Dreidimensionales Schach mit Taube

Heute kam es im Gazastreifen zu einem vorübergehenden Waffenstillstand zwischen den israelischen Streitkräften und der Hamas. Die Vereinbarung sieht eine mindestens viertägige Unterbrechung der Kampfhandlungen vor. In der Zeit sollen mindestens 50 Frauen und Kinder der ca. 240 Geiseln, die am 7. Oktober entführt wurden, gegen 150 palästinensische weibliche und minderjährige Häftlinge ausgetauscht werden, die in israelischen Gefängnissen sitzen.

Doch nicht, dass man in der Waffenstillstand-Antizionismus-Fraktion nun kurzfristig zufrieden wäre. Nein, auch hier gibt es einiges zu bemängeln, z. B. die Anzahl der auszutauschenden Gefangenen. Doch man wird überrascht sein, sie sind nicht etwa zu wenige, sie sind zu viele! Die Anzahl der freizulassenden Gefangenen übersteigt jene der Geiseln.

In seiner Absurdität zur Spitze getrieben hat das Disproportionalitätsargument damit das Interview von Kay Burley auf Sky News mit dem israelischen Regierungssprecher Eylon Levy. Sie konfrontierte ihn mit der, in ihrem Kopf bestimmt überaus spitzfindigen, Einschätzung eines Geisel-Unterhändlers, der einen zahlenmäßigen Vergleich zwischen den 50 israelischen Geiseln und den von Hamas ausgehandelten 150 in israelischen Gefängnissen eingesperrten Palästinensern anstellte, was ihn zu der Frage brachte, ob Israel palästinensische Leben weniger schätze als israelische Leben. Eylon Levy entgleiste zunächst die Mimik merklich, ehe er Burley wissen ließ, „(…) wenn wir einen Gefangenen für jede Geisel befreien könnten, würden wir das offensichtlich machen. (…) Es ist nicht unsere Entscheidung diese Gefangenen, die Blut an ihren Händen haben, freizulassen (…) Fällt Ihnen auf, die Frage der Proportionalität interessiert Unterstützer der Palästinenser nicht, wenn sie dafür mehr ihrer Gefangenen freibekommen, aber es ist eine Frechheit zu suggerieren, dass die Tatsache, dass wir bereit sind Gefangene freizulassen, die für terroristische Straftaten verurteilt wurden, und zwar mehr als wir dafür von unseren eigenen unschuldigen Kindern zurückbekommen, irgendwie darauf hinweist, dass uns palästinensische Leben egal sind (…).“

Als wäre in letzter Instanz nicht der Geiselnehmer für die Festlegung der Zahl der freizulassenden Geiseln verantwortlich, die sich in seiner Gewalt befinden, vor allem nachdem dieser bereits mehrfach demonstriert hat, welchen (geringen) Wert deren Leben für ihn hat. Der Logik Burleys und ihres ominösen Unterhändlers zufolge wäre anzunehmen, dass die Freilassung aller Geiseln im Austausch für keinen einzigen palästinensischen Gefangenen wohl die Spitze der Wertschätzung für palästinensisches Leben dargestellt hätte.

Solcherlei Absurdität, die sich daraus ergibt, wenn das Gehirn damit kämpft die Realität an das bereits vorgefertigte Bild des Anderen anzupassen, von dem man nur das Allerschlimmste anzunehmen bereit ist, erinnert an die Behauptung der amerikanischen Queer-Theory Professorin an der Rutgers Universität New Jersey, Jasbir Puar, die in ihrem Buch „The Right to Maim“ behauptet hatte: „Die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) haben über Jahrzehnte hinweg nachweislich Leben verschont und eher auf Verstümmelung als auf Tötung hinaus geschossen.“ Die Tatsache, dass es nur wenige Vergewaltigungen palästinensischer Frauen durch die IDF gebe, weise zudem darauf hin, dass Israelis Palästinenserinnen so sehr dehumanisierten, dass sie sie nicht einmal mehr vergewaltigen würden. Es zeige sich, „dass das Fehlen von militärischen Vergewaltigungen lediglich die ethnischen Grenzen verstärkt und die Unterschiede zwischen den Ethnien verdeutlicht – genau wie es organisierte militärische Vergewaltigungen getan hätten.“* Jasbir Puar, die auch Anhängerin der These ist, dass Israel einen Genozid an Palästinensern begeht, wirft Israel einen Genozid mit gezielter Nicht-Tötung von Zivilisten zu Verstümmelungszwecken vor, andere Aktivistinnen werfen wiederum gezielte Nicht-Gruppenvergewaltigung von Zivilistinnen durch das Militär vor, welche aber dieselben Auswirkungen habe, wie Gruppenvergewaltigungen. Puar hatte ebenso an anderer Stelle behauptet Israel entnehme Palästinenserinnen Organe – eine moderne Version der Ritualmordlegende.  

*Ergänzung: Diese Behauptung stammt nicht von Jasbir Puar, sondern von der Soziologin Tal Nitzan.

Die Welt vom Kopp auf die Füße

Wozu verwendet man einen taktischen Kugelschreiber? Was ist ein Nessmuk? Und weshalb wird der intergalaktische Sklavenhandel von der Antarktis aus abgewickelt?

Wenn diese oder ähnliche Fragen dich noch nie beschäftigt haben, dann liegt das vielleicht daran, dass du noch nie einen Katalog des Kopp Verlages in Händen gehalten hast. Naja, bei mir ist es jedenfalls jetzt so weit, und ich komme aus dem Staunen nicht heraus.

Der Verlags-Katalog ist seit je her eine Enzyklopädie der Aufklärung als Massenbetrug. Der Donauland-Versand-Katalog ist mir aus der Kindheit bekannt. Dort gab es alles und nichts zugleich. Seiten voller Bücher, bunt fotografiert und markig beschrieben, und doch sind letztlich beinahe alle Bücher, die dort einmal bestellt worden sind, irgendwann in die Tonne gewandert. Wo im freien Bücherschrank durchaus Überraschendes entdeckt werden kann – erst gestern eine umfassende Churchill Biographie direkt vor meiner Haustür – herrscht in den großen Versandkatalogen seit Beginn meiner persönlichen Aufzeichnungen vor 35 Jahren planvolle Langeweile.  So wird beim aktuellen Online-Auftritt des Donauland-Katalogs auch nicht mit der Vielfalt an Büchern, oder der Qualität der versammelten Angebote, geworben, sondern mit dem Satz: „Ihre Welt der Vorteile“. Der Donauland-Katalog ist nicht besser sortiert als der Buchhandel, sondern im eigenen Selbstverständnis günstiger und mit mehr Premieren ausgestattet. Was auch immer das genau bedeuten soll.

Auf der Startseite stapeln sich Krimis mit vielsagenden Titeln wie „Die Nacht – Wirst du morgen noch leben?“, „aktuelle“ Biographien („Reserve“ von dem einen Prinzen) und knackige Titel wie „Das inoffizielle Quiz für Potterheads“ – was wohl bedeuten soll, dass es für die Rechte am Harry-Potter-Universe nicht gereicht hat – und „Die 1%-Methode – Das Erfolgsjournal“.

