produktionsprozess und Warentausch. Erst im Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft kann sich das Individuum wirklich vereinzeln. Dabei verliert es aber zugleich die bewusste Wahrnehmung, die ein Sklave, Leibeigener oder Adliger noch haben musste: Dass seine gesellschaftliche Position von äußeren Zwängen mitbestimmt wird. Wir sind uns in dem Maß unseres gesellschaftlichen Zusammenhangs nicht mehr bewusst, indem wir scheinbar von den Zwängen der Gesellschaft befreit werden. Im digitalen Bereich erscheint dieser Sachverhalt noch diffuser.

Vielleicht wäre es also gut, diesen Subjektbegriff ein wenig zu konkretisieren.

Nivine: Der Subjektbegriff im Kontext des Digitalen ist sehr komplex, besonders im Kontext von Machtverhältnissen. Prinzipiell wird in den wissenschaftlichen Debatten nicht mehr zwischen der analogen und der digitalen Sphäre/Subjekt unterschieden. Mit dem digitalen Subjekt ist in diesem Kontext jedoch gemeint, dass die Plattformen Informationen über die Nutzer*innen in Form von Daten sammeln. Aus diesen Informationen werden Profile generiert, welche „digitale Subjekte“ darstellen. Diese Profile sind entscheidend für profitorientierte Strategien der jeweiligen Plattformunternehmen. Damit einher gehen asymmetrische Machtverhältnisse. Dies hat unterschiedliche Gründe. Ein entscheidender Grund ist jedoch die Informationsasymmetrie. Unternehmen wissen nahezu alles über die Nutzer*innen, für die Nutzer*innen sind die digitalen Infrastrukturen, besonders die Algorithmen, jedoch eine Black-Box. Besonders aus der Intransparenz der Algorithmen ergeben sich große Manipulationspotentiale im Sinne der Wirtschaft. Daher kann in diesem Rahmen sicherlich mit Foucault argumentiert werden, dass sich Subjekte „in eine Ordnung einfügen“. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht, dass besonders soziale Medien rein von den Unternehmen kontrolliert werden und somit einen Raum darstellen, der rein wirtschaftsbasiert funktioniert.

Um die Fragen zu beantworten, wie genau die Subjektivierungsprozesse im Digitalen aussehen, was daran neu ist und inwieweit neue theoretische Ansätze dafür benötigt werden, braucht es weitere Forschung. Dies ist besonders wichtig, um zu verdeutlichen, dass es sich bei der digitalen Sphäre nicht um einen freien und neutralen Raum handelt, in dem unabhängig von der gesellschaftlichen Position und sozioökonomischen Situation „alles möglich ist“, wie es uns die Unternehmen weismachen möchten.

Stefan: Der Begriff des Profils stammt übrigens aus der Kriminologie. Ein Profiler ist einer, der einen Tatort analysiert und aus den dort auffindbaren Spuren ein Profil erstellt, aus dem dann abgeleitet werden kann, wie sich der Täter in Zukunft verhalten wird. Wo die nächste Tat stattfindet, oder was seine Motive für die Tat sein könnten. Das wir ein solches „Täterprofil“ mittlerweile freiwillig anlegen, ist eine interessante Entwicklung.

Ela: Das ist lustig, meine ersten Erfahrungen mit den sozialen Medien hab ich damals bei uboot.com gemacht, und bei fm4, da gabs diese Profilseiten. Da hat das angefangen mit dieser „Offenbarungswut“, aber ich denke, dass das auch viel damit zu tun hatte, dass die durchschnittlichen Nutzer*innen da zwischen 15 und 20 waren. Da hat man dann so Sachen ins Profil geschrieben wie Spitznamen und Songzitate, Buchzitate usw. Da hat das angefangen mit der Selbstkategorisierung, was sicher auch dem geschuldet war, dass man eben für andere Nutzer*innen gleich kurz und knackig Hinweise sähen wollte, auf welcher Seite man steht, was man für Musik hört, etc., da ging es eben auch um Abgrenzung, damit man nur mit solchen in Kontakt kommt, die für einen interessant sein könnten. Das ist ja bis heute so, nur dass das eben inzwischen von Algorithmen übernommen wird.

