1954 soll der eiserne Bühnenvorhang der neu errichteten Wiener Staatsoper neu gestaltet werden. Der damalige Künstlerhaus-Präsident Karl Maria May warnt vor den vorgeschlagenen Künstlern Oskar Kokoschka („ein ehemaliger Österreicher, der, als seine Heimat in Not war, in englische Staatsbürgerschaft untergeschlüpft ist“) und Marc Chagall („ein national-israelischer Künstler russischer Herkunft“) und empfiehlt seinen Vorgänger Rudolf Eisenmenger für den Auftrag. Rudolf war ab 1931 im nationalsozialistischen „Kampfbund für deutsche Kultur“ und malte mit Vorliebe junge Männer mit Braunhemden und Hakenkreuzfahnen. Da der „verordnete Geschmack der NS Zeit […] in Nachkriegsösterreich auch in der Bildenden Kunst dominiert“ (123), war er bereits 1947 wieder entnazifiziert und 1951 Professor. (126)
Eisenmengers Nazi-Vorhang wurde erst 43 Jahre später durch Staatsoperndirektor Ioan Holender verdeckt und seither gibt es jedes Jahr einen durch eine Jury ausgewählten Künstler, der eine Spielzeit lang den Vorhang mit seinem eigenen Kunstwerk überdecken darf. (127) Laut Auflagen des Bundesdenkmalamts muss der Vorhang aber trotzdem drei Monate im Jahr zu sehen sein. Eine Geschichte von markant österreichischen Dimensionen.
Der Carl Ueberreuter Verlag gibt Bücher zur österreichischen Zeitgeschichte heraus die laut Selbstauskunft „packend erzählt“ sind. Und der vorliegende Text des renommierten Journalisten Herbert Lackner ist wirklich packend, bis in die Organisation des Textes hinein. Oder vielmehr er ist journalistisch, denn die einzelnen Kapitel erhalten jeweils eine Zusammenfassung vorangestellt, wie sie in einem Zeitungsartikel üblich ist. Da stehen dann Absätze wie der folgende: „Kaum ist Arthur Schnitzler bezwungen und Hugo Bettauer tot, drohen neuen ‚Gefahren‘: Eine ‚Negeroper‘ und eine ‚Halbnegerin‘ namens Josephine Baker kommen nach Wien.“ (35)
Das, was nach den reißerischen Ankündigungen kommt ist dennoch gut erzählt, spannend zu lesen und, für das kompakte Format, gespickt mit wissenswerten Informationen. Dazu noch Porträt-Fotos von den wichtigen Protagonisten, durch die die eine oder andere Mörder-Visage ein Gesicht bekommt sowie Fotos von Ausschreitungen, die das Beschriebene lebendig werden lassen. Im Großen kann man sagen: Mission accomplished. Man kriegt richtig Lust die anderen Titel Lackners, aus dem Verlagssortiment, beworben am Ende des vorliegenden Buches, ebenfalls zu bestellen.
Spannende Literatur ist ja zu allen Zeiten etwas Tolles. Ich räume aber ein, dass ich von einer „politischen Kulturgeschichte“ Österreichs einen Text erwartet hatte, der mehr als 200 Seiten in großzügigem Druckformat umfasst. Aber bei Betrachtung der Seitenzahlen bei den anderen Bänden, der Reihe „Zeitgeschichte“, wird klar, das gehört zum Konzept. Packend erzählte Zeitgeschichte hat nicht mehr als ungefähr 200 Seiten. Und Papier ist ja teuer. Was sich auch darin bemerkbar macht, dass der Verlag auf Anfrage zur Rezension PDFs verschickt und keine Bücher. Verständlich aus Sicht des Verlags. Enttäuschend aus Sicht des Rezensenten, der dadurch um die ideelle Anerkennung umfällt für seine geleistete Arbeit zumindest das besprochene Buch ins Regal stellen zu können.
Aber vielleicht ist es ja auch ein Vermarktungstrick, dass die Bücher so kurzgehalten werden. Lackner hat 2017, 2019 und 2021 bereits Bücher zur österreichischen Geschichte vorgelegt, die thematisch miteinander in enger Beziehung stehen und vielleicht in der Gesamtschau diese politische Kulturgeschichte zu einer umfassenden Erzählung werden lassen. Der Verlag hat das Prinzip der Serie genutzt und dieses Projekt, vielleicht auch dem Produktionsprozess des Autors entgegenkommend, in mehrere Staffeln gegliedert. So konnte anstatt eines Riesenziegels mit 800 Seiten, der auch in der gebundenen Version, nicht viel mehr als 40 Euro kosten darf, wenn er außerhalb von Universitätsbibliotheken verkäuflich bleiben soll, eine Serie von Büchern erzeugt werden, die gemeinsam mehr als 80 Euro kosten dürfen.
Lackners Stil kommt dem Verlagsziel Papier zu sparen sehr entgegen. Er schreibt knapp und klar und erzählt dennoch brillant, weil er das Mäandern beherrscht, also das schnelle Durchstreifen von ganzen Regionen mittels kurvigem Wegverlauf. Die Geschichte wird als Ereignissammlung präsentiert. Die Ereignisse werden in guter journalistischer Machart zu Geschichten aufgebaut, die von Protagonisten und Antagonisten bespielt werden und über einen Spannungsbogen verfügen. Jedes Kapitel ein Eintrag in der Geschichte Österreichs, der beispielhaft für die verzwickten politischen Verhältnisse in diesem Land stehen kann. Alle Kapitel zusammen, in Lackners Selbstsicht, „eine durcherzählte fast romanartige Geschichte“ (8).
