Die endgültige Auskunft zur Erbschaftssteuer

Wenn Elon Musk Steuern zahlen soll, gelten seine Anteile an Tesla als unrealisiertes Vermögen, das nicht besteuert wird, solange daraus kein Gewinn erzielt wird. Wenn er Geld von der Bank braucht, sind die Anteile allerdings Gold wert. Mit ihnen als Sicherheit erhält er jeden Kredit, den er möchte. In Österreich gilt dieser glückliche Umstand unfassbaren Reichtums für den Erben Mark Mateschitz, dessen Jahreseinnahmen von 1,3 Milliarden Euro natürlich nur ein „fiktives Jahreseinkommen“ darstellen und kein echtes. Weshalb dieser arme Mensch auch nur 26 Prozent seines Bruttoeinkommens an Steuern zahlen muss, und nicht 42 wie eine durchschnittliche Mittelstandsfamilie. Natürlich könnte man jetzt fragen, warum Menschen überhaupt 42 Prozent steuern zahlen müssen? Wie ineffizient muss die staatliche Umverteilungsmechanik sein, dass Menschen, die ganz ok verdienen, und sehr wahrscheinlich hart dafür arbeiten, beinahe die Hälfte ihres Verdienstes abgeben müssen?

Hier wie in den USA haben wir es mit einer Politikerkaste zu tun, die das politische Bewusstsein ihrer Wähler schon dadurch verheeren, dass sie das Wort Leistung ständig in ihren Sonntagsreden auf der Zunge spazieren führen, ohne diese Leistung jemals selbst zu erbringen. Seit Elon Musk in die Politik gegangen ist, befindet sich seine Tesla Aktie auf Talfahrt. Er ist aber Politiker genug, um sich weiterhin leistungslos am Vermögen der Allgemeinheit gütlich zu tun. Während sein Department of Government Efficiency ziellos alle möglichen öffentlichen Leistungen, für Kranke, Veteranen und Bedürftige, streicht und tausende Beamte, die für Wasserschutz und Betriebssicherheit und ähnliche Dinge zuständig sind, entlässt, kassieren seine Unternehmen 38 Milliarden Euro staatlicher Unterstützung.

Also anders gefragt: Warum leisten wir uns Politiker, die sich selbst, per Abstimmung, ihre beträchtlichen Gehälter erhöhen und darüber hinaus beinahe unbegrenzt dazu verdienen dürfen, wenn sie es nicht schaffen effizient zu arbeiten? Warum kann ein Abgeordneter im Österreichischen Parlament nebenher eine Anwaltspraxis betreiben und Klienten auch in Steuerfragen vertreten, wenn er doch bezüglich der Insider-Informationen, die er aus dem politischen Betrieb erhält, vollkommen befangen sein müsste? Man sieht schon, bei der Verteilung von Vermögen haben wir es mit einem komplexen politischen Phänomen zu tun, aber auch mit ganz klaren Zahlen.

In Deutschland wurden letztes Jahr (2024) 121,5 Milliarden Euro vererbt. Der Spiegel (Nr.12 15.03.2025), dem ich diese Info entnommen habe, schreibt: Erbschaften sind ein mächtiger Wohlstandsfaktor, eine „enorme Kapitalwelle, die sich von Jahr zu Jahr weiter auftürmt“. Nur 0,2% der Deutschen müssen pro Jahr Erbschaftssteuer zahlen, fast 50% der Gesamtsumme, die vererbt wird, fließt an die Erbschaften mit den höchsten Beträgen, die unteren 90% erhalten gemeinsam so viel, wie die oberen 10%. Bei Betriebsvermögen ist die Großzügigkeit des Staates beinahe grenzenlos. Wenn Erben die Firma weiterführen, und die Löhne im Wesentlichen gleichbleiben, können sie den Betrieb zu 85 oder 100 % steuerfrei übernehmen. Steuerbefreiungen bei der Erbschaftssteuer für Betriebsvermögen liegen in Deutschland für Unternehmenswerte von unter 2,5 Millionen Euro bei ca. 20%. Bei Betriebsvermögen von 250 Millionen Euro oder mehr bei 95%.

Vielleicht liegt es daran, dass einige der größten Konzerne Deutschlands immer noch in der Hand der Erben der Nazi-Milliardärsfamilien sind, die diese Konzerne unter Vorteilsnahme von Weltkrieg und Shoa aufgebaut haben. Das Land wird von einer Wirtschaftselite beherrscht, die sich an Massenmord und Zwangsarbeit bereichert hat und musste vermutlich nicht einmal Erbschaftssteuer für die Übernahme dieser Wirtschaft gewordenen Mordanstalten zahlen.

Die großzügigen Ausnahmeregelungen drücken die staatlichen Einnahmen aus Erbschaftssteuern unter die Einkünfte aus der Tabaksteuer. Was sogar dem internationalen Währungsfonds ein verständnisloses Kopfschütteln abringt. Er bezeichnet die Erbschaftssteuern in Deutschland als „unzureichend genutzt“. Dazu kommen noch anderen Entwicklungen, die diesen Missstand zum Notstand werden lassen. Während die Mietpreise explodieren, werden Immobilien zum zweitwichtigsten Erbgegenstand. Eine Katastrophe für alle, die keine Immobilien erben.

Aber wie sieht das ganze in Österreich aus? Wenn der internationale Währungsfonds für Deutschland die Erbschaftssteuer als unzureichend genutzt bezeichnet, wie würde er dann Österreich einstufen? Man liest nach und staunt: „In Österreich wird seit dem 1. August 2008 keine Erbschafts- und Schenkungssteuer mehr erhoben.“ Alles klar. Aber bei Grundstücksvererbungen und -schenkungen fällt eine Grunderwerbssteuer an, weshalb insofern auch in Österreich in der Öffentlichkeit noch von „Erbschaftssteuer“ gesprochen wird. „Mit der Steuerreform 2015/2016 wurde die Grunderwerbsteuer, die bei entgeltlichen wie auch unentgeltlichen Vermögensübertragungen im Immobilienbereich anfällt, deutlich erhöht.“ Ok. Immerhin. Aber man hört doch so viel von den furchtbaren Erbschaftssteuern, die dann am Lebensabend der Oma ihr Gartenhäuschen vermiesen, das sie den Enkerln so gern vererben möchte. Da planen die Linken sicher wieder was Gemeines, was die Oma zum Weinen bringt, oder?

„Im August 2023 präsentierte die SPÖ ihre Vorstellungen einer Erbschaftssteuer: Dabei soll es einen Lebensfreibetrag von einer Million geben, das heißt, wer innerhalb von 30 Jahren Erbschaften oder Schenkungen gesamt im Wert von unter einer Million erhält, muss nichts bezahlen. Die Grunderwerbssteuer würde gleichzeitig entfallen.“

Ein Grundstück für 1 Million Euro. Da bräuchte es auch für den wildentschlossensten Normalverdiener den Fund von Nazigold im Haus-Brunnen, damit sich das ausgeht. Die Gefahr, dass man mit einem Durchschnittsgehalt so eine Summe aufbringen kann, ist für die allermeisten sehr gering. Außer sie haben geerbt, dann geht sich das vielleicht aus. Also wäre es vielleicht klüger, bevor man was vererbt, nicht zu erben, damit man nicht zu viel zu vererben hat, um Erbschaftssteuer zahlen zu müssen? Also in der Zukunft, wenns mal wieder eine Erbschaftssteuer gibt in Österreich? Was würde Elon Musk dazu sagen? Und wen würde er zum Austausch für eine Erbschaftssteuer alles aus dem Staatsdienst entlassen? Oder zumindest bestimmte Sondervergütungen streichen? Zum Beispiel die Unterstützung für Fahrtkosten, die bei Mandatar:innen mit einer durchschnittlichen Anreisedauer zum Parlament von 3 Stunden jährlich 26.327,59 € beträgt? Oder das goldene Klavier, das vorübergehend für 140.000 Euro gemietet wurde? Er wird sicher etwas finden.

Dem Elon seine Biographie und das seltsame Gespräch darüber im Spiegel

Walter Isaacson hat eine Biographie über Elon Musk (52) geschrieben. Im Spiegel-Interview spricht er darüber und man kann Erstaunliches erfahren. Isaacson ist, laut Der Spiegel 38, 2023, Geschichtsprofessor an der Tulane Universität in New Orleans und hat dort offenbar so geringe Verpflichtungen an seine Studentinnen, dass er Zeit hat seit Jahren permanent Biographien von berühmten Wirtschaftstreibenden zu verfassen. Dass er 1996 bis 2001 Chef vom Dienst der New York Times, bis 2018 CEO des Aspen Instituts und von 2009 bis 2012 von Präsident Obama als Vorsitzender des Broadcasting Board of Governors eingesetzt war, ist den fleißigen Redakteuren nicht erwähnenswert. Er war also auch 3 Jahre neben seiner Professur für alle internationalen nicht-militärischen Hörfunk- und Fernsehprogramme der Regierung verantwortlich. Eine stolze Leistung. Man möchte fast sagen, Walter Isaacson ist wahrscheinlich ein Genie.

Aber natürlich ist auch das Broadcasting Board eine spannende Angelegenheit: Die offizielle Aufgabe der USAGM ist, Freiheit und Demokratie auf der Welt zu fördern und zu erhalten. Dies soll durch die Verbreitung von korrekten und sachlichen Nachrichten und Informationen über die USA und die Welt an das internationale Publikum umgesetzt werden. Die Sender sind nur im Ausland zu empfangen, da in den USA staatsfinanzierte Inlandspropaganda laut einem Gesetz von 1948 verboten ist.

Also Propaganda für die Änderung der Welt unter der Aufsicht von staatlichen Behörden: Die Rechtsaufsicht über die USAGM liegt beim Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Repräsentantenhauses und beim Ausschuss für Auswärtige Beziehungen des Senats. Die Haushaltsausschüsse beider Häuser des Parlaments sind sowohl für die Mittelbewilligung als auch für die Programmaufsicht zuständig.

Isaacsons Oeuvre umfasst unter anderem Leonardo da Vinci, Henry Kissinger, Benjamin Franklin, Steve Jobs und jetzt Elon Musk. Er bezeichnet jeden einzelnen davon als Genie. Auch wenn ihm zu seinen Protagonisten unterschiedliche Erinnerungen erhalten geblieben sind. Zu Leonardo da Vinci, dem einzigen legitimen Genie in dieser Aufzählung, fällt ihm im Spiegel-Interview nur ein, dass er „schwul“ war. Da kann es schon passieren, dass er in der Biographie über da Vinci diesem Geniekult auf unpassende Weise fröhnt, wie die FAZ damals festhält. Sie schreibt unter anderem: „In dem ‚geradezu peinlich’ berührenden Abschnitt ‚Von Leonardo lernen’ mache er ‚aus Leonardo einen kalifornischen Yogalehrer. ’“ (FAZ 286, 2018)

Um Weisheiten, wie diese zu produzieren, hat er sich für Elon Musks Biographie zwei Jahre Zeit genommen, um sie „an der Seite von Elon Musk“ zu verbringen. Dafür erhielt er, laut devoter Spiegelformulierung „vom reichsten Mann der Welt, Boss von Tesla, SpaceX und Eigentümer von X […] seltene und ungewöhnliche Einblicke in sein Leben“.