Stefan: Da entstehen Bubbles und Echo-Kammern. Selbstverstärkende Meinungsräume. Eine Meisterklasse in der möglichst verkürzten Meinungsäußerung ist TikTok. Was macht man auf TikTok?

Nivine: In den letzten Jahren hat die chinesische App „TikTok“ internationale Popularität erlangt. TikTok ist eine Kurzvideo-App, die Videos mit einer Länge zwischen 15 und 60 Sekunden enthält. Vor allem durch die Ausrichtung auf Jugendliche dominierte die App den Teenager-Markt und wurde zu einer viel genutzten App, mit mehr als 1 Milliarde Nutzer*innen.  Zudem führte der Ausbruch von Covid-19 zu einem rasanten Anstieg der Nutzer*innenzahlen. Die App basiert auf dem schnellen Konsum von Videoinhalten und ermöglicht es den Nutzer*innen, eine Vielzahl von Funktionen wie Filter, Hashtags, Musik und Videobearbeitung zu nutzen, was die Erstellung von Inhalten aufgrund der einfachen Nutzung fördert. TikTok prägt mittlerweile die (Pop-)kultur, der jüngeren Generationen, durch virale Trends, wie Tanzvideos, Fashion-Trends, aber auch politische Diskurse. 

Ela: Apropos Covid und Trends. Eine TikTokerin hat 2020 die Idee gehabt, man könnte sich ja als Symbol der „Einheit“ und „Rebellion“ gemeinsam ein Tattoo stechen lassen, ein Z, mit einer horizontalen Linie durch die Mitte, das für Generation Z stehen sollte. Dieser Trend kursierte unter dem Hashtag #GenZTattoo. Mehrere Userinnen kamen diesem Vorschlag gerne nach, bis andere begannen darauf hinzuweisen, dass das Symbol eine verdächtige Ähnlichkeit mit der Wolfsangel habe, die von einigen SS-Divisionen verwendet wurde, sowie noch heute als Symbol der Wehrhaftigkeit bei Rechtsextremen gern in Gebrauch ist. Nachdem die Starterin des Trends Todesdrohungen bekommen hat, hat sie ein Entschuldigungsvideo gepostet und Merchandising mit dem Z aus ihrem Etsy-Shop entfernt.

Ebenfalls 2020 haben K-Pop-Stans zahlreiche freie Tickets für Donald Trumps Rally in Tulsa, Oklahoma, reserviert, und damit potenziell die Zuschauerzahl beim Event dezimiert. Der Twitteraccount @TeamTrump hatte davor seine Anhängerinnen gebeten sich für freie Tickets bei der Rally zu registrieren, was von den K-Pop-Stans fleißig geteilt wurde und sich schließlich auch auf TikTok verbreitete. Die meisten Userinnen löschten ihre Tweets und TikToks nach einem Tag, um das Vorhaben geheim zu halten. Bei einer Kapazität von 19.000 Zuschauern wurden beim Event nur 6.200 Tickets vor Ort gescannt.

Stefan: Aber TikTok ist nicht nur politisch, sondern betrifft auch unser Selbstbild.

Ela: Eine Studie von 2022 mit 778 jungen amerikanischen Collegestudentinnen hat ergeben, dass die Nutzung von TikTok indirekt mit der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper zusammenhängt, dass diese den Vergleich des eigenen Aussehens nach oben hin und eine stärkere Überwachung des eigenen Körpers befördert, und das auch bei Nutzerinnen die ein hohes Maß an Medienkompetenz vorwiesen und Inhalte konsumierten, die Körperakzeptanz und Body Positivity behandelten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die regelmäßige und konsequente Nutzung von TikTok dem Körperbild von Frauen schaden kann, und dass Frauen mit einem höheren Maß an Körperakzeptanz und Kritikfähigkeit sowie an Medienkompetenz für diese negativen Auswirkungen am anfälligsten sein könnten.