Mit anderen Worten, es ist fad in der Donauland-Welt. Es herrscht gepflegte einlullende Langeweile und eine planvoll eingesetzte Spießigkeit, die einer möglichst breiten Kundschaft gefällig sein soll. Alles klar. Ist ja Kapitalismus. Zielgruppenorientierung ist keine Schande und ein Katalog ist kein Kunstwerk – auch wenn im Hintergrund wahrscheinlich daran gefeilt wird, wie an der Kuppel von Santa Maria del Fiore von Filippo Brunelleschi. Allerdings würde man diese Kuppel heute wohl nicht mehr so bauen wie damals.

Die Theorie Adornos über die Halbbildung besagt, dass Bildung sich mit dem Fortschreiten des Standes der Wissenschaft mitverändert und akkumuliert. Die Mittel zur Naturbeherrschung wachsen an und mit ihnen sowohl die potenziellen Annehmlichkeiten als auch die Anforderungen an die Individuen sich diesen Annehmlichkeiten anzuschmiegen und in ihnen weiterhin der kapitalistischen Verwertung zur Verfügung zu stehen. Durch die Intensivierung kapitalistischer Ausbeutungsprozesse in Begleitung der Digitalisierung werden die objektiven Grenzen des Bildungserwerbs – mittels unzähliger akademischer Titel und sonstiger Lehrgänge – ausgeweitet und zugleich, die dafür zur Verfügung stehende Zeit verkürzt und die Bedeutung der Auseinandersetzung mit Wissen abgewertet. Die Masterminds des Silicon Valley brillieren als Studienabbrecher und verheimlichen in ihren Autobiographien bewusst ihre Herkunft aus den obersten Schichten, ihre Grundausstattung mit ökonomischem und sozialem Kapital.

Bildung erstarrt angesichts dessen zu einem abstrakten Ideal mit totalitärem Potential. Den Individuen wird die Pflicht angetragen über vieles informiert zu sein, ohne ihnen die Möglichkeit einzuräumen dieser nachzukommen. Gesellschaftliche Autonomie erleben nur mehr diejenigen, die es sich ökonomisch leisten können. Bildung ist mittlerweile ökonomisch prekär. Das dazugehörige Mindset ist eines der Halbbildung.

Während der Konsum des Donauland-Katalogs auf eine moderierte Aneignung kanonischer Halbbildung abzielt und damit auf eine gemütliche Anpassung der Individuen an das schal gewordene Bildungsideal, kündigt der Kopp-Katalog Größeres an. Hier gibt es „Bücher, die Ihnen die Augen öffnen“.

Und die gehen schon beim ersten Produkt, das am Titel angepriesen wird, weit auf. Dort ist er nämlich zu bewundern, der Nessmuk. Mit bürgerlichem Namen George Washington Sears, war Nessmuk ein früher Umweltschützer, Kanufahrer und Outdoorfan, der ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben hat. Zurück zur Natur – mit dem Namen eines amerikanischen Ureinwohners. Ironie der Geschichte, dass die letzte des Nipmuc-Stammes amerikanischer Ureinwohner – Miss Mary Jaha – die in ihm als Kind die Faszination für die Wildnis geweckt hatte, im selben Jahr starb, wie er: 1890, am Höhepunkt des sogenannten Ghost Dance War, in dem die Sioux beinahe ausgerottet wurden.

Auf den ersten Seiten des Katalogs geht es dann nicht um die genozidale Romantik des alten nordamerikanischen Westens, sondern um das Überleben in der heutigen Zeit. Es gibt Raketenöfen, Super Pots, Allesbrenner, Petroleumheizungen und Selbstverteidigungsschirme.  Den Sonderpreis von 70 Euro – statt 120 – für einen Regenschirm(!), kann der Koppverlag dadurch rechtfertigen, dass dieser das „Gewicht eines Menschen“ aushält und „Schläge gegen eine Betonwand klaglos weg(steckt), ohne zu splittern oder zu brechen“. Ein Schirm mit dem man Zombies die Schädel einschlagen kann.

Auf derselben Seite befindet sich aber auch der taktische Kugelschreiber. Dieser „macht sich jeden Tag nützlich“. Wodurch? Natürlich durch LED-Leuchte, Glasbrecher und einer Spitze aus vergütetem Stahl, als „Druckverstärker“ für den „Verteidigungsfall“. Wenn dir also das Ausstechen von gegnerischen Augen mit einem herkömmlichen Kugelschreiber nicht ausreicht.

Dann erst geht es mit den Büchern los. Und, wie vermutet, beginnt es mit der Homöopathie. Selbstheilungsbücher mit Titeln wie „Heile dein Gehirn“ und „Mediale Medizin“ füllen dutzende Seiten. Ihre Grundaussage: Jeder Körper hat ein Immunsystem. Wer trotzdem krank wird, soll sich gefälligst selber heilen, denn die Mittel der modernen Medizin sind Teil des Systems, das uns krank macht. Das geht so weit, dass sogar die Optiker ihr Fett wegkriegen, mit den Büchern „Vergiss deine Brille“ und „Wieder lesen ohne Brille“. Mach eine „Neustart für die Augen“ und spar dir das Sehgerät des Kulturfeindes. Brillen tragen nur Marxisten, das weiß jeder. Außer unter Maos Kulturrevolution, da war die Brille Zeichen des Klassenfeindes. Ein echter bäuerlicher Proletarier kam gar nicht dazu schlecht zu sehen, er hatte zu viele Kleinvögel auszurotten – was zu einer Insektenplage führte – und Schmelzöfen in seinem Hinterhof zu betreiben – was zu einer Hungersnot führte.

Vitaminpräparate und Nahrungsergänzungsmittel, Tropfen und Gelee, Pulver und Cremen, Kapseln und Kräuter, ergänzt durch Heilkerzen und das eine oder andere Buch über heilendes Metall – „Heilen mit Gold“ – oder Stein runden dann das Gesundheitsselbstbild der Kopp-Verleger ganz gut ab. Pillen schlucken wollen sie nur, wenn sie erwiesenermaßen keine medizinische Wirkung haben.

Aber wieder zurück zu den Büchern und in die Abteilung Urgeschichte. Kelten und Höhepunkte der prähistorischen Bau- und Ingenieurskunst – Stonehenge – stehen neben neuen Beweisen „für die historische Richtigkeit des Buches der Bücher“ – die Bibel. Die Frage: „Schafft der Papst die Kirche ab?“ ist sicher jedem wichtig, der sich nebenbei noch für nordische Götter, mysteriöse Schamanen und „Das letzte Geheimnis von Mirin Dajo“ interessiert – einem Mann, der nicht blutete, keinen Schmerz empfand und immun gegen Infektionen war, obwohl „er seinen Körper mit Waffen aller Art durchstechen ließ. Quer durch alle Organe.“ Letztlich bezahlte dieser „unverletzbare Prophet“ seinen Versuch „den Dritten Weltkrieg“ zu verhindern, aber doch mit dem Leben. Wahrscheinlich per Säurebad. Sonst fallen mir keine Möglichkeiten mehr ein.

Wenn wir von Geheimnissen sprechen, darf natürlich das Geheimnis der Matrix nicht fehlen. „Der neue Mystery Report“ befasst sich mit weltbewegenden und vor allem ungeklärten Fragen wie: „Wussten Sie, dass immer mehr Sterne an unserem Himmel spurlos verschwinden?“; „Weshalb blickt uns auf einem historischen Gemälde der Matrix-Schauspieler Keanu Reeves entgegen?“; „Wusste Walt Disney mehr über UFOs und die Zukunft als wir?“; „Und was hatten geheimnisvolle Winzlinge in der Alpenwelt verloren, die just dann aus unserer Realität verschwanden, als wir ihnen auf die Schliche kamen?“

Alles – natürlich – berechtigte Fragen. Es gibt ja auch keine dummen Fragen, nur dumme Antworten. Und die gibt es dann in dem Buch über die Geheimnisse der Matrix.

