Schnitzler und Kanzler. Wieder eine Rezension

1954 soll der eiserne Bühnenvorhang der neu errichteten Wiener Staatsoper neu gestaltet werden. Der damalige Künstlerhaus-Präsident Karl Maria May warnt vor den vorgeschlagenen Künstlern Oskar Kokoschka („ein ehemaliger Österreicher, der, als seine Heimat in Not war, in englische Staatsbürgerschaft untergeschlüpft ist“) und Marc Chagall („ein national-israelischer Künstler russischer Herkunft“) und empfiehlt seinen Vorgänger Rudolf Eisenmenger für den Auftrag. Rudolf war ab 1931 im nationalsozialistischen „Kampfbund für deutsche Kultur“ und malte mit Vorliebe junge Männer mit Braunhemden und Hakenkreuzfahnen. Da der „verordnete Geschmack der NS Zeit […] in Nachkriegsösterreich auch in der Bildenden Kunst dominiert“ (123), war er bereits 1947 wieder entnazifiziert und 1951 Professor. (126)

Eisenmengers Nazi-Vorhang wurde erst 43 Jahre später durch Staatsoperndirektor Ioan Holender verdeckt und seither gibt es jedes Jahr einen durch eine Jury ausgewählten Künstler, der eine Spielzeit lang den Vorhang mit seinem eigenen Kunstwerk überdecken darf. (127) Laut Auflagen des Bundesdenkmalamts muss der Vorhang aber trotzdem drei Monate im Jahr zu sehen sein. Eine Geschichte von markant österreichischen Dimensionen.

Der Carl Ueberreuter Verlag gibt Bücher zur österreichischen Zeitgeschichte heraus die laut Selbstauskunft „packend erzählt“ sind. Und der vorliegende Text des renommierten Journalisten Herbert Lackner ist wirklich packend, bis in die Organisation des Textes hinein. Oder vielmehr er ist journalistisch, denn die einzelnen Kapitel erhalten jeweils eine Zusammenfassung vorangestellt, wie sie in einem Zeitungsartikel üblich ist. Da stehen dann Absätze wie der folgende: „Kaum ist Arthur Schnitzler bezwungen und Hugo Bettauer tot, drohen neuen ‚Gefahren‘: Eine ‚Negeroper‘ und eine ‚Halbnegerin‘ namens Josephine Baker kommen nach Wien.“ (35)

Das, was nach den reißerischen Ankündigungen kommt ist dennoch gut erzählt, spannend zu lesen und, für das kompakte Format, gespickt mit wissenswerten Informationen. Dazu noch Porträt-Fotos von den wichtigen Protagonisten, durch die die eine oder andere Mörder-Visage ein Gesicht bekommt sowie Fotos von Ausschreitungen, die das Beschriebene lebendig werden lassen. Im Großen kann man sagen: Mission accomplished. Man kriegt richtig Lust die anderen Titel Lackners, aus dem Verlagssortiment, beworben am Ende des vorliegenden Buches, ebenfalls zu bestellen.

Spannende Literatur ist ja zu allen Zeiten etwas Tolles. Ich räume aber ein, dass ich von einer „politischen Kulturgeschichte“ Österreichs einen Text erwartet hatte, der mehr als 200 Seiten in großzügigem Druckformat umfasst. Aber bei Betrachtung der Seitenzahlen bei den anderen Bänden, der Reihe „Zeitgeschichte“, wird klar, das gehört zum Konzept. Packend erzählte Zeitgeschichte hat nicht mehr als ungefähr 200 Seiten. Und Papier ist ja teuer. Was sich auch darin bemerkbar macht, dass der Verlag auf Anfrage zur Rezension PDFs verschickt und keine Bücher. Verständlich aus Sicht des Verlags. Enttäuschend aus Sicht des Rezensenten, der dadurch um die ideelle Anerkennung umfällt für seine geleistete Arbeit zumindest das besprochene Buch ins Regal stellen zu können.

Aber vielleicht ist es ja auch ein Vermarktungstrick, dass die Bücher so kurzgehalten werden. Lackner hat 2017, 2019 und 2021 bereits Bücher zur österreichischen Geschichte vorgelegt, die thematisch miteinander in enger Beziehung stehen und vielleicht in der Gesamtschau diese politische Kulturgeschichte zu einer umfassenden Erzählung werden lassen. Der Verlag hat das Prinzip der Serie genutzt und dieses Projekt, vielleicht auch dem Produktionsprozess des Autors entgegenkommend, in mehrere Staffeln gegliedert. So konnte anstatt eines Riesenziegels mit 800 Seiten, der auch in der gebundenen Version, nicht viel mehr als 40 Euro kosten darf, wenn er außerhalb von Universitätsbibliotheken verkäuflich bleiben soll, eine Serie von Büchern erzeugt werden, die gemeinsam mehr als 80 Euro kosten dürfen.

Lackners Stil kommt dem Verlagsziel Papier zu sparen sehr entgegen. Er schreibt knapp und klar und erzählt dennoch brillant, weil er das Mäandern beherrscht, also das schnelle Durchstreifen von ganzen Regionen mittels kurvigem Wegverlauf. Die Geschichte wird als Ereignissammlung präsentiert. Die Ereignisse werden in guter journalistischer Machart zu Geschichten aufgebaut, die von Protagonisten und Antagonisten bespielt werden und über einen Spannungsbogen verfügen. Jedes Kapitel ein Eintrag in der Geschichte Österreichs, der beispielhaft für die verzwickten politischen Verhältnisse in diesem Land stehen kann. Alle Kapitel zusammen, in Lackners Selbstsicht, „eine durcherzählte fast romanartige Geschichte“ (8).

Bei der Lektüre wird schnell klar, die politische Kultur in Österreich ist eng verknüpft mit Skandalen. Kulturelle Skandale wohlgemerkt, durch die auf dem Feld der Kulturproduktion politische Kämpfe symbolisch ausgefochten werden. Es geht um Kulturkampf, den Lackner als Kampf der Künstler um „Existenz und Freiheit“ (7) gegen eine konservative rechtsorientierte Gesellschaft, in der zuerst die katholische Kirche, dann der Austrofaschismus und der Nationalsozialismus regieren. Das neue Österreich ab 1945 ist aber auch nicht besser, denn es stützt sich von Anfang an auf konservative Kulturtraditionen belohnt die faschistischen und reaktionären Dichter und schmäht ihre Kontrahenten mit aktiver Politik. (114) Das liegt auch am Personal. Die beiden ersten Unterrichts- und Kulturminister der Zweiten Republik, Felix Hurdes und Heinrich Drimmel (ÖVP)- waren Funktionäre in Kurt Schuschniggs Kanzlerdiktatur, Drimmel darüber hinaus noch Heimwehrmann. (116)

Konsequent wurde der 1934 eingeführte und ab 1950 wieder vergebene Große Österreichische Staatspreis für Literatur, „fast durchwegs“ an „die Stars des Ständestaats, die auch in der NS-Zeit hofierte Autoren blieben“ (116) verliehen. Ein besonderes Exemplar unter den vielen Autoren mit klingenden Namen, wie aus US-Amerikanischen Nazifilmen, Leitgeb, Braun, Henz, Mell, war Karl Heinrich Waggerl. 1938 der NSDAP beigetreten und Obmann der Salzburger Reichsschrifttumskammer, behauptete er nach Kriegsende nichts von seiner NS-Mitgliedschaft gewusst zu haben. (117) Dabei hatte er bezüglich der Preisverleihung gegenüber den durch die Nazis vertriebenen Autorinnen zwei große Vorteile: 1. Er hat den Preis bereits 1934 erhalten. 2. Die Satzung des Staatspreises sieht vor, dass nur, wer seinen Wohnsitz in Österreich hat, ausgezeichnet werden kann. Alfred Polgar, Hermann Broch, Max Brod, Elias Canetti, Vicki Baum und viele andere waren deshalb des Preises nicht würdig. Lackner schreibt sehr schön: „Österreich hat Waggerl. Und Elias Canetti kann sich 1981 mit dem Literaturnobelpreis trösten …“ (118).

Die Kontinuität der Nazis an den Hebeln der Macht in der Zweiten Republik macht betroffen. Das betrifft auch die Musik. Im Fall von Alban Bergs Oper Wozzek hat dessen Witwe Helene noch 1951 bei den Salzburger Festspielen Probleme die Oper aufführen zu lassen. Die Oper wird bei der Eröffnungsrede durch den damaligen Landeshauptmann Josef Klaus verschwiegen, „echte Kunst“ dagegen gelobt. Die Nazis bezeichneten das Gegenteil von echter Kunst als entartete Kunst und diese Einteilung ist in manchen Kulturdebatten bis heute bemerkbar. Das Tragen von Bikinis ist in Vorarlberg bis in die 1960er Jahre untersagt und mit Berufung auf ein Lichtspielgesetz von 1927 wird das letzte Filmverbot unter dem Siegel echt/entartet in Vorarlberg noch 1987 ausgesprochen. (135)

Lackner liefert eine Geschichtsreise, die augenöffnend für die Gegenwart wirkt. Kleidungsvorschriften für Frauen. Verbote von Filmaufführungen. FPÖ-Plakate die fragen: „Lieben sie Scholten, Jelinek, Peymann, Pasterk … oder Kunst und Kultur?“ Hetze gegen Minderheiten und hetzende Minderheiten. Die Kontinuitäten sind nur allzu sichtbar. Österreich ist weiterhin ein antisemitisches Land und wird davon auch nicht durch den Zuzug von Menschen aus aller Welt befreit werden. Denn nicht nur in Österreich ist der Antisemitismus ein Mittel zu Herrschaft und Triebabfuhr.