Stefan: Die Medienwissenschaftlerin Stine Lomborg setzt sich mit den materiellen Grundlagen des digitalen Trackings auseinander. Web-Cookies oder sensorbasierte Technologien werden dazu genutzt digitale Funktionen und Dienste etwa auf Plattformen zu optimieren. Sie dienen aber auch der Überwachung der Generierung von Daten zum Trainieren von maschinellen Lernmodellen und anderen Entwicklungen in der KI.

Die potentiellen negativen Folgen des Trackings sind für sie äußerst dystopisch. Sie sagt, wir opfern das Recht, frei über unsere eigene Zukunft zu entscheiden. Gerade vulnerable Gruppen nehmen durch Tracking mehr Schaden als andere. Einwanderer werden ins Visier genommen und ihre Zukunft von den gewonnenen Erkenntnissen abhängig gemacht. Umfassende digitale Erfassung ist für Lombog eine infrastrukturelle Macht, die liberale Werte wie Gleichheit und Autonomie gefährdet und unsere Gesellschaften einem abstrakten Wandel unterzieht.

Wenn ich das höre, frage ich mich wovon wir ausgehen können. Sind diese liberalen Werte überhaupt so weit verwirklicht, dass wir uns über ihren Verlust Gedanken machen müssten? Oder anders gefragt können wir sie leben, wenn sich die Subjektivität in den digitalen Bereich verlagert? Und wie sieht das aus?

Daran anschließend: Ist eine digitale Subjektivierung wünschenswert? Wenn ja, wie wird sie sich auf die analogen Individuen auswirken. Wenn nein, was sind die Widerstandsmöglichkeiten dagegen? Und wie sinnvoll ist es überhaupt sich zu wehren?

Nivine: Ob eine digitale Subjektivierung wünschenswert ist oder nicht, ist eine berechtigte Frage. Die Tatsache ist jedoch, dass sich die Sozialisationsprozesse, besonders von jüngeren Generationen bereits zu einem Großteil in das Digitale verlagert haben. Es kann sogar von einer digitalen Vergesellschaftung gesprochen werden. Diese digitale Subjektivierung wird auch in Zukunft nicht verschwinden, sondern im Gegenteil immer ausgeprägter und relevanter werden

Die aufgeführten Trends und Debatten auf TikTok haben gezeigt, dass gesellschaftspolitische Debatten digital geführt werden können, dass Standards über Körper digital diskutiert werden, dass digitales Tracking an Ländergrenzen genutzt wird. Diese Entwicklungen sind größtenteils von Unternehmen, welche die Technologien und Infrastrukturen zur Verfügung stellen, dominiert. Die Frage ist jedoch, wie gehen wir damit um? Wie können Kinder und Jugendliche schulisch digitale Kompetenzen lernen, in denen sie über die Gefahren aufgeklärt und sensibilisiert werden? Was muss die Politik tun, um schnell auf Entwicklungen reagieren zu können? Und wie können die negativen Auswirkungen minimiert werden? All diese Fragen werden in den nächsten Jahren geklärt werden müssen.

Stefan: Die Frage ist sicherlich auch, was machen wir mit Körperbildern, die gar nicht mehr von menschlichen Körpern geprägt werden, sondern von Deepfakes. Ich sehe in meiner Facebook-Timeline immer öfter so genannte Celebrity Deepfakes. Wo also die Gesichter von berühmten Schauspielerinnen oder Sportlerinnen (fast immer sind es übrigens Frauen) auf meist vereinheitlicht überproportionierte Körper montiert werden. Und von den Kommentaren kann ich sagen, dass tausende Männer bereit sind diese Körperbilder sofort ohne Ironie zu akzeptieren.