Bei der Lektüre wird schnell klar, die politische Kultur in Österreich ist eng verknüpft mit Skandalen. Kulturelle Skandale wohlgemerkt, durch die auf dem Feld der Kulturproduktion politische Kämpfe symbolisch ausgefochten werden. Es geht um Kulturkampf, den Lackner als Kampf der Künstler um „Existenz und Freiheit“ (7) gegen eine konservative rechtsorientierte Gesellschaft, in der zuerst die katholische Kirche, dann der Austrofaschismus und der Nationalsozialismus regieren. Das neue Österreich ab 1945 ist aber auch nicht besser, denn es stützt sich von Anfang an auf konservative Kulturtraditionen belohnt die faschistischen und reaktionären Dichter und schmäht ihre Kontrahenten mit aktiver Politik. (114) Das liegt auch am Personal. Die beiden ersten Unterrichts- und Kulturminister der Zweiten Republik, Felix Hurdes und Heinrich Drimmel (ÖVP)- waren Funktionäre in Kurt Schuschniggs Kanzlerdiktatur, Drimmel darüber hinaus noch Heimwehrmann. (116)
Konsequent wurde der 1934 eingeführte und ab 1950 wieder vergebene Große Österreichische Staatspreis für Literatur, „fast durchwegs“ an „die Stars des Ständestaats, die auch in der NS-Zeit hofierte Autoren blieben“ (116) verliehen. Ein besonderes Exemplar unter den vielen Autoren mit klingenden Namen, wie aus US-Amerikanischen Nazifilmen, Leitgeb, Braun, Henz, Mell, war Karl Heinrich Waggerl. 1938 der NSDAP beigetreten und Obmann der Salzburger Reichsschrifttumskammer, behauptete er nach Kriegsende nichts von seiner NS-Mitgliedschaft gewusst zu haben. (117) Dabei hatte er bezüglich der Preisverleihung gegenüber den durch die Nazis vertriebenen Autorinnen zwei große Vorteile: 1. Er hat den Preis bereits 1934 erhalten. 2. Die Satzung des Staatspreises sieht vor, dass nur, wer seinen Wohnsitz in Österreich hat, ausgezeichnet werden kann. Alfred Polgar, Hermann Broch, Max Brod, Elias Canetti, Vicki Baum und viele andere waren deshalb des Preises nicht würdig. Lackner schreibt sehr schön: „Österreich hat Waggerl. Und Elias Canetti kann sich 1981 mit dem Literaturnobelpreis trösten …“ (118).
Die Kontinuität der Nazis an den Hebeln der Macht in der Zweiten Republik macht betroffen. Das betrifft auch die Musik. Im Fall von Alban Bergs Oper Wozzek hat dessen Witwe Helene noch 1951 bei den Salzburger Festspielen Probleme die Oper aufführen zu lassen. Die Oper wird bei der Eröffnungsrede durch den damaligen Landeshauptmann Josef Klaus verschwiegen, „echte Kunst“ dagegen gelobt. Die Nazis bezeichneten das Gegenteil von echter Kunst als entartete Kunst und diese Einteilung ist in manchen Kulturdebatten bis heute bemerkbar. Das Tragen von Bikinis ist in Vorarlberg bis in die 1960er Jahre untersagt und mit Berufung auf ein Lichtspielgesetz von 1927 wird das letzte Filmverbot unter dem Siegel echt/entartet in Vorarlberg noch 1987 ausgesprochen. (135)
Lackner liefert eine Geschichtsreise, die augenöffnend für die Gegenwart wirkt. Kleidungsvorschriften für Frauen. Verbote von Filmaufführungen. FPÖ-Plakate die fragen: „Lieben sie Scholten, Jelinek, Peymann, Pasterk … oder Kunst und Kultur?“ Hetze gegen Minderheiten und hetzende Minderheiten. Die Kontinuitäten sind nur allzu sichtbar. Österreich ist weiterhin ein antisemitisches Land und wird davon auch nicht durch den Zuzug von Menschen aus aller Welt befreit werden. Denn nicht nur in Österreich ist der Antisemitismus ein Mittel zu Herrschaft und Triebabfuhr.
Österreich ist auch heute ein konservatives Land mit zutiefst reaktionären Sentimenten in der Mehrheitsgesellschaft. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass öffentliche Debatten über die Kulturindustrie nicht mehr von Rechten, sondern von Linken dominiert werden. Jetzt wird halt unter geänderter Flagge und neuen Mitteln verboten und zensuriert. Lackner greift das Thema Cancel Culture auf und meint, dass die alten Kulturkämpfe von neuen abgelöst werden. Aber am Ende hat wahrscheinlich der Verlag beim Autor über den Papiermangel geklagt, denn die letzten Kapitel sind, obwohl auch sehr lesenswert, hastiger formuliert. Der Abschluss wirkt unfertig.
Ein wunderbares Buch das leicht zugängliche Munition zur Kritik der Gegenwart aus ihrer Geschichte heraus liefert. Eine anekdotische Auseinandersetzung mit der österreichischen Misere und den Gründen dafür, die an einigen Stellen brillant ist und an manchen leider zu kurz, um ihre volle Wirkung zu entfalten.