Eindeutig wichtiger als die Geheimnisse der Matrix zu ergründen, ist aber, dass die Antarktis „seit 65 Jahren“ ein „politisches Ränkespiel hinter den Kulissen!“ betreibt. Wer es noch nicht wusste: Die Eisenhower Regierung hat mit einer deutschen Exilantengruppe in der Antarktis eine Vereinbarung getroffen. Von dort starten seit Jahrzehnten regelmäßig Raketen ins All und seit 1961 wird von dort aus der intergalaktische Sklavenhandel abgewickelt. Wem davon nicht die Augen aufgehen, der hat sein Leben nicht verstanden. Oder?

Zuletzt noch ein paar Worte zu einem Mann „der immer recht behalten hat“, einem „abtrünnigen Denker“, der „eine der wichtigsten Stimmen unserer Zeit“ ist. Er hat mehrere Bücher geschrieben, in denen er seine „Wahrnehmungen“ und „Vorhersagen“ darlegt. Aber eines dieser Bücher ist besonders wichtig, denn darin wirst du erfahren, „wer die menschliche Gesellschaft wirklich steuert“. „In diesem Buch finden Sie den Beweis, dass die Menschheit in einem Ausmaß getäuscht wurde, das kaum zu glauben ist.“ Aber nicht etwa darüber, dass wir nicht für die Befriedigung unserer Bedürfnisse, sondern zur Verwertung des Werts zum ewigen Arbeitszwang verdonnert sind. Sondern über viel tiefergehendere Probleme wie Transgenderhysterie und Covid-19 Betrug. Hier geht es nicht um Kritik der bestehenden Verhältnisse, sondern um einen „Augenöffner“ der zeigen soll, wie die Welt wirklich ist. Zumindest in der Vorstellungswelt von jemandem, der immer recht behalten hat.

Zwei Muster ziehen sich bei dieser Literatur durch. Die Autoren inszenieren sich als unverstandene, missverstandene, unterschätzte Genies, die ihrer unweigerlichen Entdeckung harren. Spätestens dann, wenn ihre – meist schwer überprüfbaren – Behauptungen irgendwann einmal verifiziert sein werden.

Und das zweite Muster: Egal welche Probleme es in der Welt gab oder gibt – vom Ersten Weltkrieg über den intergalaktischen Sklavenhandel, Krebs und Klimawandel, bis hin zum Ukrainekrieg – Deutschland und Russland sind daran nicht schuld! Wie wir aus „Hunter Bidens Laptop from hell“ erfahren können, sind es vielmehr die USA und sonstige heimliche Herren der Welt. Deshalb hat Oskar Lafontaine auch völlig recht, wenn er feststellt „Ami, it’s time to go!“. Denn wie wir alle wissen, ist es nicht Putin der mittels der russischen Armee Krieg in der Ukraine führt, sondern es sind „Amerikas Hardliner (die) den Ukraine-Krieg anheizen“. Da versteht sich der Kopp-Verlag plötzlich sehr gut mit manchen der sogenannten Linken in Europa.

Abgesehen davon ist natürlich auch die Geschichtsschreibung einer Revision durch den Kopp Verlag bedürftig. Vor allem die Geschichte der beiden Weltkriege. Denn wohlgemerkt: „Die offizielle Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg ist eine vorsätzliche Lüge.“ In Wahrheit strebte ein einflussreicher Zirkel in Großbritannien schon lange vor Beginn des Krieges die „Niederwerfung Deutschlands an“. Ob es wohl einflussreiche Zirkel in Deutschland gab, die schon lange vor dem Krieg die Niederwerfung Frankreichs anstrebten? Wir werden es nie erfahren, denn dafür interessieren sich die Historiker des Kopp-Verlages nicht. Was sie aber sehr wohl wissen, ist, dass auch der Zweite Weltkrieg nicht die Schuld der Deutschen war. Hitler war ja Österreicher. Haha, Scherz. Nein das wär ja zu einfach. Aber eine Reihe „überraschender Dokumente“ belegen, dass „eine ganze Anzahl von Staaten“ den Zweiten Weltkrieg „angezettelt haben“. Tja, wer immer nur der „Version der Siegermächte“ folgt, der bleibt halt blöd und kriegt die Geschichte dann nicht „ganz einfach so erzählt, wie sie nach heutiger Quellenlage abgelaufen ist“. Nämlich, einem „konsekutiven Zwang des Krieges folgend“,also sozusagen von allen Beteiligten ausgelöst und verantwortet. Jeder Schuld und – vor allem – Hitler und die Nazis nicht ganz so schuldig. Dementsprechend lobt auch der O-Ton „der Autor erzählt auf eine Weise, als hätten wir diese Geschichte noch nie gekannt“.

Das zur autonomen Lebensführung notwendige Wissen wächst an, die Zeit es sich anzueignen wird weniger. Mit der wieder anwachsenden Arbeitsbelastung steigen aber die Gehälter nicht mit. Was bleibt denn anderes als – wenn schon nicht mehr an Gott – so zumindest an die preismäßig günstigste Verschwörungstheorie zu glauben, die verspricht alles zu erklären was uns seltsam vorkommt und wofür ein Haufen an Informationen notwendig wären, um es begreifen zu können?

Im Bewusstsein, dass es bei wirklich harmlosen Meinungen selten bleibt, wenn es um Politik geht, verabschiede ich mich an dieser Stelle vorläufig und versuche erst mal meine Augen aufzumachen. Ich glaube nämlich ich hatte einen schlechten Traum und würde sie jetzt gerne mit Lauge auswaschen.

Niklas Luhmann ermöglicht Nichtpolitik zur Unzeit

Die Luhmann Homestory zeigt einige Aufnahmen mit ungewöhnlichem Inhalt. Man sieht Niklas Luhmann seinen Zettelkasten streicheln und mit ihm flüsternd konversieren. Man sieht ihn über den Gang trotten und mit einer Kollegin interagieren: „Die autopoietische Struktur deines Fingernägelwachstums fasziniert mich, Sieglinde.

Man kann ihn dabei beobachten, wie er in der Institutsbibliothek Titel von den Buchrücken abliest und jedem der Titel den Zusatz „der Gesellschaft“ hinzufügt. Dabei entstehen Klassiker mit einem Hauch von Understatement: Die feinen Unterschiede der Gesellschaft. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens der Gesellschaft. Risikogesellschaft der Gesellschaft. Die moderne Industriegesellschaft der Gesellschaft. Wirtschaft und Gesellschaft der Gesellschaft. Aber auch neue Soziologische Meisterwerke wie diese: Aphorismen zur Lebensweisheit der Gesellschaft. Vom Ewigen im Menschen der Gesellschaft. Oder: Philosophie des Abendlandes der Gesellschaft.