Österreich ist auch heute ein konservatives Land mit zutiefst reaktionären Sentimenten in der Mehrheitsgesellschaft. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass öffentliche Debatten über die Kulturindustrie nicht mehr von Rechten, sondern von Linken dominiert werden. Jetzt wird halt unter geänderter Flagge und neuen Mitteln verboten und zensuriert. Lackner greift das Thema Cancel Culture auf und meint, dass die alten Kulturkämpfe von neuen abgelöst werden. Aber am Ende hat wahrscheinlich der Verlag beim Autor über den Papiermangel geklagt, denn die letzten Kapitel sind, obwohl auch sehr lesenswert, hastiger formuliert. Der Abschluss wirkt unfertig.

Ein wunderbares Buch das leicht zugängliche Munition zur Kritik der Gegenwart aus ihrer Geschichte heraus liefert. Eine anekdotische Auseinandersetzung mit der österreichischen Misere und den Gründen dafür, die an einigen Stellen brillant ist und an manchen leider zu kurz, um ihre volle Wirkung zu entfalten.

Dem Elon seine Biographie und das seltsame Gespräch darüber im Spiegel

Walter Isaacson hat eine Biographie über Elon Musk (52) geschrieben. Im Spiegel-Interview spricht er darüber und man kann Erstaunliches erfahren. Isaacson ist, laut Der Spiegel 38, 2023, Geschichtsprofessor an der Tulane Universität in New Orleans und hat dort offenbar so geringe Verpflichtungen an seine Studentinnen, dass er Zeit hat seit Jahren permanent Biographien von berühmten Wirtschaftstreibenden zu verfassen. Dass er 1996 bis 2001 Chef vom Dienst der New York Times, bis 2018 CEO des Aspen Instituts und von 2009 bis 2012 von Präsident Obama als Vorsitzender des Broadcasting Board of Governors eingesetzt war, ist den fleißigen Redakteuren nicht erwähnenswert. Er war also auch 3 Jahre neben seiner Professur für alle internationalen nicht-militärischen Hörfunk- und Fernsehprogramme der Regierung verantwortlich. Eine stolze Leistung. Man möchte fast sagen, Walter Isaacson ist wahrscheinlich ein Genie.

Aber natürlich ist auch das Broadcasting Board eine spannende Angelegenheit: Die offizielle Aufgabe der USAGM ist, Freiheit und Demokratie auf der Welt zu fördern und zu erhalten. Dies soll durch die Verbreitung von korrekten und sachlichen Nachrichten und Informationen über die USA und die Welt an das internationale Publikum umgesetzt werden. Die Sender sind nur im Ausland zu empfangen, da in den USA staatsfinanzierte Inlandspropaganda laut einem Gesetz von 1948 verboten ist.

Also Propaganda für die Änderung der Welt unter der Aufsicht von staatlichen Behörden: Die Rechtsaufsicht über die USAGM liegt beim Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Repräsentantenhauses und beim Ausschuss für Auswärtige Beziehungen des Senats. Die Haushaltsausschüsse beider Häuser des Parlaments sind sowohl für die Mittelbewilligung als auch für die Programmaufsicht zuständig.

Isaacsons Oeuvre umfasst unter anderem Leonardo da Vinci, Henry Kissinger, Benjamin Franklin, Steve Jobs und jetzt Elon Musk. Er bezeichnet jeden einzelnen davon als Genie. Auch wenn ihm zu seinen Protagonisten unterschiedliche Erinnerungen erhalten geblieben sind. Zu Leonardo da Vinci, dem einzigen legitimen Genie in dieser Aufzählung, fällt ihm im Spiegel-Interview nur ein, dass er „schwul“ war. Da kann es schon passieren, dass er in der Biographie über da Vinci diesem Geniekult auf unpassende Weise fröhnt, wie die FAZ damals festhält. Sie schreibt unter anderem: „In dem ‚geradezu peinlich’ berührenden Abschnitt ‚Von Leonardo lernen’ mache er ‚aus Leonardo einen kalifornischen Yogalehrer. ’“ (FAZ 286, 2018)

Um Weisheiten, wie diese zu produzieren, hat er sich für Elon Musks Biographie zwei Jahre Zeit genommen, um sie „an der Seite von Elon Musk“ zu verbringen. Dafür erhielt er, laut devoter Spiegelformulierung „vom reichsten Mann der Welt, Boss von Tesla, SpaceX und Eigentümer von X […] seltene und ungewöhnliche Einblicke in sein Leben“.

Wer hier bereits das Gefühl hat, dass das folgende Gespräch peinlich des Todes wird, hat eine gute Intuition.

Gleich am Anfang erfährt man, wie ein Tag im Leben des Elon aussieht. Er „fängt nicht so früh an, meistens um zehn Uhr“. Das ist doch nett, die Frage brennt natürlich auf der Zunge, ob das für seine Angestellten in den diversen Techkonzernen auch gilt. Also mir. Den Spiegelredakteuren nicht.

Den Rest des Tages lebt Elon den Kommunismus. Nur, dass die berühmte Passage aus der Deutschen Ideologie von Marx und Engels [„in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“] weder dem Geschichtsprofessor, noch den Spiegel-Journalisten bekannt ist, weshalb dieses Pikanterie unkommentiert bleibt.

Jedenfalls steht Musk auf, wann es ihm passt, und dann fliegt er in die Tesla-Fabrik in Austin und widmet sich eine Stunde lang der Lackiererei und erklärt seinen Ingenieuren, wie sie diese beschleunigen können. Danach fliegt er mit dem wartenden Privatjet nach Südtexas zum SpaceX Werk und gibt den dortigen Arbeitern und Angestellten Tipps wie sie die Triebwerke verbessern können. Die Gesichtsausdrücke der professionellen Mitarbeiter während der Belehrung durch den Amateur kann man sich sicherlich vorstellen.

Aber fleißig ist er, das muss man ihm lassen. Den Millionen armen Schweinen gegenüber, die mit ihrem Fleiß diese individual-kommunistische Lebensweise ermöglichen, muss sich Elon nicht solidarisch fühlen. Sein Fleiß ist einfach besser, denn „er konnte sich schon als Kind so sehr auf eine Sache konzentrieren, dass er darin völlig versank. Seine Mitschüler standen dann direkt vor seinem Gesicht, klatschten in die Hände und kamen nicht an ihn ran.“ Was bei Normalsterblichen, aka ökonomisch nicht-privilegierten Menschen, wahrscheinlich zu einer psychiatrischen Diagnose und der damit verbundenen Positionierung am karrieristischen Abstellgleis geführt hätte, wird bei Elon als „extremer Fokus“ verherrlicht, der als Nebeneffekt halt mit sich bringt, dass er ihn „von jeglicher Emotion abschneidet“, „Was ihn oft zu einem ziemlichen Mistkerl macht.“

Wie das zu verstehen ist, klärt sich in der nächsten Antwort des Geniekult-Professors aus New Orleans: „Wenn er nachdenkt, ist es ein Fehler, die Stille zu füllen. […] Es ist sogar gefährlich, diese Stille zu unterbrechen.“ Das hat Isaacson schnell gelernt und sich sofort in die Rolle des Unterworfenen eingefühlt und Elon seinen Ego-Raum gelassen, in dem er oft minutenlang schweigend auf die Antworten des zum Genie verklärten gewartet hat. Eine Rolle, in der man ihn wahrscheinlich während einer Prüfung mit einer seiner Studentinnen an der Universität eher selten gesehen hat. In den Worten des Professors wird aber klar, dass hier nicht nur eine freiwillige Unterwerfung stattgefunden hat, sondern auch eine wahnhafte Übertragung, denn „Dann saß er drei, vier Minuten da und sagte nichts – wie ein Computer arbeitete er nach und nach eine Fülle an Daten ab.“ Hier wird eine vermutlich narzisstische Verhaltensweise als Indikator für Genialität dargestellt. Wo ökonomisch ausgebeuteten Menschen wohl Autismus oder Soziopathie attestiert würde, herrscht hier das Erschauern vor der Macht. Eine Meisterleistung, wie sie wohl nur einem mit allen Wassern der ökonomischen Elite gewaschenen Universitätsprofessor einfallen kann.

Dass Musk in seiner Kindheit durch einen gewalttätigen Vater und unangenehme Camp-Erfahrungen beschädigt wurde, ficht die Theorie, dass seine antisozialen Verhaltensweisen Ergebnis seiner Genialität und nicht einer schweren Traumatisierung sind, für seinen Biographen nicht an. Im Gegenteil es führt zu dem absurden Vergleich, die Beziehung von Elon und seinem Vater sei wie die von Luke Skywalker und Darth Vader. Worauf dann nicht einmal die, ansonsten zu allem bereiten, Journalistendarsteller des Der Spiegel bereit sind einzugehen.

Kurz darauf kommt das Gespräch auf die Twitter-Übernahme und plötzlich geht’s ums Eingemachte. Der Spätaufsteher mit der ADHS-Arbeitsweise ist nämlich dagegen, dass Mitarbeiter Krankenstände antreten können. Beim ersten Besuch in der Twitter-Zentraler störte ihn am meisten, dass es dort Kantinen und gesundheitsfördernde Maßnahmen gab. Vor allem Krankenstände bei psychischen Problemen schließt er für seine Mitarbeiter kategorisch aus. Wahrscheinlich, weil sie ihm selbst am besten täten. O-Ton des Professors: „Er mag es nicht, wenn sich Mitarbeiter psychologisch zu sicher fühlen. Sie sollen Getriebene sein, so wie er.“ Ohne besonderen Anlass hier die Grundmerkmale von Soziopathie: sprunghaftes, impulsives Verhalten, das oft egoistisch und rücksichtslos wirkt, sowie die Unfähigkeit sich in andere hinein zu versetzen.