Wer hier bereits das Gefühl hat, dass das folgende Gespräch peinlich des Todes wird, hat eine gute Intuition.

Gleich am Anfang erfährt man, wie ein Tag im Leben des Elon aussieht. Er „fängt nicht so früh an, meistens um zehn Uhr“. Das ist doch nett, die Frage brennt natürlich auf der Zunge, ob das für seine Angestellten in den diversen Techkonzernen auch gilt. Also mir. Den Spiegelredakteuren nicht.

Den Rest des Tages lebt Elon den Kommunismus. Nur, dass die berühmte Passage aus der Deutschen Ideologie von Marx und Engels [„in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“] weder dem Geschichtsprofessor, noch den Spiegel-Journalisten bekannt ist, weshalb dieses Pikanterie unkommentiert bleibt.

Jedenfalls steht Musk auf, wann es ihm passt, und dann fliegt er in die Tesla-Fabrik in Austin und widmet sich eine Stunde lang der Lackiererei und erklärt seinen Ingenieuren, wie sie diese beschleunigen können. Danach fliegt er mit dem wartenden Privatjet nach Südtexas zum SpaceX Werk und gibt den dortigen Arbeitern und Angestellten Tipps wie sie die Triebwerke verbessern können. Die Gesichtsausdrücke der professionellen Mitarbeiter während der Belehrung durch den Amateur kann man sich sicherlich vorstellen.

Aber fleißig ist er, das muss man ihm lassen. Den Millionen armen Schweinen gegenüber, die mit ihrem Fleiß diese individual-kommunistische Lebensweise ermöglichen, muss sich Elon nicht solidarisch fühlen. Sein Fleiß ist einfach besser, denn „er konnte sich schon als Kind so sehr auf eine Sache konzentrieren, dass er darin völlig versank. Seine Mitschüler standen dann direkt vor seinem Gesicht, klatschten in die Hände und kamen nicht an ihn ran.“ Was bei Normalsterblichen, aka ökonomisch nicht-privilegierten Menschen, wahrscheinlich zu einer psychiatrischen Diagnose und der damit verbundenen Positionierung am karrieristischen Abstellgleis geführt hätte, wird bei Elon als „extremer Fokus“ verherrlicht, der als Nebeneffekt halt mit sich bringt, dass er ihn „von jeglicher Emotion abschneidet“, „Was ihn oft zu einem ziemlichen Mistkerl macht.“

Wie das zu verstehen ist, klärt sich in der nächsten Antwort des Geniekult-Professors aus New Orleans: „Wenn er nachdenkt, ist es ein Fehler, die Stille zu füllen. […] Es ist sogar gefährlich, diese Stille zu unterbrechen.“ Das hat Isaacson schnell gelernt und sich sofort in die Rolle des Unterworfenen eingefühlt und Elon seinen Ego-Raum gelassen, in dem er oft minutenlang schweigend auf die Antworten des zum Genie verklärten gewartet hat. Eine Rolle, in der man ihn wahrscheinlich während einer Prüfung mit einer seiner Studentinnen an der Universität eher selten gesehen hat. In den Worten des Professors wird aber klar, dass hier nicht nur eine freiwillige Unterwerfung stattgefunden hat, sondern auch eine wahnhafte Übertragung, denn „Dann saß er drei, vier Minuten da und sagte nichts – wie ein Computer arbeitete er nach und nach eine Fülle an Daten ab.“ Hier wird eine vermutlich narzisstische Verhaltensweise als Indikator für Genialität dargestellt. Wo ökonomisch ausgebeuteten Menschen wohl Autismus oder Soziopathie attestiert würde, herrscht hier das Erschauern vor der Macht. Eine Meisterleistung, wie sie wohl nur einem mit allen Wassern der ökonomischen Elite gewaschenen Universitätsprofessor einfallen kann.

Dass Musk in seiner Kindheit durch einen gewalttätigen Vater und unangenehme Camp-Erfahrungen beschädigt wurde, ficht die Theorie, dass seine antisozialen Verhaltensweisen Ergebnis seiner Genialität und nicht einer schweren Traumatisierung sind, für seinen Biographen nicht an. Im Gegenteil es führt zu dem absurden Vergleich, die Beziehung von Elon und seinem Vater sei wie die von Luke Skywalker und Darth Vader. Worauf dann nicht einmal die, ansonsten zu allem bereiten, Journalistendarsteller des Der Spiegel bereit sind einzugehen.

Kurz darauf kommt das Gespräch auf die Twitter-Übernahme und plötzlich geht’s ums Eingemachte. Der Spätaufsteher mit der ADHS-Arbeitsweise ist nämlich dagegen, dass Mitarbeiter Krankenstände antreten können. Beim ersten Besuch in der Twitter-Zentraler störte ihn am meisten, dass es dort Kantinen und gesundheitsfördernde Maßnahmen gab. Vor allem Krankenstände bei psychischen Problemen schließt er für seine Mitarbeiter kategorisch aus. Wahrscheinlich, weil sie ihm selbst am besten täten. O-Ton des Professors: „Er mag es nicht, wenn sich Mitarbeiter psychologisch zu sicher fühlen. Sie sollen Getriebene sein, so wie er.“ Ohne besonderen Anlass hier die Grundmerkmale von Soziopathie: sprunghaftes, impulsives Verhalten, das oft egoistisch und rücksichtslos wirkt, sowie die Unfähigkeit sich in andere hinein zu versetzen.

Dem korrespondiert seine Beziehung zu seinen nächsten männlichen Verwandten: „Sie lieben sich, prügeln sich und treten sich manchmal in die Eier.“ Eine Formulierung, wie sie nur ein wahrer akademischer Forscher entwickeln kann. Und konsequent sagt dieser Erforscher des Musk: „Man kann den Mann, der sich ins Risiko stürzt, nicht von dem trennen, der rücksichtslos mit seinem Mitmenschen umgeht.“

Kollateralschäden sind beim Aufstieg eines genialen Soziopathen halt nicht zu vermeiden. Kann man nix machen. Das macht ihn aber nicht zu einem Genie, so Isaacson. Zum Genie wird er dadurch, dass er „mit 20 Ingenieuren zusammensitzen und visualisieren“ kann, „wie sich der Einsatz von Edelstahl in seiner Starship-Rakete auswirken wird.“ Glaubt der Professor wirklich daran? Wenn ja, handelt es sich dabei um magisches Denken. Also den zwanghaften Glauben einer Person, dass ihre Gedanken, Worte oder Handlungen auf magische Weise ein bestimmtes Ereignis hervorrufen oder verhindern können, wobei allgemeingültige Regeln von Ursache und Wirkung ignoriert werden. Was bei Kindern belächelt und bei ökonomisch nicht privilegierten Erwachsenen zu Kopfschütteln führen würde, führt bei Isaacson zum Urteil Musk sei ein Genie. Dass er nebenbei Autoritäten hinterfragt und an den Verhältnissen rüttelt, ist dabei nicht Ausweis seiner Unreife und Renitenz, wie es das bei einem normalen Arbeiter wohl wäre, sondern eine Heldentat. So wie folgende Heldentat: zu der Frage, ob sein Tesla Autopilot an einem Stoppschild halten soll, sagt Musk in der Erinnerung von Isaacson: „Das ist bescheuert. Menschen machen das auch nicht.“ „Er ignorierte also einfach die Verkehrsregeln. Für manche macht ihn das zum Helden.“ Ein Held der die Straßenverkehrsordnung ignoriert, kann auch zum Mörder werden, wenn daraus ein vermeidbarer Unfall entsteht.

Ein solcher Held kann sich mit Lappalien nicht abgegeben. Das 12.000 Dollar teure Full Self Driving System in seinen Autos ist etwa alles andere als selbstfahrend. Da bleibt sogar dem wohlmeinenden Reporter des Der Spiegel der Mund offen: „Das ist doch ein Bluff.“

Die verblüffende Antwort darauf zusammengefasst. Ja schon, aber er darf das und überhaupt ist es kleinlich einem Großdenker so eine Kleinigkeit vorzuwerfen. „Er ist fixiert auf große Zukunftsvisionen.“ Eine „Realitätsverzerrung“, wie auch der Professor zugibt, aber ohne sie, wie er gleich hinzufügt, wäre Musk nicht so erfolgreich.

Wie erfolgreich er im Privatleben ist, kann man der Schilderung des nächsten biographischen Sachverhalts entnehmen, bei dem von Seiten Isaacsons, mehrere politisch inkorrekte Invektive zum Einsatz kommen, die vom Spiegel unkommentiert stehen bleiben. Es geht darum, dass sich Elon in den letzten Jahren politisiert hat. Grund dafür scheint für den Biographen die „Transition seiner Tochter Jenna“ zu sein. „Mehr als die Geschlechtsangleichung traf ihn die Tatsache, dass Jenna in dieser Zeit auch Marxistin wurde. […] Er begann zu glauben, dass sie sich mit dem woken Gedankenvirus infiziert und ihre Schule sie linksradikal gemacht hatte.“ Marxismus, woker Gedankenvirus, Schule, Linksradikalität. Die Reizwörter der rechten Wutbürger. Strohmänner für die Spiegelgefechte der Reaktionären. Der Spiegel schweigt dazu.

Konsequent in seiner Widersprüchlichkeit unterstützt Elon natürlich politische Kandidaten „die gegen das Establishment sind“. Dass der Spiegel darauf ausnahmsweise gekonnt ironisch hinzufügt, dass Musk nicht nur „der reichste der Welt, sondern auch einer der mächtigsten“ ist, und somit, wenn man diesen Gedanken einfach mal ausspricht, zum Establishment gehört, erschüttert den genialen Biographen in keiner Weise.

