Österreichische Ruinen. Recht. Kaputt. Von Nikolaus Dimmel und Alfred J. Noll

Aus Anlass des Regierens in Österreich könnte man zur Erkenntnis kommen: Jetzt reichts. Nikolaus Dimmel und Alfred J. Noll reichts und sie haben ein 800-seitiges Buch darüber geschrieben. Es nennt sich im Untertitel „Eine Ruinenbesichtigung“, und trotzdem wollen sie „nicht in das allenthalben zu vernehmende Verfallsgejammere einstimmen“ (702). Gleich in der Vorbemerkung fällt allerdings dieser Satz: „Das Recht hat seine (seit jeher bescheidene) Funktion, berufbares Widerlager gegen latent delinquente Kapitalverwertungspraktiken und Zaunpfahl gegen sozialen Rückschritt zu sein, fast durchgehend verloren.“ (13)

Also was jetzt? Gibts Verfall und jammern wir drüber, oder doch nicht? Die Widersprüchlichkeit erhält sich durch den ganzen sehr lesenswerten Text, in dem die Autoren keinesfalls moralisieren wollen (vgl. 702), bei allen Themen aber, die nicht unmittelbar juristisch sind, so weit an der Oberfläche bleiben, dass mehr als ein paar moralische Appelle leider meist nicht überbleiben. Dem korrespondiert, dass für sie progressiv zu sein bedeutet „an Wendepunkten der Geschichte oder in Transformationskrisen konservativ zu werden“ (25). Und sie sagen auch ganz offen worum es ihnen beim Konservativwerden geht: die „Bürgerlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft [soll] aufrecht erhalten bleiben“ (266).

Im ersten Teil, in dem es um die Funktionen des Rechts und das Verhältnis von Staat, Markt und Recht geht, kommen sie weitgehend ohne moralisierende Rhetorik auf die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft zu sprechen. Dass knapp 600.000 Menschen in Österreich aus Rechtsunkenntnis, Angst, Scham, Verzichtshaltung, Sanktionsandrohungen sowie durch passive Institutionalisierung der Behörden keine, oder zu wenig Sozialhilfeleistungen beantragen. Aus meiner Berufspraxis kann ich sagen, ich habe solche Fälle oft, wie zuletzt einen Herrn, der über Jahre in einem Einzelmietzimmer mit Kochplatte und Toilette am Gang von 550 Euro Mindestsicherung gelebt hat, ohne Wissen über die darüber hinausgehenden Möglichkeiten.

Im zweiten Teil „Recht vermessen“ stellen die beiden auf lesbare und verständliche Weise ihre Rechtsaufassung dar. Sie wollen „Recht als sozialen Geltungszusammenhang“ (65) thematisieren. Hier fallen zwar die moralisierenden Begriffe „Gangster-Kapitalismus“, „Polit-Kasperl-Theater“, „Schmieröl-Psychologen des Politikberatungsgewerbes“ wieder dichter (alle gefunden auf einer einzigen Seite, 132), aber zugleich arbeiten sie sehr klar die Problematik heraus, die zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Rechts in Österreich besteht, wenn die „Angemessenheit von Recht […] anhand der schaustellerischen Authentizität und medialen Performance der Rechtssetzer beurteilt“ wird. Also gesellschaftliche Fakten bei der Bewertung von Politik vom Souverän geflissentlich ignoriert werden, zugleich das Recht von ihm aber als „Ausdruck der eigenen Enteignung begriffen“ (132) wird. Anschaulich wird das in der Rechnung die die Autoren spitzfindig aufmachen. Aggregiert man die Betriebskosten des politischen Systems in Österreich „so konsumiert [es] etwa 8,5% des BIP“ (133), während die Sozialleistungen nach den radikalen Kürzungen der letzten Jahre (Das Arbeitslosengeld beträgt nur mehr 55% des letzten Gehalts!!) für Arbeitslose bei 5,5% Anteil an den gesamten Sozialausgaben liegt. (Laut Statistik Austria Pressemitteilung 13 110-138/23)