Dem korrespondiert seine Beziehung zu seinen nächsten männlichen Verwandten: „Sie lieben sich, prügeln sich und treten sich manchmal in die Eier.“ Eine Formulierung, wie sie nur ein wahrer akademischer Forscher entwickeln kann. Und konsequent sagt dieser Erforscher des Musk: „Man kann den Mann, der sich ins Risiko stürzt, nicht von dem trennen, der rücksichtslos mit seinem Mitmenschen umgeht.“

Kollateralschäden sind beim Aufstieg eines genialen Soziopathen halt nicht zu vermeiden. Kann man nix machen. Das macht ihn aber nicht zu einem Genie, so Isaacson. Zum Genie wird er dadurch, dass er „mit 20 Ingenieuren zusammensitzen und visualisieren“ kann, „wie sich der Einsatz von Edelstahl in seiner Starship-Rakete auswirken wird.“ Glaubt der Professor wirklich daran? Wenn ja, handelt es sich dabei um magisches Denken. Also den zwanghaften Glauben einer Person, dass ihre Gedanken, Worte oder Handlungen auf magische Weise ein bestimmtes Ereignis hervorrufen oder verhindern können, wobei allgemeingültige Regeln von Ursache und Wirkung ignoriert werden. Was bei Kindern belächelt und bei ökonomisch nicht privilegierten Erwachsenen zu Kopfschütteln führen würde, führt bei Isaacson zum Urteil Musk sei ein Genie. Dass er nebenbei Autoritäten hinterfragt und an den Verhältnissen rüttelt, ist dabei nicht Ausweis seiner Unreife und Renitenz, wie es das bei einem normalen Arbeiter wohl wäre, sondern eine Heldentat. So wie folgende Heldentat: zu der Frage, ob sein Tesla Autopilot an einem Stoppschild halten soll, sagt Musk in der Erinnerung von Isaacson: „Das ist bescheuert. Menschen machen das auch nicht.“ „Er ignorierte also einfach die Verkehrsregeln. Für manche macht ihn das zum Helden.“ Ein Held der die Straßenverkehrsordnung ignoriert, kann auch zum Mörder werden, wenn daraus ein vermeidbarer Unfall entsteht.

Ein solcher Held kann sich mit Lappalien nicht abgegeben. Das 12.000 Dollar teure Full Self Driving System in seinen Autos ist etwa alles andere als selbstfahrend. Da bleibt sogar dem wohlmeinenden Reporter des Der Spiegel der Mund offen: „Das ist doch ein Bluff.“

Die verblüffende Antwort darauf zusammengefasst. Ja schon, aber er darf das und überhaupt ist es kleinlich einem Großdenker so eine Kleinigkeit vorzuwerfen. „Er ist fixiert auf große Zukunftsvisionen.“ Eine „Realitätsverzerrung“, wie auch der Professor zugibt, aber ohne sie, wie er gleich hinzufügt, wäre Musk nicht so erfolgreich.

Wie erfolgreich er im Privatleben ist, kann man der Schilderung des nächsten biographischen Sachverhalts entnehmen, bei dem von Seiten Isaacsons, mehrere politisch inkorrekte Invektive zum Einsatz kommen, die vom Spiegel unkommentiert stehen bleiben. Es geht darum, dass sich Elon in den letzten Jahren politisiert hat. Grund dafür scheint für den Biographen die „Transition seiner Tochter Jenna“ zu sein. „Mehr als die Geschlechtsangleichung traf ihn die Tatsache, dass Jenna in dieser Zeit auch Marxistin wurde. […] Er begann zu glauben, dass sie sich mit dem woken Gedankenvirus infiziert und ihre Schule sie linksradikal gemacht hatte.“ Marxismus, woker Gedankenvirus, Schule, Linksradikalität. Die Reizwörter der rechten Wutbürger. Strohmänner für die Spiegelgefechte der Reaktionären. Der Spiegel schweigt dazu.

Konsequent in seiner Widersprüchlichkeit unterstützt Elon natürlich politische Kandidaten „die gegen das Establishment sind“. Dass der Spiegel darauf ausnahmsweise gekonnt ironisch hinzufügt, dass Musk nicht nur „der reichste der Welt, sondern auch einer der mächtigsten“ ist, und somit, wenn man diesen Gedanken einfach mal ausspricht, zum Establishment gehört, erschüttert den genialen Biographen in keiner Weise.

Dass er nebenbei selbstherrlich Weltpolitik betreibt und etwa der ukrainischen Armee Zugang zu Satellitendaten gewährt oder verweigert, wie es ihm passt, dass er laut seiner Aussage mit Putin persönlich telefoniert und einen Friedensplan für Taiwan vorgelegt haben soll, zeigt nicht etwa Größenwahn, sondern, dass er sich selbst als „großen, weltgeschichtlichen Charakter“ sieht, der aber nach wenigen Jahren begriffen hat, „dass der globale Friedensstifter keine passende Rolle für ihn ist“. Wieder ein Hinweis auf die Aufmerksamkeitsspanne dieses Genies. Weltfrieden ist entweder in zwei Jahren zu erreichen oder einfach gar nicht. Und dann beschäftigt man sich halt mit etwas anderem. Mit was, diese Frage bleibt offen. Hoffentlich nicht mit dem Gegenteil von Weltfrieden, denn davon hatten wir im Interesse des großen Kapitals bereits genug.

Egal, wie das politische Abenteuer für Musk weitergeht, es bleibt jedenfalls spannend, denn er „hat eine düstere Weltsicht“ und „liebt Drama“, „er denkt ständig an den Weltuntergang“ genau was der menschlichen Geschichte noch gefehlt hat: Ein Mannbaby mit Weltuntergangsfantasien.

Das Subjekt im Netz

Ein Gespräch mit Nivine El-Aawar.

Stefan: Luke Munn schreibt Algorithmen verfügen über eine politische Qualität. Erst einmal erzeugt, gestalten sie von selbst unsere politischen Agenden mit. Virginia Eubanks zeigt in ihrer Studie „Automating Inequality“, wie Algorithmen im Versicherungswesen in den USA eine diskriminierende und Armut verstärkende Wirkung haben. Sie fürchtet, dass die damit verbundenen Mechanismen des „red flagging“ Arme kriminalisieren und digitale Armenhäuser erzeugen könnte.

Nivine: Dem würde ich zustimmen. Algorithmen reproduzieren soziale Ungleichheiten. Dies ist der Fall, da personenbezogene Daten verarbeitet werden, welche die Interessen und Vorlieben der Nutzer*innen darstellen. Im Sinne von Bourdieu spiegeln diese den Habitus wider, welcher die soziale Position von Individuen darstellt. Wenn nun also quasi ein „digitaler Habitus“ von Algorithmen in Form von digitalen Nutzer*innenprofilen kreiert wird und dann genutzt wird, um Inhalte, wie Videos, personalisierte Werbeanzeigen, Nachrichten etc. zu kuratieren, können Algorithmen soziale Ungleichheiten nicht nur reproduzieren, sondern diese auch verstärken.

Ela: Eine Studie von 2020 (Silvia Milano, Mariarosaria Taddeo & Luciano Floridi) mit dem Titel „Recommender systems and their ethical challenges“ hat sich mit einigen Problemen im Zusammenhang mit Algorithmen befasst. Wie du bereits gesagt hast: Wenn die Klassifizierung durch den Algorithmus für die Erstellung der Nutzermodelle auf Grundlage der gesammelten Nutzerdaten basiert, werden soziale Kategorien reproduziert.

Außerdem sind Empfehlungssysteme im Zusammenhang mit Nachrichten und sozialen Medien so konzipiert, dass Nutzer*innen in ihren Filterblasen „gehalten“ werden, also sie kommen gar nicht dazu sich mit anderen Standpunkten auseinandersetzen zu müssen, sondern werden geradezu mit immer ähnlichem Content und gleichartigen Meinungen zugespammt. Bereits vorhandene Vorurteile werden dadurch verstärkt.

Zudem sind solche Algorithmen für politische Manipulation anfällig, da besonders aktive Nutzer*innen bzw. jene mit einer besonders großen Anzahl an Follower*innen die öffentliche Meinung beeinflussen können, indem sie starke positive Rückkopplungen im System erzeugen – was dazu führt, dass ihr Content besonders häufig empfohlen wird.

YouTube arbeitet ja auch so. Der ehemalige YouTube-Mitarbeiter Guillaume Chaslot hat eine Software geschrieben, um einen Einblick in die Empfehlungsmaschinerie von YouTube zu geben. Sie simuliert das Nutzer*innenverhalten und zeichnet Daten darüber auf, welche Videos von YouTube empfohlen werden, um im Endeffekt die „Vorlieben“ des Algorithmus abzubilden. Chaslots Untersuchungen legen nahe, dass YouTube systematisch Videos vorschlägt, die polarisierend, sensationslüstern und verschwörerisch sind.

Die Soziologin Zeynep Kufekci geht davon aus, dass YouTube mit Verschwörungscontent seinem Ziel der Verlängerung der Verweildauer seiner Nutzer*innen effizienter näherkommt, weshalb der Algorithmus solchen Content bevorzugt. „Die Frage“, so Kufekci, sei „ob es ethisch vertretbar“ sei, dies auch zu tun, „nur weil es funktioniert“.

Ähnliches hat die Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen 2021 über die Social Media Plattformen Instagram und Facebook verlauten lassen. 2017 hat Facebook eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, um herauszufinden, ob die Maximierung der Nutzer*innenaktivität zur politischen Polarisierung beiträgt. Man kam zum Ergebnis, dass es einen Zusammenhang gebe, aber eine Verringerung der Polarisierung hätte einen Rückgang des Nutzer*innen-Engagements bedeutet. Lösungen wie die Optimierung der Empfehlungsalgorithmen stellten sich als „wachstumsfeindlich“ heraus und wurden nicht weiterverfolgt.

Stefan: Rebecca Giblin und Cory Doctorow schreiben, dass der Online-Werbemarkt ein Betrugskonzept ist. Denn was schließlich darüber entscheidet, ob etwas überhaupt gesehen wird, ist nicht die Werbung, sondern Algorithmen. Das Datensammeln hilft nicht unbedingt beim Anpreisen von Waren. Um John Wanamaker, den ehemaligen Postminister der USA und Erfinder der modernen Werbung, zu zitieren: „Half the money I spend on advertising is wasted; the trouble is, I don’t know which half.“

Aber um das richtig verstehen zu können müsste man mal einen Schritt zurücktreten. Was sind Daten und wie verwandeln sich Daten in Ressourcen?

