Die Welt vom Kopp auf die Füße

Wozu verwendet man einen taktischen Kugelschreiber? Was ist ein Nessmuk? Und weshalb wird der intergalaktische Sklavenhandel von der Antarktis aus abgewickelt?

Wenn diese oder ähnliche Fragen dich noch nie beschäftigt haben, dann liegt das vielleicht daran, dass du noch nie einen Katalog des Kopp Verlages in Händen gehalten hast. Naja, bei mir ist es jedenfalls jetzt so weit, und ich komme aus dem Staunen nicht heraus.

Der Verlags-Katalog ist seit je her eine Enzyklopädie der Aufklärung als Massenbetrug. Der Donauland-Versand-Katalog ist mir aus der Kindheit bekannt. Dort gab es alles und nichts zugleich. Seiten voller Bücher, bunt fotografiert und markig beschrieben, und doch sind letztlich beinahe alle Bücher, die dort einmal bestellt worden sind, irgendwann in die Tonne gewandert. Wo im freien Bücherschrank durchaus Überraschendes entdeckt werden kann – erst gestern eine umfassende Churchill Biographie direkt vor meiner Haustür – herrscht in den großen Versandkatalogen seit Beginn meiner persönlichen Aufzeichnungen vor 35 Jahren planvolle Langeweile.  So wird beim aktuellen Online-Auftritt des Donauland-Katalogs auch nicht mit der Vielfalt an Büchern, oder der Qualität der versammelten Angebote, geworben, sondern mit dem Satz: „Ihre Welt der Vorteile“. Der Donauland-Katalog ist nicht besser sortiert als der Buchhandel, sondern im eigenen Selbstverständnis günstiger und mit mehr Premieren ausgestattet. Was auch immer das genau bedeuten soll.

Auf der Startseite stapeln sich Krimis mit vielsagenden Titeln wie „Die Nacht – Wirst du morgen noch leben?“, „aktuelle“ Biographien („Reserve“ von dem einen Prinzen) und knackige Titel wie „Das inoffizielle Quiz für Potterheads“ – was wohl bedeuten soll, dass es für die Rechte am Harry-Potter-Universe nicht gereicht hat – und „Die 1%-Methode – Das Erfolgsjournal“.

Mit anderen Worten, es ist fad in der Donauland-Welt. Es herrscht gepflegte einlullende Langeweile und eine planvoll eingesetzte Spießigkeit, die einer möglichst breiten Kundschaft gefällig sein soll. Alles klar. Ist ja Kapitalismus. Zielgruppenorientierung ist keine Schande und ein Katalog ist kein Kunstwerk – auch wenn im Hintergrund wahrscheinlich daran gefeilt wird, wie an der Kuppel von Santa Maria del Fiore von Filippo Brunelleschi. Allerdings würde man diese Kuppel heute wohl nicht mehr so bauen wie damals.

Die Theorie Adornos über die Halbbildung besagt, dass Bildung sich mit dem Fortschreiten des Standes der Wissenschaft mitverändert und akkumuliert. Die Mittel zur Naturbeherrschung wachsen an und mit ihnen sowohl die potenziellen Annehmlichkeiten als auch die Anforderungen an die Individuen sich diesen Annehmlichkeiten anzuschmiegen und in ihnen weiterhin der kapitalistischen Verwertung zur Verfügung zu stehen. Durch die Intensivierung kapitalistischer Ausbeutungsprozesse in Begleitung der Digitalisierung werden die objektiven Grenzen des Bildungserwerbs – mittels unzähliger akademischer Titel und sonstiger Lehrgänge – ausgeweitet und zugleich, die dafür zur Verfügung stehende Zeit verkürzt und die Bedeutung der Auseinandersetzung mit Wissen abgewertet. Die Masterminds des Silicon Valley brillieren als Studienabbrecher und verheimlichen in ihren Autobiographien bewusst ihre Herkunft aus den obersten Schichten, ihre Grundausstattung mit ökonomischem und sozialem Kapital.