Wer das zwänglerisch findet, hat keinen Humor und von Soziologie sowieso keine Ahnung. Die Luhmann-Originale machen es vor. Da gibt es etwa „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ ein Buch in dem sinnfällige Sätze stehen, wie: „Der Anschluß von Kommunikation an Kommunikation [kann] nicht willkürlich, nicht zufällig geschehen, denn sonst wäre Kommunikation für Kommunikation nicht als Kommunikation erkennbar.“ Und auch wenn dieser Satz doch bei weitem mehr Sinn ergibt, als Martin Heideggers berühmteste Posse über die Sprache: „Die Sprache ist: Sprache.“ (Martin Heidegger: Die Sprache), so erinnert er doch an die magische Anrufung eines Begriffs zu dem einem ansonsten nicht allzuviel eingefallen ist. Oder sollte die Häufung des Wortes Kommunikation der Tatsache geschuldet sein, dass „Die Sprache spricht.“, wie Heidegger vermutet?

Der kleine Niklas war bereits 1943 Luftwaffenhelfer bei der Wehrmacht obwohl er erst 1944 eingezogen worden ist. Dafür trat er dann auch gleich der NSDAP bei. Dass er dann als Konsequenz einige Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft verbringen musste hat er den Amerikanern wohl nie verziehen. Vor allem weil deren Behandlung der Gefangenen, wie er noch in den 1990ern verlautbarte „gelinde gesagt nicht nach den Regeln der internationalen Konventionen“ gewesen ist.

Wie dem auch sei. Die Systemtheorie, laut Luhmanns Selbstbeschreibung „eine besonders eindrucksvolle Supertheorie“ (Soziale Systeme, ab hier SS) kennzeichnet sich durch das Ressentiment ihres Autors „gegenüber Systemkritikern“ wie Bernd Ternes schreibt. Es handelt sich also um eine Theorie des Systems, die das System richtig geil findet, oder jedenfalls nicht kritikwürdig.

Die Systemtheorie ist das akademische Eingeständnis, dass die Politik jeden Gestaltungswillen aufgegeben hat. Zugunsten einer Verwaltung der Misstände, einer Lobbyarbeit für wenige Privilegierte und einer Vertretung persönlicher Interessen.

Niklas Luhmann ist Michel Foucaults deutsches Äquivalent, ein Meister der humanistischen Unverbindlichkeit und der menschlichen Abgründe, der sein Denken in einen Zettelkasten ausgelagert hat. (Um den seine Kinder übrigens jahrelang vor Gericht gestritten haben.) Gemeinsam mit Foucault ist er Repräsentant einer Theorie, die Nichtpolitik zur Unzeit betreibt. Einer Theorie, die lieber fröhlich und provokant ist als kritisch oder lösungsorientiert.

Zwei Herren namens Narr und Runze kritisieren die Systemtheologie bereits 1974, als Luhmann noch nicht durch die neoliberale Totalunterwerfung aller akademischen Bereiche in seiner zynischen Theorie vollkommen belegt und damit sakrosankt war.

Bei der Systemtheorie handle es sich laut Narr und Runze um ein begrifflich-begriffloses Strudeln, eine Auseinandersetzung mit ihr droht daher stets im positiven oder negativen Faszinosum unterzugehen. Luhmann verwende scheinbar szientifische Termini zur Feier eines ekstatischen Commonsense gegenwärtiger „überkomplexer“ Gesellschaft.

Soweit ich verstanden habe, bedeutet das folgendes:

Der Hausverstand wird systemtheoretisch angereichert und in die deutsche Küche geschickt, um die leere Schüssel begrifflich fertig zu backen. Auf geistige Nahrungsmittel, den Inhalt der Schüssel, ein Rezept, oder gar die Kritik eines misslungenen Rezepts wird großzügig verzichtet. Selbst die Systemanalyse wird, nachdem die Theorieluft ausreichend erhitzt wurde, sofort mit Sagrotan abgewaschen und hinterlässt deshalb bei Fertigstellung nicht einmal im bakteriellen Bereich kritische Spuren.

Aber nicht nur so genannte Linke finden Luhmann peinlich. Auch Klaus von Beyme nennt ihn sehr treffend einen wohlgemuten Nihilisten. Nicht, oder gerade doch, zu verwechseln mit dem fröhlichen Positivisten Foucault. Die bloße relativ unreflektierte Übernahme von Worthülsen aus den Naturwissenschaften in die Sozialwissenschaften führt dazu, so von Beyme, dass Individuen nur mehr als Teile von Systemen, oder besser noch, deren Anhängsel, erscheinen. In seinem Werk wird dementsprechend eine immer stärkere Entfernung von konkreten Analysen sichtbar. Wer vom Menschen absieht, braucht auch das System nur mehr ungefähr zu beschreiben. Das Begriffssystem der Systemtheorie wird parallel dazu auf Selbstgenügsamkeit programmiert. Empirisch erfassbares wird zusehends weggeschoben. Handlungsorientierung ist in der späten Systemtheorie ohnehin nicht mehr angedacht.

Die vollständige Umstellung von Subjekt auf System tut der Kritik des Systems jedenfalls nicht gut. Denn auch wenn man nicht genau sagen kann was gesellschaftlich vernünftig wäre, könnte man doch im Hinblick auf Individuen und deren Leiden zumindest noch sagen, was unvernünftig ist. Wenn es Individuen im System noch gäbe. Aber der Mensch gehört laut Luhmann zur Umwelt des Systems. (Die Gesellschaft der Gesellschaft, ab hier DGdG) Die eindrucksvolle Supertheorie ersetzt Individuen und deren Leiden durch den Begriff der Komplexität („Gegen Komplexität kann man nicht Protestieren.“ (DGdG)), der funktionalen Differenzierung und der Kontingenz. Eine Kritik an schlechten Verhältnissen ist an diesem Punkt nicht mehr notwendig. Auch Zwangskollektive sind nur Systeme neben anderen und religiöse Zwangskollektive können gleichberechtigt neben dem Bildungssystem zum Stehen kommen, wenn die Evolution das so will. Denn Gesellschaft ist das Resultat von Evolution (DGdG) und nicht, wie naive Philosophen bisher angenommen haben, ein Ergebnis politischer Kämpfe oder historischer Entwicklungen. System neben System, feinsäuberlich wie im Zettelkasten, der für Luhmann das Denken übernommen hat. Die Evolutionstheorie der Gesellschaft nimmt „Emergenz und Destruktion von Systemen mit Gleichmut hin“ (DGdG). Sie ist also in Bezug auf gesellschaftliche (Selbst-)Zerstörungsprozesse voll Zen.

In dem Zusammenhang verblüfft der Status menschlicher Existenz innerhalb der Systemtheorie nicht mehr allzu sehr. Denn es geht nicht darum menschliches Individuum (mit allen möglichen Freiheiten) in einer Gesellschaft (mit allen notwendigen Restriktionen) zu sein, sondern vielmehr ums „Personsein“ (SS) an sich. Person ist im Zettelkastensprech eine Personalausweis-Persönlichkeit. Sie generiert ihre Komplexität, das was die Romantiker hintersinnig „Tiefe“ genannt haben, aus Eigen- und Fremderwartungen. Erwartungen zu entsprechen, ist also ihre vorzüglichste Übung und komplex zu sein bedeutet in diesem Fall Erwartungen zu haben oder zu erfüllen. Dementsprechend ist auch nicht das Individuum und seine Fähigkeit selbständig urteilen zu können Grundlage einer funktionierenden Zivilgesellschaft, sondern das Rechtssystem, das deshalb „Immunsystem“ (SS) des Gesellschaftssystems sein kann, weil es den Umgang mit Erwartungen regelt. Als habe es den Verfall rechtlicher Mindeststandards und die Aushebelung des Rechtsstaats nie gegeben. Das historische Faktum der möglichen Immunschwäche wird, gelinde gesagt, auf die leichte Schulter genommen. Die historisch mögliche Trennung von Normen- und Maßnahmenstaat, die Selbstausschaltung des Rechtsstaats durch Verordnungen und Antizipation des Führerwillens sollte aber die Frage dringend machen: Wo bleibt denn das Immunsystem, wenn die Menschen die es anwenden sollen kein Rückgrat haben?