Nivine: Daten können allgemein als logisch geordnete Informationseinheiten bezeichnet werden, welche meist aus Codes bestehen und Symbole, Zahlen sowie Buchstaben kombinieren. Erst die IT-Systeme können diese Codes auswerten und somit die Daten verarbeiten.

Dabei ist zu betonen, dass es sich bei Debatten zum Thema Digitalisierung meistens um personenbezogene Daten handelt. Darunter werden einerseits sowohl sozioökonomische Daten als auch solche verstanden, welche individuelle Meinungen in Form von Beiträgen, Likes und Kommentaren darstellen. Außerdem fallen Verhaltensdaten, wie Suchanfragen und Metadaten, also Informationen über den Standort, unter den Begriff der personenbezogenen Daten.

Mithilfe von Datenanalysen und künstlicher Intelligenz werden sogenannte „prediktive Analysen“ durchgeführt, wodurch Vorhersagen über menschliches Verhalten getroffen werden können. Diese Vorhersagen haben zu einem sehr profitablen Markt geführt – vor allem für Plattformunternehmen wie Instagram und TikTok. Diese Unternehmen profitieren nicht nur davon, dass individuelles Verhalten vorherbestimmt werden kann, sondern auch davon, dass sich Gedanken und Verhalten aktiv beeinflussen lassen. Die Nutzer*innen werden zu transparenten Individuen, welche sich oftmals – ohne es zu wissen – in einer digitalen Sphäre befinden, welche aus ihnen Waren und Konsument*innen zugleich macht. Wie bereits Shoshana Zuboff 2018 in ihrem Buch „Überwachungskapitalismus“ beschreibt, werden menschliche Erfahrungen zu Rohstoffen für Verhaltensdaten, die es Unternehmen ermöglichen Profite zu generieren.

Dabei werden die Online-Welten von Algorithmen dominiert, indem sie die Plattformen strukturieren und deren Inhalte kuratieren. Besonders die Personalisierungsmechanismen gehen mit diversen Gefahren, wie Radikalisierungstendenzen, Überwachungsmechanismen, Intransparenz und Manipulation im Sinne der Wirtschaft einher.

Stefan: Bei Shoshana Zuboff, auf die du vorher schon hingewiesen hast, gibt es den Begriff des „Verhaltensmehrwerts“. Dieser wird im Fall von Google aus „surveillance asstes“ gewonnen aus denen „surveillance revenues“ erzielt werden, die in einem letzten Schritt in „surveillance capital“ verwandelt werden. Umso mehr die algorithmischen Maschinen an Verhaltensmehrwert konsumieren, umso präziser werden sie mit der zukünftigen Ausbeutung davon. Was macht das Datensammeln, Stichwort Big Data, mit uns und was ist algorithmische Personalisierung?

Nivine: Bei Algorithmen handelt es sich um programmierte Mechanismen, die mit Hilfe von Such- und Sortiervorschriften anhand von Datensätzen Interessen und Vorlieben erkennen können und daraus Wahrscheinlichkeiten und Folgerungen ableiten können. Genauer beschrieben sucht ein Algorithmus Datensätze und verknüpft diese miteinander, wodurch sich Entscheidungsempfehlungen ableiten lassen.

Das Ziel von Unternehmen ist es, mithilfe von Algorithmen einen individuellen Markt für die Nutzer*innen zu schaffen. Individuen erhalten personalisierte Inhalte, wodurch Unternehmen ihre Profite vergrößern können. Das Verhalten von Individuen wird also von Algorithmen verarbeitet, welche lernen die Interessen und Vorlieben der Nutzer*innen zu erkennen und kategorisieren. Ein besonders prägnantes Beispiel stellt der Algorithmus von TikTok dar, welcher die Startseite, die sogenannte „For You Page“ kuratiert. Hierbei haben Studien gezeigt, dass TikToks Algorithmus so leistungsfähig ist, dass er in der Lage ist, die Vorlieben und Interessen der Nutzer*innen in weniger als 40 Minuten zu erlernen.

Algorithmen strukturieren somit mithilfe von personenbezogenen Daten nicht nur die digitale Sphäre, sondern zunehmend das menschliche Leben als Ganzes.

Ela: 2021 wurde ein Dokument geleakt, das als „TikTok Algo 101“ betitelt war. Das „ultimative Ziel“ von TikTok ist die tägliche Vergrößerung der Zahl der aktiven Nutzer*innen. Deshalb hat man sich entschieden, den Videostrom auf zwei Messgrößen festzulegen: „Retention“, ob der Nutzer wiederkehrt, und „Verweildauer“. Ziel ist es die Nutzer*innen so lange wie möglich auf der Plattform zu halten, sie also im Endeffekt abhängig zu machen. Ich glaub man kann auch hier – wie bei YouTube, Facebook, etc. – davon ausgehen, dass man mit kontroversen Inhalten eher die Leute zum Dableiben anregt. Es geht eben um Profit.

Stefan: Was ist ein digitales Subjekt?

Nivine: Die digitale Sphäre, insbesondere soziale Medien, können als ein sozialer Raum verstanden werden. In diesen sozialen Räumen verbringen die Nutzer*innen ihre Zeit und interagieren mit der Plattform und anderen Nutzer*innen. In diesem Zusammenhang können digitale Subjekte identifiziert werden. Als digitales Subjekt kann eine Person beschrieben werden, die aus Daten, Profilen und anderen digitalen Aufzeichnungen besteht. Das digitale Subjekt unterscheidet sich vom lebenden Selbst, knüpft aber an die Subjektivität der lebenden Person an. Digitale Subjekte können als neue Formen der Subjektkonstruktion gesehen werden, die auf computergestützten Prozessen in der digitalen Sphäre basieren.

Stefan: Das klingt noch ein wenig abstrakt. Die Geschichte des Subjektbegriffs verweist auf den Herrschaftszusammenhang und heute besonders auf das Kapitalverhältnis. Der Subjektbegriff ist notwendig eng an die materiellen Verhältnisse gebunden oder er wird unklar. Zunächst einmal entsteht mit dem Subjekt auch die Herrschaft. Bei Althusser wird das Individuum zum Subjekt indem es in eine bestehende Struktur eingefügt wird. Michel Foucault bezeichnet es als Einfügung in eine Ordnung.

Aber es geht bei der „Subjektivierung“ auch um einen Wahrnehmungsprozess. Bei Marx erscheint das freie Individuum als Teilnehmendes am Produktionsprozess und Warentausch. Erst im Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft kann sich das Individuum wirklich vereinzeln. Dabei verliert es aber zugleich die bewusste Wahrnehmung, die ein Sklave, Leibeigener oder Adliger noch haben musste: Dass seine gesellschaftliche Position von äußeren Zwängen mitbestimmt wird. Wir sind uns in dem Maß unseres gesellschaftlichen Zusammenhangs nicht mehr bewusst, indem wir scheinbar von den Zwängen der Gesellschaft befreit werden. Im digitalen Bereich erscheint dieser Sachverhalt noch diffuser.

Vielleicht wäre es also gut, diesen Subjektbegriff ein wenig zu konkretisieren.

Nivine: Der Subjektbegriff im Kontext des Digitalen ist sehr komplex, besonders im Kontext von Machtverhältnissen. Prinzipiell wird in den wissenschaftlichen Debatten nicht mehr zwischen der analogen und der digitalen Sphäre/Subjekt unterschieden. Mit dem digitalen Subjekt ist in diesem Kontext jedoch gemeint, dass die Plattformen Informationen über die Nutzer*innen in Form von Daten sammeln. Aus diesen Informationen werden Profile generiert, welche „digitale Subjekte“ darstellen. Diese Profile sind entscheidend für profitorientierte Strategien der jeweiligen Plattformunternehmen. Damit einher gehen asymmetrische Machtverhältnisse. Dies hat unterschiedliche Gründe. Ein entscheidender Grund ist jedoch die Informationsasymmetrie. Unternehmen wissen nahezu alles über die Nutzer*innen, für die Nutzer*innen sind die digitalen Infrastrukturen, besonders die Algorithmen, jedoch eine Black-Box. Besonders aus der Intransparenz der Algorithmen ergeben sich große Manipulationspotentiale im Sinne der Wirtschaft. Daher kann in diesem Rahmen sicherlich mit Foucault argumentiert werden, dass sich Subjekte „in eine Ordnung einfügen“. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht, dass besonders soziale Medien rein von den Unternehmen kontrolliert werden und somit einen Raum darstellen, der rein wirtschaftsbasiert funktioniert.

Um die Fragen zu beantworten, wie genau die Subjektivierungsprozesse im Digitalen aussehen, was daran neu ist und inwieweit neue theoretische Ansätze dafür benötigt werden, braucht es weitere Forschung. Dies ist besonders wichtig, um zu verdeutlichen, dass es sich bei der digitalen Sphäre nicht um einen freien und neutralen Raum handelt, in dem unabhängig von der gesellschaftlichen Position und sozioökonomischen Situation „alles möglich ist“, wie es uns die Unternehmen weismachen möchten.

Stefan: Der Begriff des Profils stammt übrigens aus der Kriminologie. Ein Profiler ist einer, der einen Tatort analysiert und aus den dort auffindbaren Spuren ein Profil erstellt, aus dem dann abgeleitet werden kann, wie sich der Täter in Zukunft verhalten wird. Wo die nächste Tat stattfindet, oder was seine Motive für die Tat sein könnten. Das wir ein solches „Täterprofil“ mittlerweile freiwillig anlegen, ist eine interessante Entwicklung.