Bildung erstarrt angesichts dessen zu einem abstrakten Ideal mit totalitärem Potential. Den Individuen wird die Pflicht angetragen über vieles informiert zu sein, ohne ihnen die Möglichkeit einzuräumen dieser nachzukommen. Gesellschaftliche Autonomie erleben nur mehr diejenigen, die es sich ökonomisch leisten können. Bildung ist mittlerweile ökonomisch prekär. Das dazugehörige Mindset ist eines der Halbbildung.

Während der Konsum des Donauland-Katalogs auf eine moderierte Aneignung kanonischer Halbbildung abzielt und damit auf eine gemütliche Anpassung der Individuen an das schal gewordene Bildungsideal, kündigt der Kopp-Katalog Größeres an. Hier gibt es „Bücher, die Ihnen die Augen öffnen“.

Und die gehen schon beim ersten Produkt, das am Titel angepriesen wird, weit auf. Dort ist er nämlich zu bewundern, der Nessmuk. Mit bürgerlichem Namen George Washington Sears, war Nessmuk ein früher Umweltschützer, Kanufahrer und Outdoorfan, der ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben hat. Zurück zur Natur – mit dem Namen eines amerikanischen Ureinwohners. Ironie der Geschichte, dass die letzte des Nipmuc-Stammes amerikanischer Ureinwohner – Miss Mary Jaha – die in ihm als Kind die Faszination für die Wildnis geweckt hatte, im selben Jahr starb, wie er: 1890, am Höhepunkt des sogenannten Ghost Dance War, in dem die Sioux beinahe ausgerottet wurden.

Auf den ersten Seiten des Katalogs geht es dann nicht um die genozidale Romantik des alten nordamerikanischen Westens, sondern um das Überleben in der heutigen Zeit. Es gibt Raketenöfen, Super Pots, Allesbrenner, Petroleumheizungen und Selbstverteidigungsschirme.  Den Sonderpreis von 70 Euro – statt 120 – für einen Regenschirm(!), kann der Koppverlag dadurch rechtfertigen, dass dieser das „Gewicht eines Menschen“ aushält und „Schläge gegen eine Betonwand klaglos weg(steckt), ohne zu splittern oder zu brechen“. Ein Schirm mit dem man Zombies die Schädel einschlagen kann.

Auf derselben Seite befindet sich aber auch der taktische Kugelschreiber. Dieser „macht sich jeden Tag nützlich“. Wodurch? Natürlich durch LED-Leuchte, Glasbrecher und einer Spitze aus vergütetem Stahl, als „Druckverstärker“ für den „Verteidigungsfall“. Wenn dir also das Ausstechen von gegnerischen Augen mit einem herkömmlichen Kugelschreiber nicht ausreicht.

Dann erst geht es mit den Büchern los. Und, wie vermutet, beginnt es mit der Homöopathie. Selbstheilungsbücher mit Titeln wie „Heile dein Gehirn“ und „Mediale Medizin“ füllen dutzende Seiten. Ihre Grundaussage: Jeder Körper hat ein Immunsystem. Wer trotzdem krank wird, soll sich gefälligst selber heilen, denn die Mittel der modernen Medizin sind Teil des Systems, das uns krank macht. Das geht so weit, dass sogar die Optiker ihr Fett wegkriegen, mit den Büchern „Vergiss deine Brille“ und „Wieder lesen ohne Brille“. Mach eine „Neustart für die Augen“ und spar dir das Sehgerät des Kulturfeindes. Brillen tragen nur Marxisten, das weiß jeder. Außer unter Maos Kulturrevolution, da war die Brille Zeichen des Klassenfeindes. Ein echter bäuerlicher Proletarier kam gar nicht dazu schlecht zu sehen, er hatte zu viele Kleinvögel auszurotten – was zu einer Insektenplage führte – und Schmelzöfen in seinem Hinterhof zu betreiben – was zu einer Hungersnot führte.