Dass er nebenbei selbstherrlich Weltpolitik betreibt und etwa der ukrainischen Armee Zugang zu Satellitendaten gewährt oder verweigert, wie es ihm passt, dass er laut seiner Aussage mit Putin persönlich telefoniert und einen Friedensplan für Taiwan vorgelegt haben soll, zeigt nicht etwa Größenwahn, sondern, dass er sich selbst als „großen, weltgeschichtlichen Charakter“ sieht, der aber nach wenigen Jahren begriffen hat, „dass der globale Friedensstifter keine passende Rolle für ihn ist“. Wieder ein Hinweis auf die Aufmerksamkeitsspanne dieses Genies. Weltfrieden ist entweder in zwei Jahren zu erreichen oder einfach gar nicht. Und dann beschäftigt man sich halt mit etwas anderem. Mit was, diese Frage bleibt offen. Hoffentlich nicht mit dem Gegenteil von Weltfrieden, denn davon hatten wir im Interesse des großen Kapitals bereits genug.

Egal, wie das politische Abenteuer für Musk weitergeht, es bleibt jedenfalls spannend, denn er „hat eine düstere Weltsicht“ und „liebt Drama“, „er denkt ständig an den Weltuntergang“ genau was der menschlichen Geschichte noch gefehlt hat: Ein Mannbaby mit Weltuntergangsfantasien.

Das Subjekt im Netz

Ein Gespräch mit Nivine El-Aawar.

Stefan: Luke Munn schreibt Algorithmen verfügen über eine politische Qualität. Erst einmal erzeugt, gestalten sie von selbst unsere politischen Agenden mit. Virginia Eubanks zeigt in ihrer Studie „Automating Inequality“, wie Algorithmen im Versicherungswesen in den USA eine diskriminierende und Armut verstärkende Wirkung haben. Sie fürchtet, dass die damit verbundenen Mechanismen des „red flagging“ Arme kriminalisieren und digitale Armenhäuser erzeugen könnte.

Nivine: Dem würde ich zustimmen. Algorithmen reproduzieren soziale Ungleichheiten. Dies ist der Fall, da personenbezogene Daten verarbeitet werden, welche die Interessen und Vorlieben der Nutzer*innen darstellen. Im Sinne von Bourdieu spiegeln diese den Habitus wider, welcher die soziale Position von Individuen darstellt. Wenn nun also quasi ein „digitaler Habitus“ von Algorithmen in Form von digitalen Nutzer*innenprofilen kreiert wird und dann genutzt wird, um Inhalte, wie Videos, personalisierte Werbeanzeigen, Nachrichten etc. zu kuratieren, können Algorithmen soziale Ungleichheiten nicht nur reproduzieren, sondern diese auch verstärken.

Ela: Eine Studie von 2020 (Silvia Milano, Mariarosaria Taddeo & Luciano Floridi) mit dem Titel „Recommender systems and their ethical challenges“ hat sich mit einigen Problemen im Zusammenhang mit Algorithmen befasst. Wie du bereits gesagt hast: Wenn die Klassifizierung durch den Algorithmus für die Erstellung der Nutzermodelle auf Grundlage der gesammelten Nutzerdaten basiert, werden soziale Kategorien reproduziert.

Außerdem sind Empfehlungssysteme im Zusammenhang mit Nachrichten und sozialen Medien so konzipiert, dass Nutzer*innen in ihren Filterblasen „gehalten“ werden, also sie kommen gar nicht dazu sich mit anderen Standpunkten auseinandersetzen zu müssen, sondern werden geradezu mit immer ähnlichem Content und gleichartigen Meinungen zugespammt. Bereits vorhandene Vorurteile werden dadurch verstärkt.

Zudem sind solche Algorithmen für politische Manipulation anfällig, da besonders aktive Nutzer*innen bzw. jene mit einer besonders großen Anzahl an Follower*innen die öffentliche Meinung beeinflussen können, indem sie starke positive Rückkopplungen im System erzeugen – was dazu führt, dass ihr Content besonders häufig empfohlen wird.

YouTube arbeitet ja auch so. Der ehemalige YouTube-Mitarbeiter Guillaume Chaslot hat eine Software geschrieben, um einen Einblick in die Empfehlungsmaschinerie von YouTube zu geben. Sie simuliert das Nutzer*innenverhalten und zeichnet Daten darüber auf, welche Videos von YouTube empfohlen werden, um im Endeffekt die „Vorlieben“ des Algorithmus abzubilden. Chaslots Untersuchungen legen nahe, dass YouTube systematisch Videos vorschlägt, die polarisierend, sensationslüstern und verschwörerisch sind.

Die Soziologin Zeynep Kufekci geht davon aus, dass YouTube mit Verschwörungscontent seinem Ziel der Verlängerung der Verweildauer seiner Nutzer*innen effizienter näherkommt, weshalb der Algorithmus solchen Content bevorzugt. „Die Frage“, so Kufekci, sei „ob es ethisch vertretbar“ sei, dies auch zu tun, „nur weil es funktioniert“.

Ähnliches hat die Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen 2021 über die Social Media Plattformen Instagram und Facebook verlauten lassen. 2017 hat Facebook eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, um herauszufinden, ob die Maximierung der Nutzer*innenaktivität zur politischen Polarisierung beiträgt. Man kam zum Ergebnis, dass es einen Zusammenhang gebe, aber eine Verringerung der Polarisierung hätte einen Rückgang des Nutzer*innen-Engagements bedeutet. Lösungen wie die Optimierung der Empfehlungsalgorithmen stellten sich als „wachstumsfeindlich“ heraus und wurden nicht weiterverfolgt.

Stefan: Rebecca Giblin und Cory Doctorow schreiben, dass der Online-Werbemarkt ein Betrugskonzept ist. Denn was schließlich darüber entscheidet, ob etwas überhaupt gesehen wird, ist nicht die Werbung, sondern Algorithmen. Das Datensammeln hilft nicht unbedingt beim Anpreisen von Waren. Um John Wanamaker, den ehemaligen Postminister der USA und Erfinder der modernen Werbung, zu zitieren: „Half the money I spend on advertising is wasted; the trouble is, I don’t know which half.“

Aber um das richtig verstehen zu können müsste man mal einen Schritt zurücktreten. Was sind Daten und wie verwandeln sich Daten in Ressourcen?

Nivine: Daten können allgemein als logisch geordnete Informationseinheiten bezeichnet werden, welche meist aus Codes bestehen und Symbole, Zahlen sowie Buchstaben kombinieren. Erst die IT-Systeme können diese Codes auswerten und somit die Daten verarbeiten.

Dabei ist zu betonen, dass es sich bei Debatten zum Thema Digitalisierung meistens um personenbezogene Daten handelt. Darunter werden einerseits sowohl sozioökonomische Daten als auch solche verstanden, welche individuelle Meinungen in Form von Beiträgen, Likes und Kommentaren darstellen. Außerdem fallen Verhaltensdaten, wie Suchanfragen und Metadaten, also Informationen über den Standort, unter den Begriff der personenbezogenen Daten.

Mithilfe von Datenanalysen und künstlicher Intelligenz werden sogenannte „prediktive Analysen“ durchgeführt, wodurch Vorhersagen über menschliches Verhalten getroffen werden können. Diese Vorhersagen haben zu einem sehr profitablen Markt geführt – vor allem für Plattformunternehmen wie Instagram und TikTok. Diese Unternehmen profitieren nicht nur davon, dass individuelles Verhalten vorherbestimmt werden kann, sondern auch davon, dass sich Gedanken und Verhalten aktiv beeinflussen lassen. Die Nutzer*innen werden zu transparenten Individuen, welche sich oftmals – ohne es zu wissen – in einer digitalen Sphäre befinden, welche aus ihnen Waren und Konsument*innen zugleich macht. Wie bereits Shoshana Zuboff 2018 in ihrem Buch „Überwachungskapitalismus“ beschreibt, werden menschliche Erfahrungen zu Rohstoffen für Verhaltensdaten, die es Unternehmen ermöglichen Profite zu generieren.

Dabei werden die Online-Welten von Algorithmen dominiert, indem sie die Plattformen strukturieren und deren Inhalte kuratieren. Besonders die Personalisierungsmechanismen gehen mit diversen Gefahren, wie Radikalisierungstendenzen, Überwachungsmechanismen, Intransparenz und Manipulation im Sinne der Wirtschaft einher.

Stefan: Bei Shoshana Zuboff, auf die du vorher schon hingewiesen hast, gibt es den Begriff des „Verhaltensmehrwerts“. Dieser wird im Fall von Google aus „surveillance asstes“ gewonnen aus denen „surveillance revenues“ erzielt werden, die in einem letzten Schritt in „surveillance capital“ verwandelt werden. Umso mehr die algorithmischen Maschinen an Verhaltensmehrwert konsumieren, umso präziser werden sie mit der zukünftigen Ausbeutung davon. Was macht das Datensammeln, Stichwort Big Data, mit uns und was ist algorithmische Personalisierung?

Nivine: Bei Algorithmen handelt es sich um programmierte Mechanismen, die mit Hilfe von Such- und Sortiervorschriften anhand von Datensätzen Interessen und Vorlieben erkennen können und daraus Wahrscheinlichkeiten und Folgerungen ableiten können. Genauer beschrieben sucht ein Algorithmus Datensätze und verknüpft diese miteinander, wodurch sich Entscheidungsempfehlungen ableiten lassen.

Das Ziel von Unternehmen ist es, mithilfe von Algorithmen einen individuellen Markt für die Nutzer*innen zu schaffen. Individuen erhalten personalisierte Inhalte, wodurch Unternehmen ihre Profite vergrößern können. Das Verhalten von Individuen wird also von Algorithmen verarbeitet, welche lernen die Interessen und Vorlieben der Nutzer*innen zu erkennen und kategorisieren. Ein besonders prägnantes Beispiel stellt der Algorithmus von TikTok dar, welcher die Startseite, die sogenannte „For You Page“ kuratiert. Hierbei haben Studien gezeigt, dass TikToks Algorithmus so leistungsfähig ist, dass er in der Lage ist, die Vorlieben und Interessen der Nutzer*innen in weniger als 40 Minuten zu erlernen.

Algorithmen strukturieren somit mithilfe von personenbezogenen Daten nicht nur die digitale Sphäre, sondern zunehmend das menschliche Leben als Ganzes.

Ela: 2021 wurde ein Dokument geleakt, das als „TikTok Algo 101“ betitelt war. Das „ultimative Ziel“ von TikTok ist die tägliche Vergrößerung der Zahl der aktiven Nutzer*innen. Deshalb hat man sich entschieden, den Videostrom auf zwei Messgrößen festzulegen: „Retention“, ob der Nutzer wiederkehrt, und „Verweildauer“. Ziel ist es die Nutzer*innen so lange wie möglich auf der Plattform zu halten, sie also im Endeffekt abhängig zu machen. Ich glaub man kann auch hier – wie bei YouTube, Facebook, etc. – davon ausgehen, dass man mit kontroversen Inhalten eher die Leute zum Dableiben anregt. Es geht eben um Profit.