Ela: Das ist lustig, meine ersten Erfahrungen mit den sozialen Medien hab ich damals bei uboot.com gemacht, und bei fm4, da gabs diese Profilseiten. Da hat das angefangen mit dieser „Offenbarungswut“, aber ich denke, dass das auch viel damit zu tun hatte, dass die durchschnittlichen Nutzer*innen da zwischen 15 und 20 waren. Da hat man dann so Sachen ins Profil geschrieben wie Spitznamen und Songzitate, Buchzitate usw. Da hat das angefangen mit der Selbstkategorisierung, was sicher auch dem geschuldet war, dass man eben für andere Nutzer*innen gleich kurz und knackig Hinweise sähen wollte, auf welcher Seite man steht, was man für Musik hört, etc., da ging es eben auch um Abgrenzung, damit man nur mit solchen in Kontakt kommt, die für einen interessant sein könnten. Das ist ja bis heute so, nur dass das eben inzwischen von Algorithmen übernommen wird.

Stefan: Da entstehen Bubbles und Echo-Kammern. Selbstverstärkende Meinungsräume. Eine Meisterklasse in der möglichst verkürzten Meinungsäußerung ist TikTok. Was macht man auf TikTok?

Nivine: In den letzten Jahren hat die chinesische App „TikTok“ internationale Popularität erlangt. TikTok ist eine Kurzvideo-App, die Videos mit einer Länge zwischen 15 und 60 Sekunden enthält. Vor allem durch die Ausrichtung auf Jugendliche dominierte die App den Teenager-Markt und wurde zu einer viel genutzten App, mit mehr als 1 Milliarde Nutzer*innen.  Zudem führte der Ausbruch von Covid-19 zu einem rasanten Anstieg der Nutzer*innenzahlen. Die App basiert auf dem schnellen Konsum von Videoinhalten und ermöglicht es den Nutzer*innen, eine Vielzahl von Funktionen wie Filter, Hashtags, Musik und Videobearbeitung zu nutzen, was die Erstellung von Inhalten aufgrund der einfachen Nutzung fördert. TikTok prägt mittlerweile die (Pop-)kultur, der jüngeren Generationen, durch virale Trends, wie Tanzvideos, Fashion-Trends, aber auch politische Diskurse. 

Ela: Apropos Covid und Trends. Eine TikTokerin hat 2020 die Idee gehabt, man könnte sich ja als Symbol der „Einheit“ und „Rebellion“ gemeinsam ein Tattoo stechen lassen, ein Z, mit einer horizontalen Linie durch die Mitte, das für Generation Z stehen sollte. Dieser Trend kursierte unter dem Hashtag #GenZTattoo. Mehrere Userinnen kamen diesem Vorschlag gerne nach, bis andere begannen darauf hinzuweisen, dass das Symbol eine verdächtige Ähnlichkeit mit der Wolfsangel habe, die von einigen SS-Divisionen verwendet wurde, sowie noch heute als Symbol der Wehrhaftigkeit bei Rechtsextremen gern in Gebrauch ist. Nachdem die Starterin des Trends Todesdrohungen bekommen hat, hat sie ein Entschuldigungsvideo gepostet und Merchandising mit dem Z aus ihrem Etsy-Shop entfernt.

Ebenfalls 2020 haben K-Pop-Stans zahlreiche freie Tickets für Donald Trumps Rally in Tulsa, Oklahoma, reserviert, und damit potenziell die Zuschauerzahl beim Event dezimiert. Der Twitteraccount @TeamTrump hatte davor seine Anhängerinnen gebeten sich für freie Tickets bei der Rally zu registrieren, was von den K-Pop-Stans fleißig geteilt wurde und sich schließlich auch auf TikTok verbreitete. Die meisten Userinnen löschten ihre Tweets und TikToks nach einem Tag, um das Vorhaben geheim zu halten. Bei einer Kapazität von 19.000 Zuschauern wurden beim Event nur 6.200 Tickets vor Ort gescannt.

Stefan: Aber TikTok ist nicht nur politisch, sondern betrifft auch unser Selbstbild.

Ela: Eine Studie von 2022 mit 778 jungen amerikanischen Collegestudentinnen hat ergeben, dass die Nutzung von TikTok indirekt mit der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper zusammenhängt, dass diese den Vergleich des eigenen Aussehens nach oben hin und eine stärkere Überwachung des eigenen Körpers befördert, und das auch bei Nutzerinnen die ein hohes Maß an Medienkompetenz vorwiesen und Inhalte konsumierten, die Körperakzeptanz und Body Positivity behandelten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die regelmäßige und konsequente Nutzung von TikTok dem Körperbild von Frauen schaden kann, und dass Frauen mit einem höheren Maß an Körperakzeptanz und Kritikfähigkeit sowie an Medienkompetenz für diese negativen Auswirkungen am anfälligsten sein könnten.

Stefan: Die Medienwissenschaftlerin Stine Lomborg setzt sich mit den materiellen Grundlagen des digitalen Trackings auseinander. Web-Cookies oder sensorbasierte Technologien werden dazu genutzt digitale Funktionen und Dienste etwa auf Plattformen zu optimieren. Sie dienen aber auch der Überwachung der Generierung von Daten zum Trainieren von maschinellen Lernmodellen und anderen Entwicklungen in der KI.

Die potentiellen negativen Folgen des Trackings sind für sie äußerst dystopisch. Sie sagt, wir opfern das Recht, frei über unsere eigene Zukunft zu entscheiden. Gerade vulnerable Gruppen nehmen durch Tracking mehr Schaden als andere. Einwanderer werden ins Visier genommen und ihre Zukunft von den gewonnenen Erkenntnissen abhängig gemacht. Umfassende digitale Erfassung ist für Lombog eine infrastrukturelle Macht, die liberale Werte wie Gleichheit und Autonomie gefährdet und unsere Gesellschaften einem abstrakten Wandel unterzieht.

Wenn ich das höre, frage ich mich wovon wir ausgehen können. Sind diese liberalen Werte überhaupt so weit verwirklicht, dass wir uns über ihren Verlust Gedanken machen müssten? Oder anders gefragt können wir sie leben, wenn sich die Subjektivität in den digitalen Bereich verlagert? Und wie sieht das aus?

Daran anschließend: Ist eine digitale Subjektivierung wünschenswert? Wenn ja, wie wird sie sich auf die analogen Individuen auswirken. Wenn nein, was sind die Widerstandsmöglichkeiten dagegen? Und wie sinnvoll ist es überhaupt sich zu wehren?

Nivine: Ob eine digitale Subjektivierung wünschenswert ist oder nicht, ist eine berechtigte Frage. Die Tatsache ist jedoch, dass sich die Sozialisationsprozesse, besonders von jüngeren Generationen bereits zu einem Großteil in das Digitale verlagert haben. Es kann sogar von einer digitalen Vergesellschaftung gesprochen werden. Diese digitale Subjektivierung wird auch in Zukunft nicht verschwinden, sondern im Gegenteil immer ausgeprägter und relevanter werden

Die aufgeführten Trends und Debatten auf TikTok haben gezeigt, dass gesellschaftspolitische Debatten digital geführt werden können, dass Standards über Körper digital diskutiert werden, dass digitales Tracking an Ländergrenzen genutzt wird. Diese Entwicklungen sind größtenteils von Unternehmen, welche die Technologien und Infrastrukturen zur Verfügung stellen, dominiert. Die Frage ist jedoch, wie gehen wir damit um? Wie können Kinder und Jugendliche schulisch digitale Kompetenzen lernen, in denen sie über die Gefahren aufgeklärt und sensibilisiert werden? Was muss die Politik tun, um schnell auf Entwicklungen reagieren zu können? Und wie können die negativen Auswirkungen minimiert werden? All diese Fragen werden in den nächsten Jahren geklärt werden müssen.

Stefan: Die Frage ist sicherlich auch, was machen wir mit Körperbildern, die gar nicht mehr von menschlichen Körpern geprägt werden, sondern von Deepfakes. Ich sehe in meiner Facebook-Timeline immer öfter so genannte Celebrity Deepfakes. Wo also die Gesichter von berühmten Schauspielerinnen oder Sportlerinnen (fast immer sind es übrigens Frauen) auf meist vereinheitlicht überproportionierte Körper montiert werden. Und von den Kommentaren kann ich sagen, dass tausende Männer bereit sind diese Körperbilder sofort ohne Ironie zu akzeptieren.

Ela: Ja, aber dass es da irgendwie einen Hang gibt unrealistisches Zeug aus dem Internet gut zu finden, ist ja auch nichts neues, das kennen wir ja schon von Pornografie. Und das sind dann wahrscheinlich dieselben, die in Pseudodiskussionen auf Social Media behaupten, dass Body Positivity so überhandnimmt, und dass man über Frauenkörper gar nichts mehr Negatives sagen darf, während man sich über Leonardo DiCaprios Dad Bod ganz offen lustig machen darf. Dann frag ich mich aber, wann haben wir je aufgehört uns über Frauenkörper lustig zu machen? Weil es jetzt ein paar Hansln gibt, die versuchen mit übertriebener Body Positivity dagegen zu steuern, kann man doch noch lange nicht davon reden, dass das irgendwie ein gesamtgesellschaftlicher Trend ist, dass Frauen öffentlich fett sein dürfen und dass es Konsequenzen für Bullys gibt.

Stefan: Das Subjekt hängt im Netz seiner eigenen Klischees und der Imperative, die ihm das Kapitalverhältnis ständig vorhält. Davon kann sicherlich auch Elon Musk ein Lied singen, wenn er sich angesichts des gefrorenen Kopfes von Peter Thiel fragt: „Subjekt oder nicht Subjekt?“

Die kalifornische Ideologie

Ein Gespräch mit Sophie Ströbitzer

Stefan: Aus den biographischen Apokryphen über Elon Musk kann man entnehmen, dass er seinen heutigen Reichtum unter anderem damit begründet, dass er zwei Diamanten aus dem Familienbesitz verkauft. Bei einer Tiffany’s Filiale in New York. Danach studiert er erstmal ausgiebig in Kanada und den USA. Seine erste Geschäftsgründung ist 1994 das Unternehmensportal Zip2 für das ihm sein Vater das Startkapital zur Verfügung stellt. 1999 verkauft er es für 307 Millionen Dollar, von denen 22 an ihn gehen. Ist Elon Musk ein Selfmade Man?