Vitaminpräparate und Nahrungsergänzungsmittel, Tropfen und Gelee, Pulver und Cremen, Kapseln und Kräuter, ergänzt durch Heilkerzen und das eine oder andere Buch über heilendes Metall – „Heilen mit Gold“ – oder Stein runden dann das Gesundheitsselbstbild der Kopp-Verleger ganz gut ab. Pillen schlucken wollen sie nur, wenn sie erwiesenermaßen keine medizinische Wirkung haben.

Aber wieder zurück zu den Büchern und in die Abteilung Urgeschichte. Kelten und Höhepunkte der prähistorischen Bau- und Ingenieurskunst – Stonehenge – stehen neben neuen Beweisen „für die historische Richtigkeit des Buches der Bücher“ – die Bibel. Die Frage: „Schafft der Papst die Kirche ab?“ ist sicher jedem wichtig, der sich nebenbei noch für nordische Götter, mysteriöse Schamanen und „Das letzte Geheimnis von Mirin Dajo“ interessiert – einem Mann, der nicht blutete, keinen Schmerz empfand und immun gegen Infektionen war, obwohl „er seinen Körper mit Waffen aller Art durchstechen ließ. Quer durch alle Organe.“ Letztlich bezahlte dieser „unverletzbare Prophet“ seinen Versuch „den Dritten Weltkrieg“ zu verhindern, aber doch mit dem Leben. Wahrscheinlich per Säurebad. Sonst fallen mir keine Möglichkeiten mehr ein.

Wenn wir von Geheimnissen sprechen, darf natürlich das Geheimnis der Matrix nicht fehlen. „Der neue Mystery Report“ befasst sich mit weltbewegenden und vor allem ungeklärten Fragen wie: „Wussten Sie, dass immer mehr Sterne an unserem Himmel spurlos verschwinden?“; „Weshalb blickt uns auf einem historischen Gemälde der Matrix-Schauspieler Keanu Reeves entgegen?“; „Wusste Walt Disney mehr über UFOs und die Zukunft als wir?“; „Und was hatten geheimnisvolle Winzlinge in der Alpenwelt verloren, die just dann aus unserer Realität verschwanden, als wir ihnen auf die Schliche kamen?“

Alles – natürlich – berechtigte Fragen. Es gibt ja auch keine dummen Fragen, nur dumme Antworten. Und die gibt es dann in dem Buch über die Geheimnisse der Matrix.

Eindeutig wichtiger als die Geheimnisse der Matrix zu ergründen, ist aber, dass die Antarktis „seit 65 Jahren“ ein „politisches Ränkespiel hinter den Kulissen!“ betreibt. Wer es noch nicht wusste: Die Eisenhower Regierung hat mit einer deutschen Exilantengruppe in der Antarktis eine Vereinbarung getroffen. Von dort starten seit Jahrzehnten regelmäßig Raketen ins All und seit 1961 wird von dort aus der intergalaktische Sklavenhandel abgewickelt. Wem davon nicht die Augen aufgehen, der hat sein Leben nicht verstanden. Oder?

Zuletzt noch ein paar Worte zu einem Mann „der immer recht behalten hat“, einem „abtrünnigen Denker“, der „eine der wichtigsten Stimmen unserer Zeit“ ist. Er hat mehrere Bücher geschrieben, in denen er seine „Wahrnehmungen“ und „Vorhersagen“ darlegt. Aber eines dieser Bücher ist besonders wichtig, denn darin wirst du erfahren, „wer die menschliche Gesellschaft wirklich steuert“. „In diesem Buch finden Sie den Beweis, dass die Menschheit in einem Ausmaß getäuscht wurde, das kaum zu glauben ist.“ Aber nicht etwa darüber, dass wir nicht für die Befriedigung unserer Bedürfnisse, sondern zur Verwertung des Werts zum ewigen Arbeitszwang verdonnert sind. Sondern über viel tiefergehendere Probleme wie Transgenderhysterie und Covid-19 Betrug. Hier geht es nicht um Kritik der bestehenden Verhältnisse, sondern um einen „Augenöffner“ der zeigen soll, wie die Welt wirklich ist. Zumindest in der Vorstellungswelt von jemandem, der immer recht behalten hat.