Stefan: Was ist ein digitales Subjekt?

Nivine: Die digitale Sphäre, insbesondere soziale Medien, können als ein sozialer Raum verstanden werden. In diesen sozialen Räumen verbringen die Nutzer*innen ihre Zeit und interagieren mit der Plattform und anderen Nutzer*innen. In diesem Zusammenhang können digitale Subjekte identifiziert werden. Als digitales Subjekt kann eine Person beschrieben werden, die aus Daten, Profilen und anderen digitalen Aufzeichnungen besteht. Das digitale Subjekt unterscheidet sich vom lebenden Selbst, knüpft aber an die Subjektivität der lebenden Person an. Digitale Subjekte können als neue Formen der Subjektkonstruktion gesehen werden, die auf computergestützten Prozessen in der digitalen Sphäre basieren.

Stefan: Das klingt noch ein wenig abstrakt. Die Geschichte des Subjektbegriffs verweist auf den Herrschaftszusammenhang und heute besonders auf das Kapitalverhältnis. Der Subjektbegriff ist notwendig eng an die materiellen Verhältnisse gebunden oder er wird unklar. Zunächst einmal entsteht mit dem Subjekt auch die Herrschaft. Bei Althusser wird das Individuum zum Subjekt indem es in eine bestehende Struktur eingefügt wird. Michel Foucault bezeichnet es als Einfügung in eine Ordnung.

Aber es geht bei der „Subjektivierung“ auch um einen Wahrnehmungsprozess. Bei Marx erscheint das freie Individuum als Teilnehmendes am Produktionsprozess und Warentausch. Erst im Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft kann sich das Individuum wirklich vereinzeln. Dabei verliert es aber zugleich die bewusste Wahrnehmung, die ein Sklave, Leibeigener oder Adliger noch haben musste: Dass seine gesellschaftliche Position von äußeren Zwängen mitbestimmt wird. Wir sind uns in dem Maß unseres gesellschaftlichen Zusammenhangs nicht mehr bewusst, indem wir scheinbar von den Zwängen der Gesellschaft befreit werden. Im digitalen Bereich erscheint dieser Sachverhalt noch diffuser.

Vielleicht wäre es also gut, diesen Subjektbegriff ein wenig zu konkretisieren.

Nivine: Der Subjektbegriff im Kontext des Digitalen ist sehr komplex, besonders im Kontext von Machtverhältnissen. Prinzipiell wird in den wissenschaftlichen Debatten nicht mehr zwischen der analogen und der digitalen Sphäre/Subjekt unterschieden. Mit dem digitalen Subjekt ist in diesem Kontext jedoch gemeint, dass die Plattformen Informationen über die Nutzer*innen in Form von Daten sammeln. Aus diesen Informationen werden Profile generiert, welche „digitale Subjekte“ darstellen. Diese Profile sind entscheidend für profitorientierte Strategien der jeweiligen Plattformunternehmen. Damit einher gehen asymmetrische Machtverhältnisse. Dies hat unterschiedliche Gründe. Ein entscheidender Grund ist jedoch die Informationsasymmetrie. Unternehmen wissen nahezu alles über die Nutzer*innen, für die Nutzer*innen sind die digitalen Infrastrukturen, besonders die Algorithmen, jedoch eine Black-Box. Besonders aus der Intransparenz der Algorithmen ergeben sich große Manipulationspotentiale im Sinne der Wirtschaft. Daher kann in diesem Rahmen sicherlich mit Foucault argumentiert werden, dass sich Subjekte „in eine Ordnung einfügen“. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht, dass besonders soziale Medien rein von den Unternehmen kontrolliert werden und somit einen Raum darstellen, der rein wirtschaftsbasiert funktioniert.

Um die Fragen zu beantworten, wie genau die Subjektivierungsprozesse im Digitalen aussehen, was daran neu ist und inwieweit neue theoretische Ansätze dafür benötigt werden, braucht es weitere Forschung. Dies ist besonders wichtig, um zu verdeutlichen, dass es sich bei der digitalen Sphäre nicht um einen freien und neutralen Raum handelt, in dem unabhängig von der gesellschaftlichen Position und sozioökonomischen Situation „alles möglich ist“, wie es uns die Unternehmen weismachen möchten.

Stefan: Der Begriff des Profils stammt übrigens aus der Kriminologie. Ein Profiler ist einer, der einen Tatort analysiert und aus den dort auffindbaren Spuren ein Profil erstellt, aus dem dann abgeleitet werden kann, wie sich der Täter in Zukunft verhalten wird. Wo die nächste Tat stattfindet, oder was seine Motive für die Tat sein könnten. Das wir ein solches „Täterprofil“ mittlerweile freiwillig anlegen, ist eine interessante Entwicklung.

Ela: Das ist lustig, meine ersten Erfahrungen mit den sozialen Medien hab ich damals bei uboot.com gemacht, und bei fm4, da gabs diese Profilseiten. Da hat das angefangen mit dieser „Offenbarungswut“, aber ich denke, dass das auch viel damit zu tun hatte, dass die durchschnittlichen Nutzer*innen da zwischen 15 und 20 waren. Da hat man dann so Sachen ins Profil geschrieben wie Spitznamen und Songzitate, Buchzitate usw. Da hat das angefangen mit der Selbstkategorisierung, was sicher auch dem geschuldet war, dass man eben für andere Nutzer*innen gleich kurz und knackig Hinweise sähen wollte, auf welcher Seite man steht, was man für Musik hört, etc., da ging es eben auch um Abgrenzung, damit man nur mit solchen in Kontakt kommt, die für einen interessant sein könnten. Das ist ja bis heute so, nur dass das eben inzwischen von Algorithmen übernommen wird.

Stefan: Da entstehen Bubbles und Echo-Kammern. Selbstverstärkende Meinungsräume. Eine Meisterklasse in der möglichst verkürzten Meinungsäußerung ist TikTok. Was macht man auf TikTok?

Nivine: In den letzten Jahren hat die chinesische App „TikTok“ internationale Popularität erlangt. TikTok ist eine Kurzvideo-App, die Videos mit einer Länge zwischen 15 und 60 Sekunden enthält. Vor allem durch die Ausrichtung auf Jugendliche dominierte die App den Teenager-Markt und wurde zu einer viel genutzten App, mit mehr als 1 Milliarde Nutzer*innen.  Zudem führte der Ausbruch von Covid-19 zu einem rasanten Anstieg der Nutzer*innenzahlen. Die App basiert auf dem schnellen Konsum von Videoinhalten und ermöglicht es den Nutzer*innen, eine Vielzahl von Funktionen wie Filter, Hashtags, Musik und Videobearbeitung zu nutzen, was die Erstellung von Inhalten aufgrund der einfachen Nutzung fördert. TikTok prägt mittlerweile die (Pop-)kultur, der jüngeren Generationen, durch virale Trends, wie Tanzvideos, Fashion-Trends, aber auch politische Diskurse. 

Ela: Apropos Covid und Trends. Eine TikTokerin hat 2020 die Idee gehabt, man könnte sich ja als Symbol der „Einheit“ und „Rebellion“ gemeinsam ein Tattoo stechen lassen, ein Z, mit einer horizontalen Linie durch die Mitte, das für Generation Z stehen sollte. Dieser Trend kursierte unter dem Hashtag #GenZTattoo. Mehrere Userinnen kamen diesem Vorschlag gerne nach, bis andere begannen darauf hinzuweisen, dass das Symbol eine verdächtige Ähnlichkeit mit der Wolfsangel habe, die von einigen SS-Divisionen verwendet wurde, sowie noch heute als Symbol der Wehrhaftigkeit bei Rechtsextremen gern in Gebrauch ist. Nachdem die Starterin des Trends Todesdrohungen bekommen hat, hat sie ein Entschuldigungsvideo gepostet und Merchandising mit dem Z aus ihrem Etsy-Shop entfernt.

Ebenfalls 2020 haben K-Pop-Stans zahlreiche freie Tickets für Donald Trumps Rally in Tulsa, Oklahoma, reserviert, und damit potenziell die Zuschauerzahl beim Event dezimiert. Der Twitteraccount @TeamTrump hatte davor seine Anhängerinnen gebeten sich für freie Tickets bei der Rally zu registrieren, was von den K-Pop-Stans fleißig geteilt wurde und sich schließlich auch auf TikTok verbreitete. Die meisten Userinnen löschten ihre Tweets und TikToks nach einem Tag, um das Vorhaben geheim zu halten. Bei einer Kapazität von 19.000 Zuschauern wurden beim Event nur 6.200 Tickets vor Ort gescannt.

Stefan: Aber TikTok ist nicht nur politisch, sondern betrifft auch unser Selbstbild.

Ela: Eine Studie von 2022 mit 778 jungen amerikanischen Collegestudentinnen hat ergeben, dass die Nutzung von TikTok indirekt mit der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper zusammenhängt, dass diese den Vergleich des eigenen Aussehens nach oben hin und eine stärkere Überwachung des eigenen Körpers befördert, und das auch bei Nutzerinnen die ein hohes Maß an Medienkompetenz vorwiesen und Inhalte konsumierten, die Körperakzeptanz und Body Positivity behandelten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die regelmäßige und konsequente Nutzung von TikTok dem Körperbild von Frauen schaden kann, und dass Frauen mit einem höheren Maß an Körperakzeptanz und Kritikfähigkeit sowie an Medienkompetenz für diese negativen Auswirkungen am anfälligsten sein könnten.

Stefan: Die Medienwissenschaftlerin Stine Lomborg setzt sich mit den materiellen Grundlagen des digitalen Trackings auseinander. Web-Cookies oder sensorbasierte Technologien werden dazu genutzt digitale Funktionen und Dienste etwa auf Plattformen zu optimieren. Sie dienen aber auch der Überwachung der Generierung von Daten zum Trainieren von maschinellen Lernmodellen und anderen Entwicklungen in der KI.

Die potentiellen negativen Folgen des Trackings sind für sie äußerst dystopisch. Sie sagt, wir opfern das Recht, frei über unsere eigene Zukunft zu entscheiden. Gerade vulnerable Gruppen nehmen durch Tracking mehr Schaden als andere. Einwanderer werden ins Visier genommen und ihre Zukunft von den gewonnenen Erkenntnissen abhängig gemacht. Umfassende digitale Erfassung ist für Lombog eine infrastrukturelle Macht, die liberale Werte wie Gleichheit und Autonomie gefährdet und unsere Gesellschaften einem abstrakten Wandel unterzieht.