Die Autoren wissen sehr viel und zeigen das auch. Der Aufbau des Buches verrät tiefe theoretische Kenntnisse in Verbindung mit praktischer Erfahrung, auch wenn man sich an manchen Stellen wünschen würde, die praktischen Beispiele würden stärker in den Fokus geraten. Um einen Beitrag in der politischen Debatte zu leisten, muss der bürgerliche Citoyen, der von den Autoren als Voraussetzung für den funktionierenden demokratischen Rechtsstaat herausgearbeitet wird, auch die praktische Seite der Probleme erkunden können. Zwei praktizierende Anwälte könnten da eventuell handfestes Wissen zur Darstellung bringen, das es schafft das Arkanum, das über der politischen Juristerei liegt, ein wenig zu lüften. Vielleicht wird es ja in einem Anschlussband noch nachgereicht.

Das Kapitel über die Rationalität des Rechts ist wieder brillant erzählt und auf einem hohen theoretischen Niveau und endet mit dem nachdenklich stimmenden Satz: „Der Marktfundamentalismus der Gegenwart mit seiner auf Dauer gestellten kommissarischen Verwaltung des ökonomischen Notstands (Vielfachkrise) operiert mit einem Besteck, welches der materiellen Rechtsstaatlichkeit des Faschismus wesensgleich ist.“ (414)

In der Auseinandersetzung damit, was das Recht (nicht mehr) leistet, ermitteln die Autoren dann die Probleme, die sie kritisch bearbeiten wollen. Das Recht wird ökonomisch nur mehr „als Standortfaktor verstanden und seine relative Selbständigkeit abgeschliffen“. Darüber hinaus wurde der Zugang zum Recht „und dessen wirkungsvolle Mobilisierung für untere soziale Strata verschüttet“. Und „die sozialen Reproduktionsinteressen der Lohnabhängigen (Bildungsbeteiligung, gute Arbeit, Teilhabe durch Konsum, Finanzplanung und Kredit, menschenwürdiges Wohnen, Rechte auf Gesundheit, Pflege oder Sicherung vor Armut etc.) [sind] schlicht aus dem Recht ausgewandert“ (427). Eine treffende Analyse!

Der Bogen wird auch danach noch weit gespannt. Es geht um Offshoring, darwinistische Narrative in Wirtschaft und Counter Culture, um Ideologie und Kritik und immer wieder um etwas seltsam anmutende Begriffe wie „Kapitalozän“, die neben der durchaus brauchbaren sonstigen Begriffsarbeit seltsam deplaziert wirken.

Das Buch von Dimmel und Noll ist nicht historisch angelegt, die vielen gestreuten Hinweise darauf, dass die heutige Situation bewusst herbeigeführt worden ist, muss man ihnen an vielen Stellen glauben. Der vorliegende Text spielt weitgehend in der Gegenwart und oft nicht einmal in Österreich. Denn immer, wenn es ans Eingemachte des Kapitalismus geht, fehlen offenbar die lokal spezifischen Studien. Dann kommen die üblichen Allgemeinplätze von den üblichen Autoren. So wie eher Nancy Fraser, die universale Theoretikerin des Kapitalismus und seiner feministischen Kritik, zu Wort kommt als Chantal Mouffe, obwohl zweitere doch zumindest über die österreichischen Verhältnisse geschrieben hat (Über das Politische 2007). Überhaupt geht es sehr eklektisch zu und nicht immer ist vollkommen klar warum ein bestimmter Theorieteil gerade an dieser Stelle steht, oder warum sich manche Argumentation im Buch mehrmals wiederholt und andere sang- und klanglos verschwindet, nachdem sie einmal aufgebracht wurde. Sichtbar etwa bei der Aufnahme Giorgio Agambens in den Text, dessen Beitrag für die Argumentation der Autoren überhaupt nicht notwendig gewesen wäre. Dem darüber hinaus aber auf Seite 561 großflächig widersprochen wird, wenn es um die zentrale These seines frühen Werkes, dem Verständnis des Ausnahmezustands geht. Und 10 Seiten später, auf Seite 571, wir dieser wieder hervorgeholt um eben diesen Begriff vom Ausnahmezustand zustimmend heranzuziehen. Einmal im „Gegensatz zu“, dann wieder „in Anlehnung an“. Beide Male geht es um die Außerkraftsetzung der Rechtsgültigkeit des Rechts im Ausnahmezustand.