Sophie:  Die Frage lässt sich nur durch eine weitere beantworten: Ab wann ist man “selfmade”? Elon Musk ist sicherlich nicht in Armut aufgewachsen. Er konnte sich sein Studium finanzieren und sein Vater unterstützte seinen Bruder und ihn bei ihrer ersten Firmengründung, laut dem Biographen Ashlee Vance, mit 28.000 US-$, durch die sich die beiden beispielsweise Software-Lizenzen, ein Büro, sowie Equipment leisten konnten. Musk bestreitet das allerdings mittlerweile. Den Großteil des Fundings für Zip2 erhielten die beiden durch Silicon-Valley-Investoren, mit deren Kapital sie es schließlich schafften, das Unternehmen in wenigen Jahren in eine Multi-Millionen-Dollar-Firma zu transformieren. Das Geld seines Vaters trug dazu zwar seinen Teil bei, trotzdem kann man Musk, vor allem in Betracht der Geldsumme, über die er heute verfügt, den Titel “selfmade” nicht nehmen. 28.000 sind eine beachtliche Summe, wenn man von der Hand in den Mund lebt, aber Musks Erfolg ist keinesfalls signifikant durch das Vermögen seiner Familie bedingt.

Ela: Forbes hat 2019 in einem Artikel Kylie Jenner, Tochter von Caitlyn und Kris Jenner, als jüngste „Self-made“ Milliardärin bezeichnet. Kylie verkauft jetzt Kosmetikprodukte, eine wahrlich innovative Idee und ein Produkt, mit dem jeder reich werden könnte – wenn er Kylie Jenner hieße. Über die enormen Vorteile, die sich ergeben, wenn man aus einer wohlhabenden Familie stammt, die noch dazu 24/7 im Rampenlicht steht, und zudem über Vitamin B verfügt, hat der Artikel geschwiegen. Nachdem sich aber einige Leute recht darüber empört haben, hat Forbes einen weiteren Artikel nachgeschossen, in dem man darüber aufklärte, was alles „Self-made“ heißen kann. Kurz zusammengefasst könnte man sagen „Self-made is a spectrum“.

Und auch bei Elon Musk könnte man wieder fragen, wie kommt er überhaupt zu diesen Investoren? Ich meine, über welche sozialen Kontakte, oder wie Bourdieu sagen würde, über welches soziale Kapital verfügt er? Kann es sein, dass soziales Kapital auch vererbt wird? Und, wie bedingen sich die Kapitalformen gegenseitig? Und man könnte sich fragen, ob es für Unternehmer mit finanziellem „Polster“, aus wohlhabenden Familien, nicht auch einfacher ist überhaupt ein Unternehmen zu gründen und Risiken einzugehen als für Unternehmer ohne ein Sicherheitsnetz. Wäre Musk ohne das Geld bzw. die sozialen Kontakte des Vaters heute dieser „Selfmade“-Milliardär, der er angeblich ist?

Das ist ja auch ein Image, in das er viel Arbeit steckt, um es aufrecht zu erhalten. Die medial kursierende Behauptung, dass sein Vater eine Smaragdmine in Zambia habe, streitet Musk vehement ab – vor kurzem hat er sogar demjenigen, der beweisen könne, dass es die Smaragdmine gäbe, eine Million Dogecoins (DOGE) angeboten – worauf sich sein Vater selbst zu Wort meldete und fragte, ob er an der Herausforderung teilnehmen dürfe, denn er könne es beweisen. Aber eigentlich ist es doch unerheblich, ob es die Smaragdmine nun gibt, oder nicht. Elon Musk stammt sicher nicht aus ärmlichen Verhältnissen, da ist es dann schon egal, ob man die eine Anlage mehr oder weniger besitzt. Das Geld „arbeitet“ ab einem gewissen Zeitpunkt schon „für sich selbst“. Und ein anderer käme gar nicht in die Lage mit Smaragdminengerüchten zu kokettieren.

Sophie: Wie bei so vielen anderen Selfmade-Millionären auch, variieren wie man sieht auch bei Elon Musk die Informationen zu seinem Startkapital sowie dem Vermögen seiner Familie, das ihm in seiner Karriere vielleicht einen Startschuss gegeben habe. Dass seine eigenen öffentlichen Statements und die seines Vaters immer mal wieder nicht übereinstimmen, ist natürlich fragwürdig und Musk ist sicherlich bedacht sich weiterhin so “selfmade” wie möglich zu präsentieren, trotzdem denke ich weiterhin, dass ihm dieser Titel bis zu einem gewissen Grad auch zusteht. Privilegien, die er als weißer Mann, der (höchstwahrscheinlich) nicht in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, genießt, fließen allerdings natürlich in seinen Karriereverlauf mit ein.

Mit einer Kylie Jenner, die seit sie ein Kind ist, mehr oder wenig freiwillig vor der Kamera steht und bereits vor ihrer Geschäftsgründung einen enormen Bekanntheitsgrad sowie eine Fanbase hatte, kann man ihn allerdings nicht vergleichen. Kylie Jenner wurde defintiv in dieses soziale Kapital geboren und kann meines Erachtens nach deshalb auch nur bedingt als “selfmade” angesehen werden – wobei man auch die Frage in den Raum werfen kann, ob sie für dieses Kapital mit einer Kindheit im Auge der Öffentlichkeit und null Privatsphäre nicht auch irgendwo ihren Teil bezahlt hat. Dass der Begriff als Spektrum verstanden werden muss, ist wahrscheinlich richtig, trotzdem würde ich Musk aufgrund von potenziellen Kontakten seiner Familie nicht absprechen, sich den Status den er heute als Unternehmer hat, zum größten Teil selbst aufgebaut zu haben.

Stefan: Jeff Bezos war ja bevor er Amazon gegründet hat bereits ein Spitzenverdiener, der im höheren Management der taiwanischen Mobilfunkfirma FITEL und danach für große New Yorker Vermögensberater wie Bankers Trust gearbeitet hat. Er hat dann zur Gründung von Amazon extra ein Haus mit Garage erstanden, wie sein Biograph Brad Stone schreibt. Warum hat er das getan? Um in dieser Garage sein Büro einzurichten und sozusagen Amazon aus der Garage heraus aufzubauen, wie das Selfmade Men halt so machen. Man sieht, es geht immer auch um den richtigen Anstrich. Dafür eignen sich Ideologien. Das sind breit anerkannte Überzeugungen und Einstellungen, die aufgrund ihrer Verbreitung und ihrer sozialen Rolle für objektiv richtig gehalten werden. Sie sind ein falsches Bewusstsein von einem konkreten Inhalt. Ideologie ist also kein falscher Inhalt, sondern eine falsche Form des Denkens des Inhaltes. Ideologie versucht bestehendes Unrecht zu rechtfertigen.

Ein Beispiel: Wer Radfahren geht, um politisch frei zu sein, hat etwas falsch verstanden. Wer an der Marktwirtschaft teilnimmt im Glauben dadurch politisch frei werden zu können, ist auf eine Ideologie hereingefallen.

Was ist eigentlich eine kalifornische Ideologie?

Sophie: Die kalifornische Ideologie ist eine besondere Art von Ideologie, da sie keine aktiven Vertreter*innen hat, die sich ihr zuordnen. Sie ist eine Hypothese der Sozialwissenschaftler Andy Cameron und Richard Barbrook, die im Zuge des Technologiebooms der 90er im Silicon Valley entstand. Die beiden Wissenschaftler beschreiben mit der von ihnen begründeten kalifornischen Ideologie die Philosophie und Weltvorstellung einer gewissen Gruppe von Menschen zu dieser Zeit. Sie bemerkten eine neue Art “Unternehmerkult”, die sowohl durch die Verbreiterung des Internets als auch seiner Kommerzialisierung entstanden sein soll.

Stefan: Sie beschreiben damit einen Glauben an die emanzipatorischen Möglichkeiten die durch moderne Technologien entstehen können.

Sophie: Die Kernphilosophie ist der Glaube, durch den technologischen Fortschritt würden liberale Prinzipien sich verselbstständigen und jede*r könne von nun an die eigene Meinung ohne Zensur kundtun. Die Anhänger dieses “Kults” wie die beiden Wissenschaftler sie einordnen, seien überzeugt, die Technologisierung der Gesellschaft biete ein freieres und gerechteres Leben und löse sich von den starren Regeln staatlichen Zwangs und ökonomischer Monopole. Der Vorwurf von Barbrook und Cameron lautet, diese religiöse Interpretation der Technik würde bestehende gesellschaftliche Probleme ausblenden und die gefährlichen Aspekte der voranschreitenden Technologisierung negieren. Die Autoren versuchen durch die Kritik der kalifornischen Ideologie die Intentionen und oftmals heuchlerischen Praktiken der Menschen an der Spitze der Big-Tech-Bubble sowie die Blindheit ihrer Anhänger*innen in einem ideologischen Konstrukt festzumachen und deren Lücken zu entlarven. Selbst-proklamierte Anhänger*innen der Moralkonstrukts sind, aber wie bei anderen Ideologien, hier nicht vorzufinden.

Ela: Es ist ja ein merkwürdiges Amalgam aus konservativ-neoliberaler Wirtschaftsgläubigkeit und Hippie-Progressivität entstanden, oder? Also so eine Art Hippie-Yuppie-Techno-utopisches Frankensteingebilde. Technik wird alle Probleme lösen, Sharing Economy, blabla, und der Staat hat sich gefälligst so weit wie möglich da rauszuhalten, denn der stört die natürliche Ordnung, die unsichtbare Hand des Marktes. Wenn die Märkte einfach in Ruhe gelassen werden, wird sich alles ausbalancieren. Silicon Valley ist sowas wie ein Ökosystem, das in Ruhe gelassen werden muss.