Wenn ich das höre, frage ich mich wovon wir ausgehen können. Sind diese liberalen Werte überhaupt so weit verwirklicht, dass wir uns über ihren Verlust Gedanken machen müssten? Oder anders gefragt können wir sie leben, wenn sich die Subjektivität in den digitalen Bereich verlagert? Und wie sieht das aus?

Daran anschließend: Ist eine digitale Subjektivierung wünschenswert? Wenn ja, wie wird sie sich auf die analogen Individuen auswirken. Wenn nein, was sind die Widerstandsmöglichkeiten dagegen? Und wie sinnvoll ist es überhaupt sich zu wehren?

Nivine: Ob eine digitale Subjektivierung wünschenswert ist oder nicht, ist eine berechtigte Frage. Die Tatsache ist jedoch, dass sich die Sozialisationsprozesse, besonders von jüngeren Generationen bereits zu einem Großteil in das Digitale verlagert haben. Es kann sogar von einer digitalen Vergesellschaftung gesprochen werden. Diese digitale Subjektivierung wird auch in Zukunft nicht verschwinden, sondern im Gegenteil immer ausgeprägter und relevanter werden

Die aufgeführten Trends und Debatten auf TikTok haben gezeigt, dass gesellschaftspolitische Debatten digital geführt werden können, dass Standards über Körper digital diskutiert werden, dass digitales Tracking an Ländergrenzen genutzt wird. Diese Entwicklungen sind größtenteils von Unternehmen, welche die Technologien und Infrastrukturen zur Verfügung stellen, dominiert. Die Frage ist jedoch, wie gehen wir damit um? Wie können Kinder und Jugendliche schulisch digitale Kompetenzen lernen, in denen sie über die Gefahren aufgeklärt und sensibilisiert werden? Was muss die Politik tun, um schnell auf Entwicklungen reagieren zu können? Und wie können die negativen Auswirkungen minimiert werden? All diese Fragen werden in den nächsten Jahren geklärt werden müssen.

Stefan: Die Frage ist sicherlich auch, was machen wir mit Körperbildern, die gar nicht mehr von menschlichen Körpern geprägt werden, sondern von Deepfakes. Ich sehe in meiner Facebook-Timeline immer öfter so genannte Celebrity Deepfakes. Wo also die Gesichter von berühmten Schauspielerinnen oder Sportlerinnen (fast immer sind es übrigens Frauen) auf meist vereinheitlicht überproportionierte Körper montiert werden. Und von den Kommentaren kann ich sagen, dass tausende Männer bereit sind diese Körperbilder sofort ohne Ironie zu akzeptieren.

Ela: Ja, aber dass es da irgendwie einen Hang gibt unrealistisches Zeug aus dem Internet gut zu finden, ist ja auch nichts neues, das kennen wir ja schon von Pornografie. Und das sind dann wahrscheinlich dieselben, die in Pseudodiskussionen auf Social Media behaupten, dass Body Positivity so überhandnimmt, und dass man über Frauenkörper gar nichts mehr Negatives sagen darf, während man sich über Leonardo DiCaprios Dad Bod ganz offen lustig machen darf. Dann frag ich mich aber, wann haben wir je aufgehört uns über Frauenkörper lustig zu machen? Weil es jetzt ein paar Hansln gibt, die versuchen mit übertriebener Body Positivity dagegen zu steuern, kann man doch noch lange nicht davon reden, dass das irgendwie ein gesamtgesellschaftlicher Trend ist, dass Frauen öffentlich fett sein dürfen und dass es Konsequenzen für Bullys gibt.

Stefan: Das Subjekt hängt im Netz seiner eigenen Klischees und der Imperative, die ihm das Kapitalverhältnis ständig vorhält. Davon kann sicherlich auch Elon Musk ein Lied singen, wenn er sich angesichts des gefrorenen Kopfes von Peter Thiel fragt: „Subjekt oder nicht Subjekt?“

Die kalifornische Ideologie

Ein Gespräch mit Sophie Ströbitzer

Stefan: Aus den biographischen Apokryphen über Elon Musk kann man entnehmen, dass er seinen heutigen Reichtum unter anderem damit begründet, dass er zwei Diamanten aus dem Familienbesitz verkauft. Bei einer Tiffany’s Filiale in New York. Danach studiert er erstmal ausgiebig in Kanada und den USA. Seine erste Geschäftsgründung ist 1994 das Unternehmensportal Zip2 für das ihm sein Vater das Startkapital zur Verfügung stellt. 1999 verkauft er es für 307 Millionen Dollar, von denen 22 an ihn gehen. Ist Elon Musk ein Selfmade Man?

Sophie:  Die Frage lässt sich nur durch eine weitere beantworten: Ab wann ist man “selfmade”? Elon Musk ist sicherlich nicht in Armut aufgewachsen. Er konnte sich sein Studium finanzieren und sein Vater unterstützte seinen Bruder und ihn bei ihrer ersten Firmengründung, laut dem Biographen Ashlee Vance, mit 28.000 US-$, durch die sich die beiden beispielsweise Software-Lizenzen, ein Büro, sowie Equipment leisten konnten. Musk bestreitet das allerdings mittlerweile. Den Großteil des Fundings für Zip2 erhielten die beiden durch Silicon-Valley-Investoren, mit deren Kapital sie es schließlich schafften, das Unternehmen in wenigen Jahren in eine Multi-Millionen-Dollar-Firma zu transformieren. Das Geld seines Vaters trug dazu zwar seinen Teil bei, trotzdem kann man Musk, vor allem in Betracht der Geldsumme, über die er heute verfügt, den Titel “selfmade” nicht nehmen. 28.000 sind eine beachtliche Summe, wenn man von der Hand in den Mund lebt, aber Musks Erfolg ist keinesfalls signifikant durch das Vermögen seiner Familie bedingt.

Ela: Forbes hat 2019 in einem Artikel Kylie Jenner, Tochter von Caitlyn und Kris Jenner, als jüngste „Self-made“ Milliardärin bezeichnet. Kylie verkauft jetzt Kosmetikprodukte, eine wahrlich innovative Idee und ein Produkt, mit dem jeder reich werden könnte – wenn er Kylie Jenner hieße. Über die enormen Vorteile, die sich ergeben, wenn man aus einer wohlhabenden Familie stammt, die noch dazu 24/7 im Rampenlicht steht, und zudem über Vitamin B verfügt, hat der Artikel geschwiegen. Nachdem sich aber einige Leute recht darüber empört haben, hat Forbes einen weiteren Artikel nachgeschossen, in dem man darüber aufklärte, was alles „Self-made“ heißen kann. Kurz zusammengefasst könnte man sagen „Self-made is a spectrum“.

Und auch bei Elon Musk könnte man wieder fragen, wie kommt er überhaupt zu diesen Investoren? Ich meine, über welche sozialen Kontakte, oder wie Bourdieu sagen würde, über welches soziale Kapital verfügt er? Kann es sein, dass soziales Kapital auch vererbt wird? Und, wie bedingen sich die Kapitalformen gegenseitig? Und man könnte sich fragen, ob es für Unternehmer mit finanziellem „Polster“, aus wohlhabenden Familien, nicht auch einfacher ist überhaupt ein Unternehmen zu gründen und Risiken einzugehen als für Unternehmer ohne ein Sicherheitsnetz. Wäre Musk ohne das Geld bzw. die sozialen Kontakte des Vaters heute dieser „Selfmade“-Milliardär, der er angeblich ist?

Das ist ja auch ein Image, in das er viel Arbeit steckt, um es aufrecht zu erhalten. Die medial kursierende Behauptung, dass sein Vater eine Smaragdmine in Zambia habe, streitet Musk vehement ab – vor kurzem hat er sogar demjenigen, der beweisen könne, dass es die Smaragdmine gäbe, eine Million Dogecoins (DOGE) angeboten – worauf sich sein Vater selbst zu Wort meldete und fragte, ob er an der Herausforderung teilnehmen dürfe, denn er könne es beweisen. Aber eigentlich ist es doch unerheblich, ob es die Smaragdmine nun gibt, oder nicht. Elon Musk stammt sicher nicht aus ärmlichen Verhältnissen, da ist es dann schon egal, ob man die eine Anlage mehr oder weniger besitzt. Das Geld „arbeitet“ ab einem gewissen Zeitpunkt schon „für sich selbst“. Und ein anderer käme gar nicht in die Lage mit Smaragdminengerüchten zu kokettieren.

Sophie: Wie bei so vielen anderen Selfmade-Millionären auch, variieren wie man sieht auch bei Elon Musk die Informationen zu seinem Startkapital sowie dem Vermögen seiner Familie, das ihm in seiner Karriere vielleicht einen Startschuss gegeben habe. Dass seine eigenen öffentlichen Statements und die seines Vaters immer mal wieder nicht übereinstimmen, ist natürlich fragwürdig und Musk ist sicherlich bedacht sich weiterhin so “selfmade” wie möglich zu präsentieren, trotzdem denke ich weiterhin, dass ihm dieser Titel bis zu einem gewissen Grad auch zusteht. Privilegien, die er als weißer Mann, der (höchstwahrscheinlich) nicht in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, genießt, fließen allerdings natürlich in seinen Karriereverlauf mit ein.

Mit einer Kylie Jenner, die seit sie ein Kind ist, mehr oder wenig freiwillig vor der Kamera steht und bereits vor ihrer Geschäftsgründung einen enormen Bekanntheitsgrad sowie eine Fanbase hatte, kann man ihn allerdings nicht vergleichen. Kylie Jenner wurde defintiv in dieses soziale Kapital geboren und kann meines Erachtens nach deshalb auch nur bedingt als “selfmade” angesehen werden – wobei man auch die Frage in den Raum werfen kann, ob sie für dieses Kapital mit einer Kindheit im Auge der Öffentlichkeit und null Privatsphäre nicht auch irgendwo ihren Teil bezahlt hat. Dass der Begriff als Spektrum verstanden werden muss, ist wahrscheinlich richtig, trotzdem würde ich Musk aufgrund von potenziellen Kontakten seiner Familie nicht absprechen, sich den Status den er heute als Unternehmer hat, zum größten Teil selbst aufgebaut zu haben.

Stefan: Jeff Bezos war ja bevor er Amazon gegründet hat bereits ein Spitzenverdiener, der im höheren Management der taiwanischen Mobilfunkfirma FITEL und danach für große New Yorker Vermögensberater wie Bankers Trust gearbeitet hat. Er hat dann zur Gründung von Amazon extra ein Haus mit Garage erstanden, wie sein Biograph Brad Stone schreibt. Warum hat er das getan? Um in dieser Garage sein Büro einzurichten und sozusagen Amazon aus der Garage heraus aufzubauen, wie das Selfmade Men halt so machen. Man sieht, es geht immer auch um den richtigen Anstrich. Dafür eignen sich Ideologien. Das sind breit anerkannte Überzeugungen und Einstellungen, die aufgrund ihrer Verbreitung und ihrer sozialen Rolle für objektiv richtig gehalten werden. Sie sind ein falsches Bewusstsein von einem konkreten Inhalt. Ideologie ist also kein falscher Inhalt, sondern eine falsche Form des Denkens des Inhaltes. Ideologie versucht bestehendes Unrecht zu rechtfertigen.