Agamben mit seinem metaphysischen Begriff des Individuums bräuchte man dafür nicht. Wie sich auch Dimmel und Noll bewusst sind, wenn sie sich theoretisch damit auseinandersetzen, dass die Ruinierung des Rechts den Ausverkauf des Staats zur Voraussetzung gehabt hat. Sie sehen 45 Jahre neoliberale Gegenreformation als Grund dafür, dass das Recht „in vielerlei Belangen seine sozial wie ökologisch kompensierende Funktion weitgehend verloren“ (418) hat.

Gerda Marx hat das am Beispiel des „Immobilienmanagement des Bundes“ in ihrer 2007 publizierten Dissertation aufgezeigt: „In den letzten Jahrzehnten ist die Besorgung von öffentlichen Aufgaben in zunehmendem Ausmaß privatrechtlich organisierten Rechtsträgern zugewiesen worden.“ Allerdings ohne, dass „die angestrebte Straffung und Vereinheitlichung des Liegenschaftsmanagements“ erreicht worden wäre. Im Gegenteil, die angestrebte Koordination des Raummanagements wurde nicht erreicht, sondern die unklare Abgrenzung der Kompetenzen und Aufgaben zwischen den Ressorts und der BIG wurde noch verschärft. Nebenbei ist es bis 2007 nicht gelungen eine vollständige Feststellung des tatsächlichen Immobilienbesitzes des Bundes durchzuführen, was dazu führte, dass „die im Zuge der Privatisierung übereigneten Liegenschaften vielfach nicht bestimmbar“ sind.

Damit waren die idealen Voraussetzungen für Korruption geschaffen. Und just in dieser Zeit wurde das derzeit stattfindende Schmierentheater aus Politikerdarstellern und solchen die es gerne werden möchten und die mal nur wegen dem Gehalt dabei sind, politisch sozialisiert. Ein Haufen neoliberaler Schwachmaten mit dem politischen Anspruch eines Head of Backoffice in einer Filiale der Raiffeisen Bank International, die für ihre besonders sauberen Geschäfte mit Russischen Kunden berühmt ist. (Ich darf moralisieren, ich habe es mir nicht selbst verboten.) Vorgemacht haben es Größen wie der ehemalige Bundeskanzler und SPÖ Grande Alfred Gusenbauer, der eigentlich seit seinem Ausscheiden aus dem Amt beinahe ausschließlich durch Negativschlagzeilen aufgefallen ist und natürlich just im aktuellsten Skandal um die Signa-Pleite des Rene Benko auch wieder als honorarnotenstellende Fußnote aus dem Rahmen fällt.

Der Standard berichtet online am 01.12.2023: Gerade einmal drei Wochen nach seinem Rücktritt als Kanzler heuerte Gusenbauer laut „News“ bei der Signa an, für eine jährliche Pauschale von 280.000 Euro, „wobei von einem Zeitaufwand von einer Arbeitswoche pro Monat ausgegangen wird“. Inzwischen sitzt Gusenbauer neben dem Beirat auch in den Aufsichtsräten der wichtigsten Signa-Immobiliengesellschaften Signa Prime und Signa Development.

Und: Auch er kassierte Millionenhonorare. Für eine „Beratung“ im Zusammenhang mit staatlichen Corona-Hilfszahlungen in Deutschland an die Benko-eigene Kaufhauskette Galeria Kaufhof etwa stellte der Altkanzler der Signa Holding im März 2020 drei Millionen Euro exklusive Umsatzsteuer in Rechnung. Im September 2021 waren es dann nochmals zwei Millionen Euro.