Ela: Ja, aber dass es da irgendwie einen Hang gibt unrealistisches Zeug aus dem Internet gut zu finden, ist ja auch nichts neues, das kennen wir ja schon von Pornografie. Und das sind dann wahrscheinlich dieselben, die in Pseudodiskussionen auf Social Media behaupten, dass Body Positivity so überhandnimmt, und dass man über Frauenkörper gar nichts mehr Negatives sagen darf, während man sich über Leonardo DiCaprios Dad Bod ganz offen lustig machen darf. Dann frag ich mich aber, wann haben wir je aufgehört uns über Frauenkörper lustig zu machen? Weil es jetzt ein paar Hansln gibt, die versuchen mit übertriebener Body Positivity dagegen zu steuern, kann man doch noch lange nicht davon reden, dass das irgendwie ein gesamtgesellschaftlicher Trend ist, dass Frauen öffentlich fett sein dürfen und dass es Konsequenzen für Bullys gibt.

Stefan: Das Subjekt hängt im Netz seiner eigenen Klischees und der Imperative, die ihm das Kapitalverhältnis ständig vorhält. Davon kann sicherlich auch Elon Musk ein Lied singen, wenn er sich angesichts des gefrorenen Kopfes von Peter Thiel fragt: „Subjekt oder nicht Subjekt?“

Wos an Weana Jogger olles en s Gmiat geht, wenn er nach Sechsuhrdreissig am Donaukanal joggen geht.

Der eine Jogger, der grad gehend sein Päuschen macht und genau, wenn er überholt worden ist beschließt, dass er jetzt auch weiterläuft, und dann 2 Kilometer lang genau 1,5 Meter hinter einem bleibt beim Laufen.

Die Karawane der Aufräumer der MA42, die mit bis zu drei Geländewagen hintereinander den hinterlassenen Müll vom Vorabend wegräumen und dabei den Inhalt von tausenden Bierdosen mit dementsprechender Geruchsentwicklung über den Asphalt verteilen. Vom notwendigen stop-and-go Verkehr den das mit sich bringt gar nicht zu reden, der einen, wenn man Pech hat über Kilometer verfolgt.

Die Trotteln, die ihre Bierdosen einfach am Gehweg stehen lassen.

Die deppade Lokale, die alles zugebaut habe und den Biertrinkern überhaupt erst die Idee gegeben haben am Boden zu saufen, statt in der Wiese oder auf der Parkbank.

Die deppade Stadt Wien, die den Donaukanal verpachtet hat.

Die Besitzer von großen erlebnisorientierten Hunden, die vom Anleinen ihrer Schützlinge auf schmalen Kanalpromenaden absolut nichts halten.

Der Kranbaumeister, der findet, drei Meter breite Kanalpromenaden sind super viel Platz um den wackligen grünen Kran in die richtige Position zu manövrieren der ständig Richtung Boden schwankt.

Der LKW von der MA48, der die Misktübeln die nicht in die Jurisdiktion der MA42 fallen ausleert, aber von der Bauart her einfach zu breit für die Kanalpromenade ist und deshalb durchs Gebüsch überholt werden muss.

Die Rudeln kleiner Hunde, die jeden Menschen, der sich schneller bewegt als ihre Herrln und Fraueln

als Gefahr wahrnehmen und ohrenbetäubend verbellen.

Die eine Hundebesitzerin, die ihren jungen Mischling mit der langen Leine führt, aber irgendwie nie bemerkt, dass sich die über den ganzen Gehweg spannt.

Das Oarschloch, dass dem seit Monaten bei den brutalistischen Betonbrückenpfeilern schlafenden Sandler in der Nacht den Rucksack gefladert hat.

Die zwei völlig besoffener Hipster-Buben, die ohne jegliche sichtbare andere Ausrüstung, in gigantischen Bermuda-Badehosen am Kanal stehen und sich lachend gegenseitig in die Brühe stoßen. Wo man dann gezwungenermaßen stehen bleibt und schaut, ob sie wieder rauskrabbeln.

Der eine Wiener Jogger, der bewusst erst nach 06:30 am Donaukanal laufen geht, damit er beim Heimkommen das Facebook vollsudern kann.