Rückgrat brauchen die Menschen als Beiwohner des Systems nämlich nicht. Sie erscheinen bei Luhmann ohnehin nur unter dem systemischen Urteil ihrer „sozialen Justierung“ (SS). Gefühle werden demgemäß in einer Sprache beschrieben, die auf eine völlige Abwesenheit derselben schließen lässt: „zwischenmenschliche Interpenetration“ schreibt Luhmann über die Begegnung von zwei Menschen, die sich zu schätzen lernen. Gefühle sind nichts anderes als wiederum „Immunsysteme“ (SS) die der Aufrechterhaltung des Bewusstseinssystems dienen, also psychischer Stabilität.

Diese Stabilität ist wichtig, denn Abweichungen mag sich das System nicht leisten. Wo bei Foucault der Gegensatz von normal/annormal, gesund/ungesund aus der Warte der Anormalen problematisiert wird, findet bei Luhmann eine Kranzlegung für den (psychisch) gesunden, funktionstüchtigen und sozial justierbaren Menschen statt. Wie gut das zusammengeht mit den neuen Diskursen von höchster Flexibilität und (Orts-)Ungebundenheit, bei gleichzeitiger ständiger Abruf- und Einsatzbereitschaft für den Markt, den Staat und die Pandemiegesetzgebung! Aufrechterhaltung, Bestandswahrung, Weiterwursteln. Alles Begriffe die wir aus den aktuellen Zeitungsschlagzeilen zur Genüge kennen. Das entspricht der Verwaltung der völligen Verausgabung der individuellen Ressourcen zum Wohle der kollektiven Interessen und zum Reichtum derjenigen die es sich leisten können. Das System hat eine diabolische Funktion: Die Aufrechterhaltung aller Verhältnisse und damit auch der Ausbeutungs-, Missbrauchs- und Gewaltverhältnisse. Das Gewaltmonopol und die Corona-Maßnahmen haben natürlich eine Schutzfunktion, ein friedensschaffende und eine Pandemie-brechende Wirkung. Aber sie hebeln die Ignoranz der politischen Kaste, die ökonomischen Ungleichheiten und die strukturellen Ungerechtigkeiten nicht aus. Sie schaffen Ruhe und störungsfreien Betrieb, ohne Leiden zu lindern. Der Kapitalismus wird momentan auf Arbeit und Einsamkeit reduziert. Das Ausharren im System ist demnach eine Kampagne zur langsamen Zerstörung der individuellen Resistenzkräfte in einem Zermürbungskrieg, der die Lücken für jeglichen Eskapismus langsam versiegelt. Die Systemtheorie spielt dabei die Rolle eines akademisierten Nebelwerfers dieser Haupt- und Staatsaktion der Kritikzensur durch Fantasieblockade.

Luhmanns Hauptbotschaft ist ja, um noch einmal Klaus von Beyme zu zitieren: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“ Das ist, auf Deutschland bezogen, Luhmannpolitik in Reinkultur. Also auch diesbezüglich war er ein Prophet. Und Angela Merkel ist die aktuelle spirituelle Anführerin (im Sinn einer Charaktermaske) dieser Nichtpolitik.

Die Bürger sollen ihre spärliche Freizeit zugunsten der Volksgesundheit aufgeben, damit das Geschäft weiterlaufen kann. Denn Tote zählen nicht, wenn sie aus wirtschaftlichen Gründen in Kauf genommen werden müssen. Also volle U-Bahnen, Großraumbüros, Fertigungshallen und Schilifte und die damit verbundenen Toten sind der Preis, den man halt zahlen muss für die Fortsetzung der wirtschaftlichen Ausbeutung weiter Teile der Bevölkerung. Aber Museen, Gastgärten, Mittelalterfeste oder Schulsport im Freien sind verboten. Das Risiko sich bei einem Vergnügen zu infizieren ist gegen das Risiko sich bei seiner Pflicht zu infizieren als unstatthaft festgelegt worden. Sich ruhig verhalten, ruhig bleiben, nicht in die Öffentlichkeit, außer zur Arbeit. Alles muss weiterlaufen, aber ruhig, unaufgeregt. Egal wie schlecht die Verwaltung des ganzen läuft. Egal wie sehr die Ungerechtigkeiten durch die Krise wachsen. Konzerne die bisher kaum Steuern zahlen, kassieren jetzt auch noch Corona-Hilfen vom Staat und die Regierung in Österreich fühlt sich nicht verpflichtet aufzudecken, an wen die großzügigen Hilfen konkret gehen und wie hoch sie ausfallen.

Die Systemtheorie hat sich, auch über den Umweg ihres einstigen Kontrahenten Jürgen Habermas, in die Gefühlsmitte der Deutsch-Europäischen Gesellschaft geschlichen. Ergänzt durch juristische und naturwissenschaftliche Expertise hat sie sich in der politischen Bürokratie als alternativloses Entscheidungs- und Gestaltungssystem etabliert und ist mit allen akademischen Meriten zur objektiven Gestalt der gesellschaftlichen Gesamtvernunft erkoren worden. Und das so subtil und stillschweigend, wie es die Evolution der Gesellschaft eben vorsieht. Der reaktionäre Stillstand ist also naturgegeben und es erübrigt sich ihn zu analysieren, alles was zu tun bleibt, ist ihn zu beschreiben und ab und an in moralistischen Appellen Durchhalten zu verordnen.

Wir schaffen das.

Das ist der aktuelle Stand der deutschen Befindlichkeitsideologie. Merkel kennt sie auswendig. Nicht umsonst liefert Deutschland weiterhin Waffen an beinahe alle Faschisten dieser Welt, und mit wenigen Staaten ist Merkels Regierung nachsichtiger als mit denen die wirklich auf jegliche Menschenrechte pfeifen. Griechenland hatte dieses Glück nicht. Tolerant ist die neue Deutsche Ideologie vor allem mit den Mörderregimen dieser Welt, denn die will man nicht allzusehr verärgern, das würde nur Unruhe in den Betrieb bringen.

Denn in der Praxis hat dieselbe konservative Merkelregierung das System, das jetzt etwas schaffen soll, über Jahrzehnte kaputtgespart. Krankenhäuser, Landesverteidigung, Katastrophenschutz, Sozialsystem, Wirtschaftsstandort, Innovation. Alles röchelt dahin. Begonnen bei der Agenda 2010, vom „Sozialdemokraten“ Schröder, bis heute, zieht sich ein konservativer Kontrollverlust durch alle Instanzen. Und in der Corona Pandemie wird auch noch der sogenannte Mittelstand durch Blödheitspolitik vernichtet. In Österreich übrigens von der so genannten Wirtschaftspartei. Mit Systemtheorie geht das. Der Mensch ist die Umwelt des Systems. Und ob kleine Unternehmer im digitalen Business heutzutage außer einem Laptop gar keine Arbeitsmittel brauchen und daher aus der Corona-Hilfe diese eben nicht geltend machen können, sondern ihre Lebenserhaltungskosten bestreiten müssen, das muss eine Wirtschaftspartei ja nicht wissen. Der Mensch ist eine moralische Variable, die Theorie und auch das System kennt aber keine Moral. Nur den Begriff davon.