Pikant daran ist nicht nur, dass Gusenbauer im Juni 2022 in der ORF-Sendung „Eco“ abstritt, dass er beratend für die Signa tätig sei. Auch lassen sich in seinen Engagements Interessenkonflikte ausmachen: Der Altkanzler berät neben Benko nämlich auch noch den Baukonzern Strabag von Hans Peter Haselsteiner, in dem er als Aufsichtsratsvorsitzender fungiert. Haselsteiner – er hält 15 Prozent der Signa Holding – liegt aber seit längerem im Streit mit Benko. Der Strabag-Gründer war federführend beteiligt an jenem Aufstand der Signa-Mitinvestoren Anfang November, der Benko von der Konzernspitze der Signa verdrängen sollte. Gusenbauer ist also geschäftlich, wenn man so will, auf beiden Seiten zu Hause.

Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass auch Ex-Kanzler Kurz mit Benko gute Geschäfte macht.

Aber zurück zum Thema: Dem Text von Dimmel und Noll vorangestellt ist ein Zitat Theodor Wiesengrund Adornos, der sich allerdings im Literaturverzeichnis nicht auffinden lässt. So wie überhaupt die textorientierte Rezeption der kritischen Theorie sich auf Jürgen Habermas beschränkt. Die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Adorno kommt zwar mal vor (160) bedarf aber offenbar keines Nachweises oder eines Zitates, weshalb sich auch dieser Text nicht im Literaturverzeichnis findet. Max Horkheimer darf mit zwei kurzen Aufsätzen reüssieren, die aber ebenso unpräzise und wie eine Pflichtübung absolviert werden. Obwohl er mit der Racket-Theorie die brauchbarste Version einer Kritik an Bandenherrschaft und politischer Korruption liefert, die uns heute zur Verfügung steht, wird öfter auf die „Soziologie des Parteienwesens“ Robert Michels Bezug genommen. Michels, zugegebenermaßen als Parteienforscher ein Begründer der modernen Politikwissenschaft, ist 1928 der Partito Nazionale Fascista Benito Mussolinis beigetreten und hat sich von da an mit der Erarbeitung einer faschistischen Theorie des Korporatismus beschäftigt.  

Das vorangestellte Motto von Adorno thematisiert die Problematik der sich ein anspruchsvoller Text stellen muss. Man kann sich präzise, gewissenhaft, dem Problem angemessen äußern, dann riskiert man als schwer verständlich zu gelten, oder man kann lax und verantwortungslos formulieren und mit Verständnis belohnt werden. Das macht neugierig zumal auf ein Buch das in Österreich geschrieben wurde, wo sonst oft genug die Seichtheit und die Laxheit das Gütesiegel des Buchverkaufs ist.

Aber es ist natürlich auch eine launige Vorbemerkung von zwei Profis, die schon so manches Buch in Österreich publiziert haben und die vor allem den Ton des Feuilletons hier gut kennen. Wer sich der heimischen Journaille nicht inhaltlich anbiedert, wird oft hysterisch rezepiert und letztlich negativ rezensiert. Sie nehmen in ihrer ganzen auf das Motto folgenden Einleitung diesen hysterisierten Ton der Kritik und die mögliche Stoßrichtung der über das Buch eingereichten Mängelliste vorweg und versuchen dem politisch motivierten Raunzen vorneweg gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen.