Ein Beispiel: Wer Radfahren geht, um politisch frei zu sein, hat etwas falsch verstanden. Wer an der Marktwirtschaft teilnimmt im Glauben dadurch politisch frei werden zu können, ist auf eine Ideologie hereingefallen.

Was ist eigentlich eine kalifornische Ideologie?

Sophie: Die kalifornische Ideologie ist eine besondere Art von Ideologie, da sie keine aktiven Vertreter*innen hat, die sich ihr zuordnen. Sie ist eine Hypothese der Sozialwissenschaftler Andy Cameron und Richard Barbrook, die im Zuge des Technologiebooms der 90er im Silicon Valley entstand. Die beiden Wissenschaftler beschreiben mit der von ihnen begründeten kalifornischen Ideologie die Philosophie und Weltvorstellung einer gewissen Gruppe von Menschen zu dieser Zeit. Sie bemerkten eine neue Art “Unternehmerkult”, die sowohl durch die Verbreiterung des Internets als auch seiner Kommerzialisierung entstanden sein soll.

Stefan: Sie beschreiben damit einen Glauben an die emanzipatorischen Möglichkeiten die durch moderne Technologien entstehen können.

Sophie: Die Kernphilosophie ist der Glaube, durch den technologischen Fortschritt würden liberale Prinzipien sich verselbstständigen und jede*r könne von nun an die eigene Meinung ohne Zensur kundtun. Die Anhänger dieses “Kults” wie die beiden Wissenschaftler sie einordnen, seien überzeugt, die Technologisierung der Gesellschaft biete ein freieres und gerechteres Leben und löse sich von den starren Regeln staatlichen Zwangs und ökonomischer Monopole. Der Vorwurf von Barbrook und Cameron lautet, diese religiöse Interpretation der Technik würde bestehende gesellschaftliche Probleme ausblenden und die gefährlichen Aspekte der voranschreitenden Technologisierung negieren. Die Autoren versuchen durch die Kritik der kalifornischen Ideologie die Intentionen und oftmals heuchlerischen Praktiken der Menschen an der Spitze der Big-Tech-Bubble sowie die Blindheit ihrer Anhänger*innen in einem ideologischen Konstrukt festzumachen und deren Lücken zu entlarven. Selbst-proklamierte Anhänger*innen der Moralkonstrukts sind, aber wie bei anderen Ideologien, hier nicht vorzufinden.

Ela: Es ist ja ein merkwürdiges Amalgam aus konservativ-neoliberaler Wirtschaftsgläubigkeit und Hippie-Progressivität entstanden, oder? Also so eine Art Hippie-Yuppie-Techno-utopisches Frankensteingebilde. Technik wird alle Probleme lösen, Sharing Economy, blabla, und der Staat hat sich gefälligst so weit wie möglich da rauszuhalten, denn der stört die natürliche Ordnung, die unsichtbare Hand des Marktes. Wenn die Märkte einfach in Ruhe gelassen werden, wird sich alles ausbalancieren. Silicon Valley ist sowas wie ein Ökosystem, das in Ruhe gelassen werden muss.

Stefan: Ein großer Teil der Ideologie ist die Überzeugung sich als Gesellschaft auch oder sogar nur durch die Privatwirtschaft und entgegen staatlicher Interventionen weiterzuentwickeln und Demokratie leben zu können – sozusagen aktiv Politik zu machen, indem man Ökonomie perfektioniert. Du sagst, ein aktuelles Beispiel dafür ist die medial sehr präsente Übernahme des US-Kurznachrichtendienstes Twitter durch Elon Musk.

Sophie: Genau. Die Verfasser der Kalifornischen Ideologie schreiben davon, dass sich die großen Profiteure der Big-Tech Szene des Silicon Valley gerne öffentlich von der Politik distanzieren – hinter verschlossenen Türen sehe das aber ganz anders aus. Elon Musk ist vor diesem Hintergrund eine ganz besondere Figur. Während er den größten Teil seiner Karriere immer versuchte sich nicht öffentlich politisch zu positionieren, sich in den USA sowohl für Demokraten als auch für Republikaner stark machte, so hat sich seine Einstellung diesbezüglich in den vergangenen Jahren verändert. Der Milliardär twittert immer wieder provokante Stellungnahmen zu polarisierenden Themen, lässt sich in Verschwörungstheorien verwickeln und sympathisiert offen mit teils rechtsradikalen Gruppierungen. Zuletzt sorgte er sich besonders um die Wahrung der allgemeinen Meinungsfreiheit, die er durch jegliche regulierenden Eingriffe in die Massenmedien gefährdet sieht.

Stefan: Seit der Übernahme von Twitter durch Musk hat sich da einiges getan. Das Center for Countering Digital Hate (CCDH) hat aufgezeigt, dass User, die sich Twitter Blue leisten, mittlerweile sagen können was sie möchten. Auch rassistische, antisemitische, homophobe und misogyne Aussagen werden im Fall der Blue User nicht mehr geahndet. Darunter Aussagen wie:

„Die schwarze Gesellschaft hat mehr Schaden angerichtet als der Klan je getan hat.“

„Die Judenmafia will uns alle durch braune Menschen ersetzen.“

Sophie: Der Entschluss Musks Twitter zu kaufen wirkte sehr spontan. Aber am Tag der Übernahme entlässt er einen großen Teil der Belegschaft und der Führungsriege per E-Mail. In den folgenden Wochen werden unter Musks Führung ehemalige wegen bedenklicher Inhalte gesperrte Konten, wie das von Donald Trump, aufgehoben und Authentifizierungskennzeichen von Konten können von nun an ersteigert werden. Das Unternehmen verliert daraufhin in kurzer Zeit zahlreiche Werbekunden und sinkt in kurzer Zeit stark im Aktienkurs. Hat sich aber mittlerweile wieder erfangen.

Während die Geschichte “Musk kauft Twitter” noch viele weitere Akte zählt und medial sowohl für Unterhaltung als auch Empörung sorgte, visualisiert sie eines besonders gut: Die Weltverbesserungsagenda des Unternehmers, der überzeugt davon scheint, durch Privatwirtschaft und Technologie die Gesellschaft besser voranbringen zu können als durch staatliche Maßnahmen. Der ideologisch motivierte Kauf zeigt außerdem einerseits die Anstrengungen, die Musk auf sich nimmt, um seine libertären Werte zu vertreten und gleichzeitig wie begrenzt diese doch sind, wenn es sich um den eigenen ökonomischen- oder Imageschaden handelt.

Ela: Elon Musk bezeichnet sich selbst ja als „free speech absolutionist“ – man beachte die entlarvende Wortwahl. Lustigerweise ist er bekannt dafür Kritikern mit Klagen zu drohen oder ihnen einfach zu kündigen. Zudem hat Twitter unter Musk einem Großteil der Zensuranfragen autoritärer Regierungen zugestimmt. Also Absolutist dürfte im Fall von Twitter und Musk schon stimmen. Ich würde sagen, Elon Musk ist inzwischen der Kanye West von Silicon Valley. Ähnlich wie dieser kann er noch so viel Blödsinn verzapfen, und seine Anhänger – und ich verwende hier absichtlich nur die männliche Form – hängen trotzdem an seinen Lippen, als wäre er der größte Intellektuelle aller Zeiten. Ye und Musk treffen wohl den Geschmack einer ähnlichen „Gruppe“ junger Männer. Ich glaube das hat auch wieder viel damit zu tun, was Angela Nagle in „Kill all normies“ beschreibt: „Eines der Dinge, die die oft nihilistische und ironische Chan-Kultur mit einer breiteren Kultur des Alt-Right-Orbits verband, war ihre Ablehnung politischer Korrektheit, Feminismus, Multikulturalismus usw. und deren Eindringen in ihre freiheitliche Welt der Anonymität und Technologie.“ DasSilicon Valley ist ja auch stark mit Ideen der Counter-Culture verbunden.

Sophie: In ihrer Absurdität und Sprunghaftigkeit zwischen politischen Lagern lassen sich Kanye West und Elon Musk in ihren öffentlichen Statements tatsächlich ganz gut vergleichen – wobei West sicher mittlerweile ein neues Level an Absurdität und auch Hemmungslosigkeit entwickelt hat, außerdem wird bei ihm bereits seit längerem eine psychische Problematik vermutet. Beide Männer stehen allerdings seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit und sind in ihren Branchen an der Spitze des Erfolgs angekommen. Beide haben sich in ihren öffentlichen Meinungsäußerungen vor allem in den vergangenen Jahren immer mehr radikalisiert und versuchen gleichzeitig zu provozieren und polarisieren. Es wäre interessant zu wissen, welchen Einfluss dieser immense Erfolg und auch das Ankommen an der Spitze auf die Entwicklung ihrer öffentlichen Äußerungen hat und ob das dann wirklich etwas über sie aussagt, oder nur wieder zu einer Marketingstrategie gehört.

Stefan: Das Media Research Center (MRC) in den USA hat ermittelt, dass Twitter seit der Übernahme durch Musk repressiver geworden ist. Die Zensur trifft nicht weniger, sondern andere Leute. Meist Menschen, die keine große Bühne haben wie Donald Trump um ihre Sperrung zu einem öffentlichen Thema zu machen.

Nick Srnicek, der den Plattform-Kapitalismus begrifflich für die Wissenschaft erschlossen hat, sagt, seine Überlegungen beginnen an der Stelle, wo er von der kalifornischen Ideologie absieht. Für ihn ist die analytische Kompetenz des Begriffs darauf beschränkt politische Akteure zu beobachten, die durch ökonomische Aktivität nach politischer Macht streben. Srniceks Hypothese wendet sich gegen diesen kulturalistischen Ansatz und will dessen ökonomische Seite zur Darstellung bringen, dass diese Akteure Profit machen wollen um ihre Konkurrenz auszustechen und deshalb an manchen Stellen politisch werden. Das bedeutet, nicht das geniale Kalkül von Superbösewichten ist ausschlaggebend für ihre strategischen Entscheidungen, sondern die Struktur der Kapitalakkumulation diktiert ihre Handlungen. Die wahnsinnigen öffentlichen Auftritte sind dann Makulatur um das Image aufzupolieren und bestimmte Segmente der Gesellschaft zu aktivieren. Ye macht das mit Antisemitismus, womit er sicherlich auch einige Hip-Hop Fans abholen kann. Musk eher mit libertärem Männergehabe.