Stefan: Ein großer Teil der Ideologie ist die Überzeugung sich als Gesellschaft auch oder sogar nur durch die Privatwirtschaft und entgegen staatlicher Interventionen weiterzuentwickeln und Demokratie leben zu können – sozusagen aktiv Politik zu machen, indem man Ökonomie perfektioniert. Du sagst, ein aktuelles Beispiel dafür ist die medial sehr präsente Übernahme des US-Kurznachrichtendienstes Twitter durch Elon Musk.

Sophie: Genau. Die Verfasser der Kalifornischen Ideologie schreiben davon, dass sich die großen Profiteure der Big-Tech Szene des Silicon Valley gerne öffentlich von der Politik distanzieren – hinter verschlossenen Türen sehe das aber ganz anders aus. Elon Musk ist vor diesem Hintergrund eine ganz besondere Figur. Während er den größten Teil seiner Karriere immer versuchte sich nicht öffentlich politisch zu positionieren, sich in den USA sowohl für Demokraten als auch für Republikaner stark machte, so hat sich seine Einstellung diesbezüglich in den vergangenen Jahren verändert. Der Milliardär twittert immer wieder provokante Stellungnahmen zu polarisierenden Themen, lässt sich in Verschwörungstheorien verwickeln und sympathisiert offen mit teils rechtsradikalen Gruppierungen. Zuletzt sorgte er sich besonders um die Wahrung der allgemeinen Meinungsfreiheit, die er durch jegliche regulierenden Eingriffe in die Massenmedien gefährdet sieht.

Stefan: Seit der Übernahme von Twitter durch Musk hat sich da einiges getan. Das Center for Countering Digital Hate (CCDH) hat aufgezeigt, dass User, die sich Twitter Blue leisten, mittlerweile sagen können was sie möchten. Auch rassistische, antisemitische, homophobe und misogyne Aussagen werden im Fall der Blue User nicht mehr geahndet. Darunter Aussagen wie:

„Die schwarze Gesellschaft hat mehr Schaden angerichtet als der Klan je getan hat.“

„Die Judenmafia will uns alle durch braune Menschen ersetzen.“

Sophie: Der Entschluss Musks Twitter zu kaufen wirkte sehr spontan. Aber am Tag der Übernahme entlässt er einen großen Teil der Belegschaft und der Führungsriege per E-Mail. In den folgenden Wochen werden unter Musks Führung ehemalige wegen bedenklicher Inhalte gesperrte Konten, wie das von Donald Trump, aufgehoben und Authentifizierungskennzeichen von Konten können von nun an ersteigert werden. Das Unternehmen verliert daraufhin in kurzer Zeit zahlreiche Werbekunden und sinkt in kurzer Zeit stark im Aktienkurs. Hat sich aber mittlerweile wieder erfangen.

Während die Geschichte “Musk kauft Twitter” noch viele weitere Akte zählt und medial sowohl für Unterhaltung als auch Empörung sorgte, visualisiert sie eines besonders gut: Die Weltverbesserungsagenda des Unternehmers, der überzeugt davon scheint, durch Privatwirtschaft und Technologie die Gesellschaft besser voranbringen zu können als durch staatliche Maßnahmen. Der ideologisch motivierte Kauf zeigt außerdem einerseits die Anstrengungen, die Musk auf sich nimmt, um seine libertären Werte zu vertreten und gleichzeitig wie begrenzt diese doch sind, wenn es sich um den eigenen ökonomischen- oder Imageschaden handelt.

Ela: Elon Musk bezeichnet sich selbst ja als „free speech absolutionist“ – man beachte die entlarvende Wortwahl. Lustigerweise ist er bekannt dafür Kritikern mit Klagen zu drohen oder ihnen einfach zu kündigen. Zudem hat Twitter unter Musk einem Großteil der Zensuranfragen autoritärer Regierungen zugestimmt. Also Absolutist dürfte im Fall von Twitter und Musk schon stimmen. Ich würde sagen, Elon Musk ist inzwischen der Kanye West von Silicon Valley. Ähnlich wie dieser kann er noch so viel Blödsinn verzapfen, und seine Anhänger – und ich verwende hier absichtlich nur die männliche Form – hängen trotzdem an seinen Lippen, als wäre er der größte Intellektuelle aller Zeiten. Ye und Musk treffen wohl den Geschmack einer ähnlichen „Gruppe“ junger Männer. Ich glaube das hat auch wieder viel damit zu tun, was Angela Nagle in „Kill all normies“ beschreibt: „Eines der Dinge, die die oft nihilistische und ironische Chan-Kultur mit einer breiteren Kultur des Alt-Right-Orbits verband, war ihre Ablehnung politischer Korrektheit, Feminismus, Multikulturalismus usw. und deren Eindringen in ihre freiheitliche Welt der Anonymität und Technologie.“ DasSilicon Valley ist ja auch stark mit Ideen der Counter-Culture verbunden.

Sophie: In ihrer Absurdität und Sprunghaftigkeit zwischen politischen Lagern lassen sich Kanye West und Elon Musk in ihren öffentlichen Statements tatsächlich ganz gut vergleichen – wobei West sicher mittlerweile ein neues Level an Absurdität und auch Hemmungslosigkeit entwickelt hat, außerdem wird bei ihm bereits seit längerem eine psychische Problematik vermutet. Beide Männer stehen allerdings seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit und sind in ihren Branchen an der Spitze des Erfolgs angekommen. Beide haben sich in ihren öffentlichen Meinungsäußerungen vor allem in den vergangenen Jahren immer mehr radikalisiert und versuchen gleichzeitig zu provozieren und polarisieren. Es wäre interessant zu wissen, welchen Einfluss dieser immense Erfolg und auch das Ankommen an der Spitze auf die Entwicklung ihrer öffentlichen Äußerungen hat und ob das dann wirklich etwas über sie aussagt, oder nur wieder zu einer Marketingstrategie gehört.

Stefan: Das Media Research Center (MRC) in den USA hat ermittelt, dass Twitter seit der Übernahme durch Musk repressiver geworden ist. Die Zensur trifft nicht weniger, sondern andere Leute. Meist Menschen, die keine große Bühne haben wie Donald Trump um ihre Sperrung zu einem öffentlichen Thema zu machen.

Nick Srnicek, der den Plattform-Kapitalismus begrifflich für die Wissenschaft erschlossen hat, sagt, seine Überlegungen beginnen an der Stelle, wo er von der kalifornischen Ideologie absieht. Für ihn ist die analytische Kompetenz des Begriffs darauf beschränkt politische Akteure zu beobachten, die durch ökonomische Aktivität nach politischer Macht streben. Srniceks Hypothese wendet sich gegen diesen kulturalistischen Ansatz und will dessen ökonomische Seite zur Darstellung bringen, dass diese Akteure Profit machen wollen um ihre Konkurrenz auszustechen und deshalb an manchen Stellen politisch werden. Das bedeutet, nicht das geniale Kalkül von Superbösewichten ist ausschlaggebend für ihre strategischen Entscheidungen, sondern die Struktur der Kapitalakkumulation diktiert ihre Handlungen. Die wahnsinnigen öffentlichen Auftritte sind dann Makulatur um das Image aufzupolieren und bestimmte Segmente der Gesellschaft zu aktivieren. Ye macht das mit Antisemitismus, womit er sicherlich auch einige Hip-Hop Fans abholen kann. Musk eher mit libertärem Männergehabe.

Aber es ist auch wichtig zu sehen, dass die Profite in der Erzeugung von Waren seit Jahrzehnten zurück gehen. Daher wendet sich das Kapital den Daten zu, die immer noch Wachstum versprechen. Digitale Plattformen (wie Facebook, Google, Amazon) sind gigantische Datenakkumulierer, die Digitalisierung das technische Mäntelchen, dass sich die neuen Charaktermasken der kapitalistischen Entwicklung umgehängt haben. Auch die von Musks ehemaligen Geschäftspartner Peter Thiel propagierte ständige Erneuerung durch Zerstörung, Disruption, entspricht den Ansprüchen des Kapitals nach ständig neuen Techniken, die darauf zielen, sinkende Profite in veralteten Bereichen, wo der Gag nicht mehr zieht, wieder reinzuholen.

Ist es alter Wein in neuen Schläuchen, oder gibt es utopische Potentiale der kalifornischen Ideologie?

Ela: Man muss sich halt fragen, wie revolutionär diese ganzen Start-Ups, die aus Silicon Valley herauskommen, tatsächlich sind, wie sehr sie tatsächlich unser Leben verbessert haben. Z. B. Uber ist ein billigeres Taxi, aber ist das revolutionär, hat sich dadurch unser Leben so stark verbessert? Das Leben der Uber-Fahrer ja eher nicht. Die sind nach ihrem Arbeitgeber selbstständig und damit würde der Versicherungsschutz und Sozialleistungen wegfallen, die man als Angestellter hat. Das wurde zwar in vielen europäischen Ländern angefochten – Gerichtsurteile wurden aber teilweise von Uber ignoriert – inzwischen hat es auch in den USA teilweise die Bestätigung gegeben, dass Uber-Fahrer als Angestellte gelten. Der sympathische Uber-CEO Travis Kalanick hat auf Proteste seiner Fahrer wegen mieser Bezahlung reagiert, indem er meinte, dass sie sowieso bald durch Computer ersetzt würden. Der Programmierer Steve Dekorte hat Uber 2015 übrigens mit Rosa Parks verglichen, als wieder einmal eine Sammelklage anstand, weil Uber seine Fahrer als unabhängige Unternehmer beschäftigte. In einem Tweet hieß es „Ja, Uber hat gegen das Gesetz verstoßen. Das Gleiche geschah mit Rosa Parks. Korrupte Gesetze zu respektieren, die Kumpanen besondere Privilegien gewähren, ist keine Tugend.“

Und lustigerweise geht mit dem Aufstieg der Tech-Riesen in Silicon Valley ein Rückgang an Innovationskraft einher, denn die haben ja inzwischen Monopole aufgebaut. Wie innovativ ist es, dass man sich alles Mögliche zur Haustür bringen lassen kann? Und was heißt das alles für die Angestellten dieser Unternehmen? Hat das Potenzial unser Leben zu revolutionieren? Wie viele hundert Sharing-Apps brauchen wir?