„Ja wir haben uns viel vorgenommen, ja es ist schwierig zu lesen, ja wir haben nicht alles belegt, ja manches wird für Aufregung sorgen, aber wir wissen das, wir müssen es nicht mehr in der Rezension lesen.“

Man will sich nicht anbitzeln lassen, das Thema ist zu wichtig. Und sie haben auch Recht damit. Das Buch ist eine Grundlagenarbeit. Hier wird eine theoretische Perspektive eröffnet und der Stil ist ambitioniert unösterreichisch. Mit Kleinigkeiten halten sich die Autoren nicht auf. Sie haben ein Projekt vor sich das mit Kritik, mit Einspruch und mit Gegenwehr hantiert. Ein Projekt, das vom Duktus der Einwände gegen das bestehende System her durchaus einen Anspruch auf Veränderung setzt. Aber können sie zu einer utopischen Perspektive durchdringen?

Hier schreiben zwei Männer die schon lange in diesem Österreich erfolgreich sind. Deshalb ist bei aller kritischen Rhetorik immer zu spüren, dass ihnen nicht ganz geheuer ist bei dem was sie da sagen. Sie zitieren zwar ausgiebig Marx und Gramsci, vom operativen Impetus her sind sie aber eher bei Eduard Bernstein zu Hause. Auf Seite 523 sind sie sogar ein bissl wehleidig, was ihren eigenen Berufsstand angeht. Das Thema Digitalisierung streifen sie nur an der Oberfläche. Was verwundert angesichts des Versuchs eine zeitgemäße Darstellung der Probleme des Rechts anzufertigen. Julie E. Cohen und Ifeoma Ajunwa, die spezifisch zum Thema der Digitalisierung und dem Wandel des (Arbeits-)Rechts arbeiten, sucht man auf der, ansonsten beeindruckend langen, Literaturliste vergebens. Ebenso Simon Schaupps Kritik der digitalen Dequalifizierung von Arbeit und dem damit verbundenen Lohndumping fehlt. Aber auch Klassiker der Kritik des digitalen Kapitalismus, bei denen das Recht durchaus eine Rolle spielt, wie David Schiller und Wolfgang Fritz Haug, bleiben unerwähnt.

Empört sind Dimmel und Noll in Zusammenhang mit der Digitalisierung vor allem über das digitale „Ende des Anwaltsmonopols bei der Erbringung von Rechtsdienstleistungen“ (524). Das erleichtert zwar, wie sie selber zugeben, „einkommensschwachen Haushalten den Zugang zum Recht“ (523), aber gleichzeitig werden dadurch haufenweise legal assistants in den USA arbeitslos. Das kommt einer „Industrialisierung des Dienstleistungsmarkts auf dem Gebiet der Rechtsberatung gleich“ (524) und könnte auch damit in Zusammenhang stehen, dass „die Digitalisierung ein zentraler Treiber der Herausbildung eines autoritären Überwachungsstaates“ (ebda.) ist.

Als Berufsstandswahrer behält man sich vor abzuwägen, ob es besser ist, dass Arme gleichberechtigten Zugang zu Informationen über das Recht haben, oder Anwälte Jobs. Als in der Sozialarbeit tätiger Mensch kann ich nur sagen, das Ende des Anwaltsmonopols bei niedrigschwelliger Beratung wäre eine absolute Demokratisierung des Rechtsstaats und eine Unterstützung für alle, durch denselbigen, Deklassierten.

Gleichzeitig sind Dimmel und Noll an vielen Stellen zu Recht empört und bringen das auch selbstkritisch zum Ausdruck, wenn sie feststellen, dass ein „merklicher Teil der Krise des Rechts ganz offenkundig darin besteht, dass diese Krise innerhalb der Rechtswissenschaft kaum angemessen reflektiert wird“ (546).

Aber als gelernte Anwälte mit bürügerlicher Sozialisierung sind sie kaum gewillt, alle Verhältnisse umzustoßen in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes Wesen ist. Vielmehr scheinen sie zurück zu wollen in eine Zeit in der alles besser war, ohne, dass sie historisch klären würden, ob es diese Zeit je gab. Oder was die Gründe für ihren kurzen Bestand und ihr Ende waren. Wenn die neoliberale Gegenreformation seit 45 Jahren läuft, dann sind sie wohl mit David Harvey einig, dass der Neoliberalismus Ende der 1970er Jahre beginnt. Dimmel und Noll waren 1977, im Jahr der Versenkung der Lucona, 18 und 17 Jahre alt. Und sie haben trotzdem teilweise recht, denn der große Unterschied zu den jetzigen Verhältnissen ist, dass Nationalratspräsident Leopold Gratz und Innenminister Karl Blecha von der damaligen SPÖ zurücktraten. Das würde Wolfgang Sobotka von der jetzigen ÖVP niemals passieren.