Aber es ist auch wichtig zu sehen, dass die Profite in der Erzeugung von Waren seit Jahrzehnten zurück gehen. Daher wendet sich das Kapital den Daten zu, die immer noch Wachstum versprechen. Digitale Plattformen (wie Facebook, Google, Amazon) sind gigantische Datenakkumulierer, die Digitalisierung das technische Mäntelchen, dass sich die neuen Charaktermasken der kapitalistischen Entwicklung umgehängt haben. Auch die von Musks ehemaligen Geschäftspartner Peter Thiel propagierte ständige Erneuerung durch Zerstörung, Disruption, entspricht den Ansprüchen des Kapitals nach ständig neuen Techniken, die darauf zielen, sinkende Profite in veralteten Bereichen, wo der Gag nicht mehr zieht, wieder reinzuholen.

Ist es alter Wein in neuen Schläuchen, oder gibt es utopische Potentiale der kalifornischen Ideologie?

Ela: Man muss sich halt fragen, wie revolutionär diese ganzen Start-Ups, die aus Silicon Valley herauskommen, tatsächlich sind, wie sehr sie tatsächlich unser Leben verbessert haben. Z. B. Uber ist ein billigeres Taxi, aber ist das revolutionär, hat sich dadurch unser Leben so stark verbessert? Das Leben der Uber-Fahrer ja eher nicht. Die sind nach ihrem Arbeitgeber selbstständig und damit würde der Versicherungsschutz und Sozialleistungen wegfallen, die man als Angestellter hat. Das wurde zwar in vielen europäischen Ländern angefochten – Gerichtsurteile wurden aber teilweise von Uber ignoriert – inzwischen hat es auch in den USA teilweise die Bestätigung gegeben, dass Uber-Fahrer als Angestellte gelten. Der sympathische Uber-CEO Travis Kalanick hat auf Proteste seiner Fahrer wegen mieser Bezahlung reagiert, indem er meinte, dass sie sowieso bald durch Computer ersetzt würden. Der Programmierer Steve Dekorte hat Uber 2015 übrigens mit Rosa Parks verglichen, als wieder einmal eine Sammelklage anstand, weil Uber seine Fahrer als unabhängige Unternehmer beschäftigte. In einem Tweet hieß es „Ja, Uber hat gegen das Gesetz verstoßen. Das Gleiche geschah mit Rosa Parks. Korrupte Gesetze zu respektieren, die Kumpanen besondere Privilegien gewähren, ist keine Tugend.“

Und lustigerweise geht mit dem Aufstieg der Tech-Riesen in Silicon Valley ein Rückgang an Innovationskraft einher, denn die haben ja inzwischen Monopole aufgebaut. Wie innovativ ist es, dass man sich alles Mögliche zur Haustür bringen lassen kann? Und was heißt das alles für die Angestellten dieser Unternehmen? Hat das Potenzial unser Leben zu revolutionieren? Wie viele hundert Sharing-Apps brauchen wir?

Sophie:  Die Frage, ob Geschäftsleute wie Musk wirklich aus ideologischen Gründen handeln oder diese nicht viel eher als öffentlichen Scheingrund in Form von vorgegaukelter Integrität inszenieren, um ein neues Marktsegment zu erschließen, ist natürlich eine relevante und wichtige. Obwohl das teilweise der Fall sein mag, sehe ich das am Beispiel Musk und auch generell bei den Akteuren, die von der kalifornischen Ideologie angesprochen werden, nicht vorliegen. Ich denke einerseits, dass Menschen wie Musk, die stolz den Kapitalismus nicht nur ankurbeln, sondern sogar als visualisiertes Sinnbild dessen gesehen werden und daran Gefallen finden, keine ideologische Tarnung für ihre strategischen ökonomischen Züge brauchen. Man erwartet von Musk zu wirtschaften und er könnte dies auch in Ruhe, ohne öffentliche Rechtfertigung seiner Entscheidungen tun, wenn er wollen würde.

Ich halte den Kauf von Twitter nicht für einen rein ideologischen Zug am Schachfeld des Medienkapitalismus, auch wenn er auf den ersten Blick ideologisch motiviert scheint, verdankt sich die Kaufentscheidung sicherlich auch einem ökonomischen Kalkül. Musk wollte ein Exempel statuieren und dabei das Unternehmen wertvoller machen. Und vor allem wollte er sich auch am Markt der öffentlichen Kommunikation beteiligen. Trotzdem hat seine Weltvorstellung sicher viel mit rein gespielt.

Stefan: Das wäre dann das typische Verhalten digitaler Plattformen. Der Soziologe Philipp Staab ist ja überzeugt, dass es den Plattformen um den Besitz des ganzen Marktes geht. Also keine ideologische Finte, sondern eine ökonomische Notwendigkeit.

Sophie: Abgesehen davon ist jeder Image-Move natürlich immer auch zum Teil ökonomisch bedingt, weil er direkt auf Musks Wert als Unternehmer wirkt. Es findet also sicherlich ein Wechselspiel zwischen den beiden Ambitionen statt. Ideologische und ökonomische (Selbst-)Aufwertung ist sicherlich Teil der kalifornischen Ideologie. Die ja auch auf Selbstperfektionierung zielt.

Stefan: Peter Thiel strebt ja bekanntermaßen nach Unsterblichkeit und will sich auch einfrieren lassen.

Dieses ambivalente Verhältnis von Ideologie und Ökonomie, das du beschreibst, durchzieht alle libertären Ideologien und ist auch im Liberalismus spürbar. Arbeit soll sich lohnen, jeder kann es schaffen, aber man muss auch bissl auserwählt sein, damit es klappt.

Ayn Rand ist sicherlich eine Gallionsfigur aller heutigen Selfmade-Männer. Ihr Konzept über die Welt nachzudenken, nannte sie „Objektivismus“.  Darin entfaltet sie auf der erkenntnistheoretischen Ebene einen radikalen Rationalismus und auf der gesellschaftstheoretischen Ebene einen radikalen Individualismus. Das Denken soll laut Rand durch Beobachtung und Logik geprägt sein, mittels denen unbestreitbare Fakten ermittelt werden können. Das Handeln sollte von Egoismus, Erfindergeist und Tüchtigkeit angetrieben werden. Eigennützig agierende Großindustrielle sind für sie der Motor der Welt. Den Kapitalismus beschreibt sie in einem Aufsatz von 1965 – „What is Capitalism?“ – als objektive Voraussetzung menschlicher Freiheit. Jeder gesellschaftliche Reichtum wird in ihren Augen von Individuen produziert und sollte diesen auch gehören. „There is no such thing as social surplus.“ Die Armen sind arm, weil sie nicht egoistisch, nicht erfinderisch, nicht tüchtig genug sind und sollen es auch bleiben. Wie denkt Musk über diese Dinge?

Sophie: Ich denke nicht, dass Musk so radikale Worte wie Rand über die Kluft zwischen Arm und Reich findet und die Welt dermaßen schwarz und weiß betrachtet. Er selbst ist zwar wahrscheinlich der Kapitalismus in Person, bezeichnete sich 2018 auf Twitter aber beispielsweise als Sozialist: “By the way, I am actually a socialist. Just not the kind that shifts resources from most productive to least productive, pretending to do good, while actually causing harm. True socialism seeks greatest good for all.“, so seine Worte. Trotzdem gehe ich davon aus, dass er ähnlich wie viele seiner Branchenkollegen, die sich in der Privatwirtschaft ein enormes Vermögen angehäuft haben, davon überzeugt ist, dass jeder Schmied seines eigenen Glücks ist. Er ermutigt seine Mitarbeiter*innen mit dem Versprechen, wer alles für ihn und seine Vision tue und sich der gemeinsamen Mission praktisch “versklave”, werde am Ende erfolgreich aussteigen.

Ela: Eben. Das ist ja auch wieder so eine Ideologie. Als wären die Ärmsten der Gesellschaft die Unproduktivsten der Gesellschaft und jene mit den meisten Ressourcen die Produktivsten der Gesellschaft. Nur weil ich mich, bevor ich typisch neoliberale Slogans raushaue, als Sozialist bezeichne, macht mich das noch lange nicht zum Sozialisten. Das ist übrigens dasselbe Argument, das heute teilweise in Diskussionen über die Nazis verwendet wird, wo dann behauptet wird die Tatsache, dass das Wort Sozialismus in Nationalsozialismus vorkomme, beweise schon, dass die Nazis Sozialisten waren. Das macht mich immer wahnsinnig, wenn so getan wird, als hätten Worte keine Bedeutung. Was für eine Art Sozialist ist Musk denn, wenn er behauptet, wer reich sei, sei dies, weil er hart gearbeitet habe, während faule Menschen eben arm blieben.

Das nennt man in der Sozialpsychologie einen fundamentalen Attributionsfehler. Man neigt dazu, bei anderen Menschen die Ursache für deren Verhalten in ihrer Persönlichkeitsstruktur zu vermuten, nicht in den Umständen. Der Gründer des Google-X-Labors Sebastian Thrun drückt das so aus: „Es sind nicht die Pessimisten, sondern die Optimisten, die die Welt verändern werden (…) die Folge ist, dass diese Menschen auch mehr Reichtum und Macht anhäufen werden.“ Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Wenn jemand reich ist, dann liegt das daran, dass er besonders hart gearbeitet hat und nicht daran, dass sein Vater eine Smaragdmine hat und sein Söhnchen schon früh in den richtigen Kreisen Gassi geführt hat.

Die George Washington Universität hat 2019 einen Bericht herausgegeben, aus dem hervorging, dass der wichtigste prädikative Faktor für späteren beruflichen Erfolg das Haushaltseinkommen der Familie ist. Laut einer Studie des National Bureau of Economic Research von 2005 werden ungefähr 34 % bis 45 % der Vermögen in den USA vererbt.

Stefan: Vielleicht ist Musk einfach wirklich nur ein Geschäftsmann, der opportunistisch das sagt, was ihm grad in den Sinn kommt und letztendlich auch so handelt. Es gäbe da ein paar Anzeichen dafür in seiner Biographie. Das hat aber auch ein messianisches Element, wenn ich das so höre. Also wenn ich mich dem Ziel Gottes unterwerfe komme ich dafür in den Himmel. Die Evangelikalen Christen nennen es das Calling. Ayn Rand hat sich übrigens anlässlich einer Krebserkrankung unter falschem Namen bei der staatlichen Sozial- und Krankenversicherung angemeldet und diese beinahe 10 Jahre bis zu ihrem Tod auch konsumiert.