Aktuelle Politik besteht aus dem Dauerappell weiterzumachen ohne die Ressourcen zum Weitermachen zur Verfügung zu stellen. Es herrscht Unplanbarkeit und Verunsicherung. Die Politik drückt sich vor kollektiv bindenden Entscheidungen, drückt sich vor Verantwortung, drückt sich vor Solidarität. Die Politik verlangt gleichzeitig vollen Einsatz von allen und diskreditiert diejenigen, die davon frustriert sind. Die Politik stellt zwar keinen Plan zur Verfügung, aber es sollen sich gefälligst alle daran halten.

Wenn man diese Begriffsmoral konkret ausbuchstabiert, fällt man auf einen Scherbenhaufen. Denn das theoretische „Wir schaffen das!“ hat ja praktische Konsequenzen gehabt. Menschen die auf der Suche nach Schutz vor Krieg und besseren Lebensbedingungen aufgebrochen sind, sind dem System in die Falle gelaufen. Denn die Merkelsche Begriffsmoral hat nicht vorgesehen der Theorie auch eine Praxis anzuschließen. Es gab und gibt keine ausreichende Infrastruktur für die Aufnahme und menschenwürdige Unterbringung geflüchteter Menschen. Menschen die vor islamistischer Gewalt Schutz gesucht haben, sind in Europa auf dieselben islamistischen Strukturen gestoßen, vor denen sie geflohen sind. Opfer sind in Lagern mit Tätern eingeschlossen und zugleich Familien voneinander getrennt. Das auch, weil zwar zur Flucht aufgefordert wurde, aber niemand sich verpflichtet gefühlt hat für sichere Fluchtrouten zu sorgen. Das deshalb, weil es beim Personsein eben nicht um Humanität geht, sondern um einen Amtstitel, den man durch Geburt erwirbt. Die europäische Politik insgesamt ist zynisch und unbedarft zugleich und hat doch ein System.

Die Kaltschnäuzigkeit der Systemtheorie ermöglicht den Zynismus und die Nichtpolitik der Elite, die den Ausgebeuteten auch noch feixend und moralisierend die Arschkarte der Eigenverantwortung und des Anstands zuschiebt, die sie selbst (während sie auf gut bezahlten und gut gesicherten Posten sitzt) schon längst nicht mehr vorlebt.

Es wird ja in Österreich schon deshalb nicht von einem politischen Posten zurückgetreten, weil man ja von vornherein keine Verantwortung für irgendetwas übernimmt. Niemand ist zuständig. Ob auf Moria Kinder von Ratten angenagt werden, geht niemanden etwas an und wenn zwischendurch doch eine Grüne Politikerin ein paar empörte Zeilen darüber schreibt, dann tut sie das in dem Wissen, dass sie mit dem Thema gar nicht zur Abstimmung kommen wird in der teilweise Grünen Regierung. Am Ende wird sie einfach sang und klanglos von ihrem Posten entfernt.

Da fresst und fühlt euch moralisch erhoben. Aber wisst auch, dass dieses Leiden naturgegeben ist und wir da nichts machen können.“ So flüstert es aus dem Zettelkasten, im Einklang mit Hayek und Mises und allen so genannten Marktliberalen, die doch in Wahrheit Marktfetischisten, Marktextremisten und Marktterroristen sind. Das System (die Natur der der Mensch beiwohnen darf) wird’s schon richten. Und hats ja schon gerichtet, sonst wären ja die oben nicht da wo sie sind und die unten nicht da wo sie nicht sein wollen.

Dass die politischen Verwaltungen Österreichs in den letzten 30 oder mehr Jahren zerstört worden sind, sieht man an dem durchgängigen Versagen in der Krise. Sei es in der Terrorismusbekämpfung, in der Aufnahme von Schutzbedürftigen, oder in der Bekämpfung einer Pandemie. Es dauert Wochen bis auch nur brauchbare Informationen veröffentlicht werden von einem längerfristigen Plan oder konsistenten Maßnahmen ganz zu schweigen. Es ist ein kopfloses, haltloses, machttrunkenes Herumstolpern aller Verantwortlichen, das sich bis in die Verästelungen mancher Verwaltung hineinzieht. Noch scheint es weniger um Korruption und mehr um wirkliche Unfähigkeit angesichts von Aufgaben, die man eigentlich nie bewältigen wollte, zu gehen. Das System ist auf Unfähigkeit codiert. Verantwortliche gibt es laut Systemtheorie nicht. Das Projekt lautet: Theorie der Gesellschaft. Laufzeit: Mehr als 30 Jahre. Kosten: Sehr hoch. Denn Menschen gehen zugrunde.

Die Systemtheorie beginnt mit Luhmanns Traum, den Humanismus seiner Bigotterie zu überführen. Zu zeigen, dass, solange moralische Ansprüche Druck auf das Denken ausüben, diese Ansprüche nicht eingelöst werden können. Dazu wird der Mensch vermittels Theorie all seiner intrinsischen Ansprüche und Fähigkeiten entkleidet und er wird aus dem Zentrum der Verantwortung an die Peripherie des Systems verbannt, damit er ja keinen Schaden mehr anrichten kann. Zurecht stellt Luhmann fest, dass menschliches Eingreifen im Namen des Humanismus oft Leid erzeugt hat. Aber diese Verantwortung an das System abzutreten verlagert die Problematik nur dorthin, wo sie von Menschen nicht mehr gelöst werden kann. Luhmann nimmt dem geschichtlichen Verlauf das einzige autonome Korrektiv das er hatte. Ermutigt von der postulierten systematischen Überlegenheit wird diesem ohnmächtig gehaltenen Korrektiv dann auch noch von den profitierenden Agentur-Eliten die volle Verantwortung zugeschoben, sodass letztlich niemand verantwortlich und doch alle Schuld sind an dem Unglück, das sich vor aller Augen ereignet.

Wir schaffen das!“ bedeutet, „Löst es selbst.“, denn überall sonst herrschen Sparzwänge und das Diktat der Wirtschaft. Der Moralismus der Herrschenden, die sich nach unten abputzen, belehrt dann, aus der gepanzerten Limousine heraus auch noch die, die ohnehin am Boden liegen, weil sie in der U6 zerquetscht worden sind: „Seid untereinander tolerant und teilt das bisschen was wir euch lassen.

Insofern ist diese Systemtheorie eine konsequente Fortsetzung des typischen deutschen Geschwurbels und Gemurmels, das stets verlässlich davon ablenkt, dass gerade alles schiefläuft. Nur dass es in der aktuellen Situation nicht mehr zur (stets nationalsozialistisch brauchbaren) Seinsphilosophie, sondern nur mehr zur Speibphilosophie gereicht hat, die das wiederholte Versagen des Systems über den Mittagstisch wieder hereingeholt hat in den engsten Familienbereich. Wo wir jetzt mit Corona und Wirtschaftskrise alleine sitzen und uns fragen: Wie konnte das passieren?