Zwei Muster ziehen sich bei dieser Literatur durch. Die Autoren inszenieren sich als unverstandene, missverstandene, unterschätzte Genies, die ihrer unweigerlichen Entdeckung harren. Spätestens dann, wenn ihre – meist schwer überprüfbaren – Behauptungen irgendwann einmal verifiziert sein werden.

Und das zweite Muster: Egal welche Probleme es in der Welt gab oder gibt – vom Ersten Weltkrieg über den intergalaktischen Sklavenhandel, Krebs und Klimawandel, bis hin zum Ukrainekrieg – Deutschland und Russland sind daran nicht schuld! Wie wir aus „Hunter Bidens Laptop from hell“ erfahren können, sind es vielmehr die USA und sonstige heimliche Herren der Welt. Deshalb hat Oskar Lafontaine auch völlig recht, wenn er feststellt „Ami, it’s time to go!“. Denn wie wir alle wissen, ist es nicht Putin der mittels der russischen Armee Krieg in der Ukraine führt, sondern es sind „Amerikas Hardliner (die) den Ukraine-Krieg anheizen“. Da versteht sich der Kopp-Verlag plötzlich sehr gut mit manchen der sogenannten Linken in Europa.

Abgesehen davon ist natürlich auch die Geschichtsschreibung einer Revision durch den Kopp Verlag bedürftig. Vor allem die Geschichte der beiden Weltkriege. Denn wohlgemerkt: „Die offizielle Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg ist eine vorsätzliche Lüge.“ In Wahrheit strebte ein einflussreicher Zirkel in Großbritannien schon lange vor Beginn des Krieges die „Niederwerfung Deutschlands an“. Ob es wohl einflussreiche Zirkel in Deutschland gab, die schon lange vor dem Krieg die Niederwerfung Frankreichs anstrebten? Wir werden es nie erfahren, denn dafür interessieren sich die Historiker des Kopp-Verlages nicht. Was sie aber sehr wohl wissen, ist, dass auch der Zweite Weltkrieg nicht die Schuld der Deutschen war. Hitler war ja Österreicher. Haha, Scherz. Nein das wär ja zu einfach. Aber eine Reihe „überraschender Dokumente“ belegen, dass „eine ganze Anzahl von Staaten“ den Zweiten Weltkrieg „angezettelt haben“. Tja, wer immer nur der „Version der Siegermächte“ folgt, der bleibt halt blöd und kriegt die Geschichte dann nicht „ganz einfach so erzählt, wie sie nach heutiger Quellenlage abgelaufen ist“. Nämlich, einem „konsekutiven Zwang des Krieges folgend“,also sozusagen von allen Beteiligten ausgelöst und verantwortet. Jeder Schuld und – vor allem – Hitler und die Nazis nicht ganz so schuldig. Dementsprechend lobt auch der O-Ton „der Autor erzählt auf eine Weise, als hätten wir diese Geschichte noch nie gekannt“.

Das zur autonomen Lebensführung notwendige Wissen wächst an, die Zeit es sich anzueignen wird weniger. Mit der wieder anwachsenden Arbeitsbelastung steigen aber die Gehälter nicht mit. Was bleibt denn anderes als – wenn schon nicht mehr an Gott – so zumindest an die preismäßig günstigste Verschwörungstheorie zu glauben, die verspricht alles zu erklären was uns seltsam vorkommt und wofür ein Haufen an Informationen notwendig wären, um es begreifen zu können?

Im Bewusstsein, dass es bei wirklich harmlosen Meinungen selten bleibt, wenn es um Politik geht, verabschiede ich mich an dieser Stelle vorläufig und versuche erst mal meine Augen aufzumachen. Ich glaube nämlich ich hatte einen schlechten Traum und würde sie jetzt gerne mit Lauge auswaschen.