 Sophie: Ähnlich wie vielen weiteren vermeintlichen Selfmade-Millionären, traue ich auch Musk zu, die Beiträge die Mitarbeiter*innen über viele Jahre zu seinem Erfolg geleistet haben, nicht genügend anzuerkennen. Ich glaube auch nicht, dass er sehr intensiv die gesellschaftlichen Privilegien und Umstände, die zu seinem heutigen Reichtum beigetragen haben, reflektiert. Dass Musk der Meinung sei, Armut würde nur durch Dummheit und Faulheit existieren, glaube ich allerdings auch nicht. 

Stefan: In seinem Buch Zero to One legt Thiel offen dar, dass ein Startup seiner Ansicht nach am besten wie Kult organisiert ist. Der Unterschied ist in seinen Augen nur, dass die Anhänger eines Kultes „fanatically wrong about something important“ sind, während die Angestellten in einem erfolgreichen Startup „fanatically right“ (Thiel: 125) sind. Das klingt nach dem Randschen Objektivismus. Die Erfolgreichen entscheiden, was richtig ist und was falsch.

Ela: Thiel ist ja auch Anhänger kreativer Monopole, denn diese bedeuteten „neue Produkte, die allen zugutekommen“, während „Wettbewerb bedeute(), dass niemand davon profitiert“.

Stefan: Nicht umsonst wurde Thiel 2015 mit dem Hayek Lifetime Achievement Award ausgezeichnet. Ohne Friedrich August Hayek könnte die bürgerliche Nationalökonomie wohl nicht bis heute an ihren überholten Vorstellungen von der kulturellen Evolution festhalten. Diese besagt, kurzgefasst, dass gesellschaftliche Werte nur in geringem Maße Resultat menschlicher Gestaltung sind. Für Hayek stammen sie vielmehr aus drei Wurzeln: den biologischen „vererbten“, den kulturell „erprobten“ und den rational „geplanten“. In der Nationalökonomie, wie sie an den Universitäten gelehrt wird, wirkt sich das insofern aus, als weiterhin so getan werden kann, als wären die Fragen von Reichtum und Armut kein Feld politischer Gestaltung, sondern gottgegebene Natur, in die sich die Menschen einfügen müssen. Was bedeutet Erfolg in der kalifornischen Ideologie?

Sophie: Erfolg bedeutet nach der kalifornischen Ideologie, sich selbst durch Innovation verwirklicht und dadurch gleichzeitig finanziell ausgesorgt zu haben – und das ohne Unterstützung. Jeder ist Schmied seines eigenen Glücks und nur wer so “selfmade” wie möglich ist, hat es wirklich geschafft.

Stefan: Das Siegel “selfmade” hat etwas Wahnhaftes.

Sophie: Es ist ein Wahn, der sich vor allem im politisch tendenziell rechts verorteten Lager verfängt. Dabei wird versucht, eine historische Verbindung zwischen den Gründungsidealen des liberalen Amerikas und der unternehmerischen Tüchtigkeit der Siedler des 18. Jahrhunderts zu erzeugen. Das „selbstgenügsame Individuum“ in Form von Cowboys oder Trappern im Wilden Westen wird glorifiziert. Der einsame Held, der sich von den „unterdrückenden“ Gesetzen des Staates zu lösen versucht und so zu seinem Reichtum und Erfolg gelangt.  Außen vorgelassen wird dabei sowohl in der Geschichte als auch in den Erzählungen vieler selbst betitelter Selfmade-Billionaires, dass dieser Erfolg abhängig ist von der Arbeit vieler anderer Menschen, teilweise staatlicher Unterstützung oder durch das Leid und den Verlust Anderer fortschreiten konnte.

Ela: Dabei ist die Idee, die von vielen der Silicon-Valley-Milliardäre vertreten wird, zu viel staatlicher Einfluss würde Silicon Valley schaden, ja auch ein ideologisches Konstrukt, denn wie hätte Silicon Valley sich zu dem entwickeln können, was es heute ist, wenn der Staat kein Geld zugeschossen hätte, für Infrastruktur, Forschungsstipendien und Gründerdarlehen? Google oder Apple z. B. würde es ohne Zuschüsse und staatliche Investitionen nicht geben. Und Elon Musk hätte ohne staatliche Zuschüsse nicht bis heute durchgehalten. SpaceX z. B. wäre ohne eine Intervention von NASA 2008 heute nicht mehr am Leben.

Oder nehmen wir den Crypto-Hype. Da kommen wir auch wieder zu den Anhängern Musks, die auf seinen Anreiz hin in Dogecoin investiert haben und massiv Verluste gemacht haben. Da wurde übrigens schon eine Sammelklage eingebracht gegen Musk, in der ihm Insiderhandel vorgeworfen wird. Man wirft ihm unter anderem „eine vorsätzliche Marktmanipulation durch einen ‚Publicity-Zirkus‘“ vor, „um den Dogecoin-Preis in die Höhe zu treiben.“ Bei Crypto gab es ja zu Beginn auch diesen Hype, weil es quasi das Versprechen beinhaltet, dass jeder damit Geld machen kann. Niederschwellig, „demokratisch“, blablabla. Nur vergisst man da auch wieder, dass der Verlust von Geld die einen wahrscheinlich mehr schmerzt als die anderen.

Stefan: Was auch ausgelassen wird ist, dass wir bei den Energiekosten der Bitcoins mittlerweile bei 132,98 Terawattstunden im Jahr angelangt sind. Das entspricht dem Jahresverbrauch von Österreich. Nur zum Geld zählen!

Ela: Ein anderer Vorwurf von Anlegern gegen Musk war, dass er mit Tweets die Tesla-Aktie in die Höhe getrieben habe, als er behauptete, dass die Finanzierung gesichert sei und er das Unternehmen von der Börse nehmen könne. Apropos Twitter, das hat ja auch eine Rolle beim rapiden Crash der Silicon Valley Bank gespielt, als man quasi per Social Media zum Bank Run aufgerufen hat und damit den größten Crash seit Lehman Brothers ausgelöst hat. 

Stefan: Bei den tüchtigen Cowboys wird auch einiges ausgelassen. Vor allem wird ausgelassen, dass der Staat in Form von Armee und Gesetzen eine wichtige Rolle dabei gespielt hat diese selbstgenügsamen Individuen am Leben zu erhalten. Mit den Native Americans wurden hunderte Verträge geschlossen, die alle nach und nach gebrochen wurden. Diese Verträge führten immer wieder zu ihrer vorübergehenden Befriedung, bis sich die Siedlerpopulationen so weit erhöht hatten, dass durch Gewalt Fakten geschaffen werden konnten. Einzelne Bundesregierungen setzten dann hohe Belohnungen auf die Tötung von Native Americans aus. Kaliforniens Parlament genehmigte in den Jahren von 1851 bis 1860 1,5 Millionen Dollar für kriegerische Kampagnen gegen die Natives. (Mattioli: 217) Das durch den Gründergeist und den Frontiergedanken erzeugte Leiden ist gigantisch und bis heute nicht aufgearbeitet. Und ich weiß jetzt auch nicht von Initiativen des Silicon Valley da irgendwas anzugehen in die Richtung.

Das Abenteuer an der Frontier, der Goldrausch, die sogenannten „Indianerkriege“. Alles Mythen des so genannten „Wilden Westens“, der im Grunde schon sehr lange ein kapitalistischer Westen war. Die ursprüngliche Voraussetzung für den Aufstieg Kaliforniens war die Auslöschung des Lebens der Native Americans.  Frederick Jackson Turner, wie die meisten akademischen Historiker des 19. Jahrhunderts ein Fan der sozialen Evolutionstheorie, prägte den Frontierbegriff. Bei der Weltausstellung von 1893 in Chicago hat er verkündet, dass der Weg der Siedler nach Westen die amerikanische Entwicklung erklärt. Die sich chaotisch nach einer grausamen Eroberungslogik vollziehende Ausbreitung der USA beinhaltete als Kern die Ausrottung. Für Turner ist diese barbarische Vorbereitung der kapitalistischen Akkumulation eine wirksame militärische Trainingsschule und das Labor des gesamten politischen Systems der USA. Der Binnenkolonialismus ist übrigens keine Erfindung der USA. Das wird die Maoisten und 68er jetzt in ihrem Antiamerikanismus irritieren, aber Russland hat das indigene schamanistische und tribalistische Leben in seinem Osten lange ausgelöscht, bevor Old Shatterhand seine Silberbüchse von Winnetou gestohlen hat.

Aber zugegeben, die USA erprobte damals, um mit den Worten von Aram Mattioli zu sprechen, „ein neues Gesellschaftsmodell, in dem Grund und Boden zu einem gleicherweise begehrten wie handelbaren Gut wurde“ (Aram Mattioli: Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas, 2018: 20).

Würdest du sagen, es ist etwas von dieser Gewalt noch in der kalifornischen Ideologie spürbar? Also ich frage jetzt bewusst nicht danach, ob das vergleichbar ist, das ist es nämlich natürlich keinesfalls. Darum geht’s auch nicht. Aber spürt man ein Echo davon in den Äußerungen der Akteure?

Sophie: Ich könnte nicht sagen, dass noch Gewalt in der Ideologie zu spüren ist, da mir dafür jegliche Beweise oder Anhaltspunkte fehlen würden. Was allerdings bleibt, ist eine gewisse Ignoranz, eine aktive Ausblendung gesellschaftlicher Probleme und wenig Anerkennung der existierenden Diskriminierung, die von vielen Bevölkerungsgruppen und natürlich den Native Americans erfahren wird. Damit meine ich nicht, dass die angesprochenen Akteure, die oft gesellschaftlich libertär eingestellt sind, Diskriminierungen aufgrund von Herkunft oder sexueller Orientierung nicht anerkennen, oder sich nicht auch öffentlich gegen diese Problematiken aussprechen würden, sondern, dass sie die Konsequenzen, die diese Hürden mit sich bringen, nicht mit in ihr Narrativ integrieren. Es gilt: Wer viel arbeitet und klug ist, kann alles schaffen – jeder kann den American Dream leben. Es besteht hier eine gewisse Selbstbeweihräucherung im Sinne von “Ich habe es geschafft, also kann es auch jeder andere schaffen”, in der Silicon-Valley-Brüderschaft, die oftmals ihre eigenen Privilegien nicht sieht oder sehen will und sich zusätzlich auch nicht als verantwortlich empfindet, ihre ökonomische und gesellschaftliche Macht zu nutzen, um diese Missstände zu beheben. Am ehesten könnte man also diese Ignoranz und Ausbeutung der eigenen Privilegien bei simultaner aktiver Ausblendung von Missständen als eine Form von Gewalt sehen.