Für Gottkaiser und Vaterland

Eines der bekanntesten Memes des 18. Jahrhunderts waren die Geschichten von Baron Münchhausen, von dem behauptet wurde, dass er von sich selbst behauptete, er sei beim Versuch auf dem Rücken seines Pferdes einen Sumpf zu überqueren, bis zum Hals im Morast versunken und habe anschließend sich und sein Pferd am eigenen Zopf wieder herausgezogen. Münchhausen kann man, wie einigen starken Männern der Gegenwartspolitik, keine Bescheidenheit vorwerfen. Sein Meme-Game war stark, sein Haupthaar voll, seine Finger lang und schön, er war bescheiden, hatte die besten Wörter seine Geschichten zu erzählen, war ein wahrer Chad und erkannte bereits früh, dass die Linke sich beim memen schwer tut.

In „The Selfish Gene“ bezeichnet Richard Dawkins ein Mem(e) als „Grundeinheit kultureller Systeme“. Es handelt sich um Ideen, Texte, Erzählungen, Mythen, Bilder, Wörter, etc. die zwischen Menschen weitergegeben werden. Diese Memes sind stets Imitationen, Mutationen und Replikationen unterworfen. Dies gilt auch für jene Memes, die online im Umlauf sind und täglich zahlreicher werden. Memes folgen dabei bekannten Mustern, die aktualisiert und moduliert werden können, sich jedoch innerhalb von bestimmten Grenzen, Templates, Schablonen, bewegen. Kompliziertheit hat dabei nicht die höchste Priorität, weil die Verständlichkeit auf der Strecke bliebe. Ein Meme geht bestenfalls viral, darf dafür aber nicht zu komplex sein.

In „Kill all Normies“ spricht Angela Nagle davon, dass es im Laufe des US-Wahlkampfs 2016 gegen Hillary Clintons Kampagne zur Mobilisierung einer merkwürdigen „Spitze aus Teenage-Gamern, anonymen Swastika-Postenden Anime-Liebhabern, ironischen South Park Konservativen, antifeministischen Schelmen, nerdigen Störenfrieden und meme-produzierenden Trollen kam, deren schwarzer Humor und Liebe zur Transgression um der Transgression Willen es umso schwerer machte herauszuarbeiten, welche politische Meinung tatsächlich vertreten wurde, und welche nur zum Spaß“ (for the lols/lulz). Was sie alle zusammenhielt, so Nagle, war ihre Liebe zum Spott gegen die „Ernsthaftigkeit und moralische Selbstschmeichelei“ etablierter liberaler Politik und der Vollstrecker der neuen identitätspolitischen Empfindsamkeit. Man eignete sich eine Anti-Establishment-Attitüde an, die bisher vor allem aus linken Kreisen bekannt war. Die neue Rechte konnte dabei, nach Nagle, auf eine vormals als linke Tugend verklärte Ästhetik der Gegenkultur und des Nonkonformismus zurückgreifen.

Jener Zusammenschluss von Online-Trollen, Incels, Memern, Alt-Right-Aktivisten und anderen Randgestalten aus dem Online-Irrgarten, erklärt die Beliebtheit von Donald Trump, der selbst längst Troll, bzw. Meme ist. Sein Sieg war damit auch ein Sieg über den Mainstream und die etablierten Medien. Der Bienenstock hatte seine Königin gekürt: Den ehemaligen Gastgeber einer TV-Sendung, bei der die Berufsqualifikationen der Kandidaten auf die Probe gestellt werden, dem es selbst schon früh gelang Teile des erfolgreichen Immobilienunternehmens seines Vaters zumindest partiell in den Sand zu setzen.

Mit der Eleganz des politisch Unbedarften, der soeben über eines der mächtigsten politischen Ämter der Weltbühne gestolpert war, konnte er ein Konglomerat aus ebenso oftmals apolitischen Shitpostern um sich versammeln, die das Internet ans Gestade der Virtualität gespült hatte. Abkömmlinge eines sozialmedialen Milieus, das sogar noch die extremste Ideologie des vorigen Jahrhunderts zum ästhetisierten Cosplay und LARP erniedrigt und sich mit der hundertsten Referenz der Referenz nicht begnügt, einem Potpourri aus bunt gesträhnten Facebook-Kommunisten mit artsy Hammer-und-Sichel-Tattoo und My-Little-Pony-Profilrahmen, die Kim Yo Jong Toastbrot in den Mund photoshoppen, neben gesichtslosen edgy Animeprofilen mit Sonnenrad-und-Kanji-Frame, die Sayyid Qutb und Goebbels zitieren und Abigail Shapiros Brüste bewundern.

Die politische Unterfütterung bilden rechtsextreme Alt-Light und -Right-Aktivisten, deren reaktionäre Ansichten in der Menge aus (halb-)ironischen Shitposts zu verschwinden scheinen. An ihren Rändern sammeln sich Verschwörungstheoretiker und QAnon-Gläubige, deren Weltbild ohne zum tausendsten Mal aufgewärmte antisemitische Trope natürlich dennoch nicht auskommt, wenn auch auf Steroiden.

Dem nebulösen Siegestaumel von God Emperor Trump folgte nach dessen Abwahl 2020 wider Erwarten nicht der sofortige Rücktritt des Gottkaisers. Wer hätte das gedacht? Bereits vor seiner Briefwahl-Niederlage hatte er die Briefwahl – die in Ausnahmefällen übrigens bereits im Massachusetts des 17. Jahrhunderts möglich war – als Teufelszeug abgetan und bei seinen Anhängern dafür gesorgt, dass eine eventuelle Abwahl nicht etwa mit einem Wahlsieg seines Kontrahenten zu erklären wäre, und der eigenen Unterlegenheit geschuldet, sondern allein mit Wahlbetrug. Eine Präventivstrategie, die auch die FPÖ im Laufe ihrer Geschichte immer wieder mehr oder weniger erfolgreich zum Einsatz brachte.

Wider alle Erwartungen weigerte sich nicht nur Trump sich still und heimlich von der Bühne zu entfernen, auch seine Gefolgschaft löste sich überraschend nicht in Luft auf, sondern machte sich auf Zuruf ihres Idols auf zum Sturm auf die Bastille, der aber eher einem Schas im Wald gleichen sollte, dessen Neuheitswert leider nur der Tatsache geschuldet war, dass vier Menschen dabei ums Leben kamen, während der Rest damit beschäftigt schien Revolution zu spielen, wobei deren politischer Aktivismus sich wohl darin erschöpfen sollte die Fahne Georgiens zu schwenken, um sich später auf Youtube in den Aufnahmen selbst betrachten zu können, Memes davon auf Reddit zu posten, wie man mit Nancy Pelosis Rednerpult für Fotos posiert und sich damit seiner Partizipation am Offline-Raid zu vergewissern, was anscheinend voraussetzt, dass man sich ästhetisch an sämtlichen Jared-Hess-Filmen zu orientieren hat, um gleichzeitig dem ewigen und universellen Ideal des Wiener Tschocherloriginals zu folgen, dessen mühelose Flamboyanz sich auch kommod mit dem Besuch jedweder Querdenkerdemo von da bis Texas kombinieren ließe.

Am Ende muss man dennoch anerkennend sagen, wenn es auch politisch eine Enttäuschung war, so bleiben uns zumindest die Memes, und die bleiben uns auch nicht allzu lange.