In ihrem Abschlusskapitel überschrieben mit „Und jetzt, wohin?“, also der bürgerlichen Variante Lenins „Was tun?“, einigen sie sich darauf, dass es das Recht und die Anwälte weiterhin braucht, um zwischen partikularen Interessen zu vermitteln und vor allem Fragen der Umverteilung und Gerechtigkeit gesamtgesellschaftlich zu be- und verhandeln, anstatt sie immer mehr den Individuen zuzuschieben.

Sie bezeichnen das Recht als „Speerspitze der Durchkapitalisierung“ (561), was mit sich bringt, dass es zu einer zunehmenden „Flucht der Herrschenden und der von den bestehenden Verhältnissen Profitierenden aus dem Recht“ (427) kommt. Diejenigen die sich die Regeln machen können, halten sich nur daran, wenn sie ihren wirtschaftlichen Interessen entsprechen.

Dimmel und Noll wenden sich gegen die Ungerechtigkeiten die aus der „Nichtanwendung geltenden Rechts“ (546) resultieren, aus der fortgesetzten kommissarischen Verwaltung, die dafür sorgt, dass Niedriglöhne niedrig bleiben und zugleich Liftbetreiber und Hoteliers, die mit diesen Niedriglöhnen ihre Marge machen, während der Pandemie mit 6 Milliarden Euro unterstützt wurden. Um hinter die Perfidie dieser Situation zu steigen, braucht es für die Autoren, eine kollektive Vernunft. Und, wie jeder Jurist der Welt jedem juristischen Laien der Welt jederzeit für gutes Geld erklären wird: „Jede Form kollektiver Vernunft kann sich nur im System des Rechts entfalten.“ (684)

Das Recht soll sich nicht am Markt ausrichten. Aber rationale Rechtspolitik muss Leistung bringen. Die „Leistungskapazität des Rechts […] hängt […] davon ab, ob es ökonomische Bedarfsdeckung, ökologisch Nachhaltigkeit und soziale Inklusion bzw. normative Sozialintegration auf partizipative Weise, evidence-based und in einer den rechtsstaatlichen Grundprinzipien verpflichteten Weise organisieren und gewährleisten kann.“ (691) Überprüfen kann man das durch „rekursive Rückkopplung von Gesetzgebungsprozessen an außerrechtliche Wissensbestände und Expertisen, die Ersetzung des Bundesrats durch eine Kammer von Fachleuten, durch partizipative Verfahren der Rechtssetzung, etwa durch Kinder-, Stadtteil- und Bürgerparlamente durch unmittelbare Antragspositionen von Kontrollagenturen“ (691f.).

Widerstand bedeutet für die Autoren „die Entwicklung rechtlicher Argumentations- und Begründungsfiguren, welche dem Widerstand Legitimität (Rechtfertigung) Legalität (Berechtigung) verleihen, […] die Herauspräparierung antihegemonialer, alternativer Normenbegründungen“ (699).

Das Buch ist eine große Reise durch die Rechtsphilosophie und die bürgerliche Kapitalismuskritik. Es fordert zum Nachdenken heraus und es ist, mit all seinen Fehlern, das zur Zeit beste Buch auf diesem Gebiet. Man kann es im Regal allein schon wegen seines Umfangs sehr gut, neben Joseph Buttingers „Am Beispiel Österreichs“ platzieren und hätte zwei Klassiker nebeneinanderstehen. Einen vergangenen und einen künftigen.