Foucault ging gern ins Gefängnis

Foucault war Historiker. Die Geschichte von Wahnsinn, Sexualität und Strafvollzug sind Foucaults Folien für die Beurteilung der aktuellen Gesellschaft. Die Betrachtung der Vergangenheit liefert ihm Alibis für seine persönliche, biographisch bestimmte Sichtweise auf die ihm gegenwärtige Situation und speist seine Urteile darüber. So erblickt er überall wo er seinen Blick hinwendet das immergleiche Muster. Eine Struktur der Disziplinarinstitutionen. Die Welt besteht aus Gefängnissen. Schule, Nervenheilanstalt, Internat, Kaserne, Club Med und Big Brother Container sowieso. Alles das gleiche, wenn es nach Foucault geht. Und stimmt ja auch. Irgendwie sind alle bissl eingesperrt hier und werden von der panoptischen Regierung beobachtet. Ich sage nur Lockdown.

Aber jetzt Scherz beiseite, denn hier beginnt ja der Zynismus schon. Wir sind ja keineswegs alle gleich eingesperrt. Denn auch im Lockdown gilt, dass es sich in einem Palast leichter aushalten lässt, als in einer Wohnung mit einem Zimmer. Und wenn in den Zeitungen etwas über die häusliche Gewalt steht, die ansteigt, wegen der unangenehmen Situation im Lockdown, dann sind auch nicht alle gleich davon betroffen, sondern in erster Linie Frauen und Kinder. Machen wir uns nichts vor. Große Theorien sind immer großer Unsinn, wenns um die Wirklichkeit geht.

Im Grunde geht es Foucault doch darum, dass es ihm zu fad war nur Historiker zu sein. Sein Shtick besteht darin, Geltung als Gesellschaftskritiker einzuheimsen. Daher wird seine philosophisch angehauchte Großtheorie von ihm ständig erweitert und umgebaut. Daher verändern sich Begriffe von einem Text zum nächsten, darum sind dieselben Begriffe unzureichend definiert, unscharf abgegrenzt und unsauber verwendet. Was interessiert Foucault seine Theorie von vor drei Jahren?

Was ihn aber in seinem gesamten Werk beschäftigt, ist der große Zaubertrick (Ra-wu-rick) aus einem Historiker einen Gesellschaftskritiker zu machen. Und dafür geht Foucault in theoretischer Hinsicht über Leichen. Er entzieht mit jedem neuen Werk dem Begriff der Individualität mehr und mehr seine politische Dimension. Er drängt das Individuum so weit ins Subjekt der Macht zurück, dass man an manchen Stellen glauben könnte er habe sich heimlich an Niklas Luhmanns Zettelkasten bedient. Denn für den gehört der Mensch ohnehin nur zur Umwelt des Systems und soll froh sein, dass es in dem Irrenhaus der Systemtheorie, das Luhmann für ihn vorgesehen hat, zumindest nicht zieht. Denn die binäre Logik Luhmanns ist luftdicht und vor allem macht sie ihre evolutionäre Entwicklung unabhängig von menschlicher Gestaltung. Bei Foucault gibt es zwar noch Menschen, aber sie sind auch Anhängsel der Macht durch die sie erzeugt werden. Was natürlich für wirksame Gesellschaftkritik bissl hinderlich ist.

Weshalb Foucault so oft er kann sein persönliches politisches Engagement unter einem zur Schau gestellten fröhlichen Positivismus zum Verschwinden bringt. Nur nicht anecken in der Revolutionsbubble. Konsequenterweise hat ihn daher auch die iranische Revolution von 1978 zutiefst positiv beeindruckt.

Dieser Lapsus resultiert keineswegs aus einer mangelhaften Analyse heraus, sondern ist dem Werk Foucaults durchaus immanent. In bestimmten akademischen Zirkeln jedenfalls dankt man ihm die Behauptung, das moderne staatliche Gewaltmonopol sei eine Fiktion, so sehr, dass man die misogynen Anteile seines Denkens bewusst ignoriert. Obwohl sogar offen bekundet wird, dass Geschlechterverhältnisse in seinem Werk systematisch vernachlässigt werden, wird an seinem Denken festgehalten.

Individualität hat bei Foucault ihre Konnotationen von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verloren. Zurück bleibt ein sich selbst verdinglichendes von Außenreizen produziertes Subjekt, das im System nur die Funktion eines Platzhalters für die Machtverhältnisse hat. Daher fühlt Foucault sich auch nicht verpflichtet der Entwicklung des Strafrechts in der Moderne seine Aufmerksamkeit zu schenken. Die Zugewinne an Liberalität und Rechtssicherheit interessieren ihn ebensowenig, wie die Ausweitung des Adressatenkreises der durch sie teilweise wirkungsvollen Schutz und Anerkennung erlangt.

Das liegt auch daran, dass er sich nur die Institutionen des Strafrechts ansieht, die ins Spiel kommen, wenn der zivile Rechtsrahmen ausgeschöpft ist. Er unterscheidet nicht zwischen sozialen Organisationen deren Mitgliedschaft auf der Basis rechtlich freier Verträge geregelt ist, und totalen Institutionen in denen die Mitgliedschaft durch rechtliche Verfügung erzwungen wird.

Nicht zwischen Gottesstaat und rechtstaatlicher Demokratie unterscheiden zu müssen, bietet natürlich den Vorteil mit Ideologien solidarisch sein zu können, die gesellschaftliche Unterdrückung vermehren, anstatt sie aufzuheben. Was wiederum bestimmte Teile der organisierten so genannten „Linken“ erheblich schätzen, die sich lieber mit reaktionären religiösen Vereinen solidarisieren, als mit von religiösem Terror verfolgten Dissidenten.

Foucault ging gern ins Gefängnis, hat sich mit Eingesperrten überall auf der Welt solidarisch gefühlt. Dabei hat er sich hauptsächlich auf die Konsistenz der Disziplinarsysteme konzentriert und nicht auf die Konflikte die darum bis heute ausgetragen werden. Dazu passt, dass er vor Studentendemos, an denen er öffentlichkeitswirksam teilgenommen hat, seinen Assistenten vorgeschickt hat, damit der Foucaults Porsche abseits der Krawalle in Sicherheit bringen konnte.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass es zynisch ist und von überbordender Ignoranz zeugt, sich mehr mit den Tätern zu identifizieren, als mit den Opfern von Gewalt. Denn in rechtsstaatlichen Demokratien sitzen – im Gegensatz zu Diktaturen, Gottesstaaten oder Erbmonarchien – noch immer bei weitem mehr Täter ein, als Opfer. Fragt die Frauen, die in Foucaults Werk so gut wie nicht vorkommen, was sie mehr fürchten, das angebliche „Kerkersystem“ oder die reale Gewalt der Dunkelziffer.

Memesophie

Memesophie ist die Fortführung des Aphorismus im Internet. Ein Aphorismus wird verstanden als ein selbständiger Gedanke oder ein markantes Urteil, das in möglichst kurzer Form präsentiert wird. Das Meme ist eine spezialisierte Form des Aphorismus, die ihn um eine bildliche Darstellung ergänzt. Text und Bild schaffen eine Wirkung, die als Witz funktioniert. Die Pointe ist meist tagesaktuell und nach kurzer Zeit nur mehr schwer verständlich. Die Memesophie dagegen versucht nachhaltigere Pointen zu liefern und nimmt sich auf ostentativ übertriebene und verkürzte Weise dem Witz der Philosophie und den blinden Flecken der Philosophen an. Sie kann somit als ceterum censeo für sowohl die Meme-Kultur als auch die Philosophie verstanden werden.