Sophie:  Die Frage, ob Geschäftsleute wie Musk wirklich aus ideologischen Gründen handeln oder diese nicht viel eher als öffentlichen Scheingrund in Form von vorgegaukelter Integrität inszenieren, um ein neues Marktsegment zu erschließen, ist natürlich eine relevante und wichtige. Obwohl das teilweise der Fall sein mag, sehe ich das am Beispiel Musk und auch generell bei den Akteuren, die von der kalifornischen Ideologie angesprochen werden, nicht vorliegen. Ich denke einerseits, dass Menschen wie Musk, die stolz den Kapitalismus nicht nur ankurbeln, sondern sogar als visualisiertes Sinnbild dessen gesehen werden und daran Gefallen finden, keine ideologische Tarnung für ihre strategischen ökonomischen Züge brauchen. Man erwartet von Musk zu wirtschaften und er könnte dies auch in Ruhe, ohne öffentliche Rechtfertigung seiner Entscheidungen tun, wenn er wollen würde.

Ich halte den Kauf von Twitter nicht für einen rein ideologischen Zug am Schachfeld des Medienkapitalismus, auch wenn er auf den ersten Blick ideologisch motiviert scheint, verdankt sich die Kaufentscheidung sicherlich auch einem ökonomischen Kalkül. Musk wollte ein Exempel statuieren und dabei das Unternehmen wertvoller machen. Und vor allem wollte er sich auch am Markt der öffentlichen Kommunikation beteiligen. Trotzdem hat seine Weltvorstellung sicher viel mit rein gespielt.

Stefan: Das wäre dann das typische Verhalten digitaler Plattformen. Der Soziologe Philipp Staab ist ja überzeugt, dass es den Plattformen um den Besitz des ganzen Marktes geht. Also keine ideologische Finte, sondern eine ökonomische Notwendigkeit.

Sophie: Abgesehen davon ist jeder Image-Move natürlich immer auch zum Teil ökonomisch bedingt, weil er direkt auf Musks Wert als Unternehmer wirkt. Es findet also sicherlich ein Wechselspiel zwischen den beiden Ambitionen statt. Ideologische und ökonomische (Selbst-)Aufwertung ist sicherlich Teil der kalifornischen Ideologie. Die ja auch auf Selbstperfektionierung zielt.

Stefan: Peter Thiel strebt ja bekanntermaßen nach Unsterblichkeit und will sich auch einfrieren lassen.

Dieses ambivalente Verhältnis von Ideologie und Ökonomie, das du beschreibst, durchzieht alle libertären Ideologien und ist auch im Liberalismus spürbar. Arbeit soll sich lohnen, jeder kann es schaffen, aber man muss auch bissl auserwählt sein, damit es klappt.

Ayn Rand ist sicherlich eine Gallionsfigur aller heutigen Selfmade-Männer. Ihr Konzept über die Welt nachzudenken, nannte sie „Objektivismus“.  Darin entfaltet sie auf der erkenntnistheoretischen Ebene einen radikalen Rationalismus und auf der gesellschaftstheoretischen Ebene einen radikalen Individualismus. Das Denken soll laut Rand durch Beobachtung und Logik geprägt sein, mittels denen unbestreitbare Fakten ermittelt werden können. Das Handeln sollte von Egoismus, Erfindergeist und Tüchtigkeit angetrieben werden. Eigennützig agierende Großindustrielle sind für sie der Motor der Welt. Den Kapitalismus beschreibt sie in einem Aufsatz von 1965 – „What is Capitalism?“ – als objektive Voraussetzung menschlicher Freiheit. Jeder gesellschaftliche Reichtum wird in ihren Augen von Individuen produziert und sollte diesen auch gehören. „There is no such thing as social surplus.“ Die Armen sind arm, weil sie nicht egoistisch, nicht erfinderisch, nicht tüchtig genug sind und sollen es auch bleiben. Wie denkt Musk über diese Dinge?

Sophie: Ich denke nicht, dass Musk so radikale Worte wie Rand über die Kluft zwischen Arm und Reich findet und die Welt dermaßen schwarz und weiß betrachtet. Er selbst ist zwar wahrscheinlich der Kapitalismus in Person, bezeichnete sich 2018 auf Twitter aber beispielsweise als Sozialist: “By the way, I am actually a socialist. Just not the kind that shifts resources from most productive to least productive, pretending to do good, while actually causing harm. True socialism seeks greatest good for all.“, so seine Worte. Trotzdem gehe ich davon aus, dass er ähnlich wie viele seiner Branchenkollegen, die sich in der Privatwirtschaft ein enormes Vermögen angehäuft haben, davon überzeugt ist, dass jeder Schmied seines eigenen Glücks ist. Er ermutigt seine Mitarbeiter*innen mit dem Versprechen, wer alles für ihn und seine Vision tue und sich der gemeinsamen Mission praktisch “versklave”, werde am Ende erfolgreich aussteigen.

Ela: Eben. Das ist ja auch wieder so eine Ideologie. Als wären die Ärmsten der Gesellschaft die Unproduktivsten der Gesellschaft und jene mit den meisten Ressourcen die Produktivsten der Gesellschaft. Nur weil ich mich, bevor ich typisch neoliberale Slogans raushaue, als Sozialist bezeichne, macht mich das noch lange nicht zum Sozialisten. Das ist übrigens dasselbe Argument, das heute teilweise in Diskussionen über die Nazis verwendet wird, wo dann behauptet wird die Tatsache, dass das Wort Sozialismus in Nationalsozialismus vorkomme, beweise schon, dass die Nazis Sozialisten waren. Das macht mich immer wahnsinnig, wenn so getan wird, als hätten Worte keine Bedeutung. Was für eine Art Sozialist ist Musk denn, wenn er behauptet, wer reich sei, sei dies, weil er hart gearbeitet habe, während faule Menschen eben arm blieben.

Das nennt man in der Sozialpsychologie einen fundamentalen Attributionsfehler. Man neigt dazu, bei anderen Menschen die Ursache für deren Verhalten in ihrer Persönlichkeitsstruktur zu vermuten, nicht in den Umständen. Der Gründer des Google-X-Labors Sebastian Thrun drückt das so aus: „Es sind nicht die Pessimisten, sondern die Optimisten, die die Welt verändern werden (…) die Folge ist, dass diese Menschen auch mehr Reichtum und Macht anhäufen werden.“ Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Wenn jemand reich ist, dann liegt das daran, dass er besonders hart gearbeitet hat und nicht daran, dass sein Vater eine Smaragdmine hat und sein Söhnchen schon früh in den richtigen Kreisen Gassi geführt hat.

Die George Washington Universität hat 2019 einen Bericht herausgegeben, aus dem hervorging, dass der wichtigste prädikative Faktor für späteren beruflichen Erfolg das Haushaltseinkommen der Familie ist. Laut einer Studie des National Bureau of Economic Research von 2005 werden ungefähr 34 % bis 45 % der Vermögen in den USA vererbt.

Stefan: Vielleicht ist Musk einfach wirklich nur ein Geschäftsmann, der opportunistisch das sagt, was ihm grad in den Sinn kommt und letztendlich auch so handelt. Es gäbe da ein paar Anzeichen dafür in seiner Biographie. Das hat aber auch ein messianisches Element, wenn ich das so höre. Also wenn ich mich dem Ziel Gottes unterwerfe komme ich dafür in den Himmel. Die Evangelikalen Christen nennen es das Calling. Ayn Rand hat sich übrigens anlässlich einer Krebserkrankung unter falschem Namen bei der staatlichen Sozial- und Krankenversicherung angemeldet und diese beinahe 10 Jahre bis zu ihrem Tod auch konsumiert.

 Sophie: Ähnlich wie vielen weiteren vermeintlichen Selfmade-Millionären, traue ich auch Musk zu, die Beiträge die Mitarbeiter*innen über viele Jahre zu seinem Erfolg geleistet haben, nicht genügend anzuerkennen. Ich glaube auch nicht, dass er sehr intensiv die gesellschaftlichen Privilegien und Umstände, die zu seinem heutigen Reichtum beigetragen haben, reflektiert. Dass Musk der Meinung sei, Armut würde nur durch Dummheit und Faulheit existieren, glaube ich allerdings auch nicht. 

Stefan: In seinem Buch Zero to One legt Thiel offen dar, dass ein Startup seiner Ansicht nach am besten wie Kult organisiert ist. Der Unterschied ist in seinen Augen nur, dass die Anhänger eines Kultes „fanatically wrong about something important“ sind, während die Angestellten in einem erfolgreichen Startup „fanatically right“ (Thiel: 125) sind. Das klingt nach dem Randschen Objektivismus. Die Erfolgreichen entscheiden, was richtig ist und was falsch.

Ela: Thiel ist ja auch Anhänger kreativer Monopole, denn diese bedeuteten „neue Produkte, die allen zugutekommen“, während „Wettbewerb bedeute(), dass niemand davon profitiert“.

Stefan: Nicht umsonst wurde Thiel 2015 mit dem Hayek Lifetime Achievement Award ausgezeichnet. Ohne Friedrich August Hayek könnte die bürgerliche Nationalökonomie wohl nicht bis heute an ihren überholten Vorstellungen von der kulturellen Evolution festhalten. Diese besagt, kurzgefasst, dass gesellschaftliche Werte nur in geringem Maße Resultat menschlicher Gestaltung sind. Für Hayek stammen sie vielmehr aus drei Wurzeln: den biologischen „vererbten“, den kulturell „erprobten“ und den rational „geplanten“. In der Nationalökonomie, wie sie an den Universitäten gelehrt wird, wirkt sich das insofern aus, als weiterhin so getan werden kann, als wären die Fragen von Reichtum und Armut kein Feld politischer Gestaltung, sondern gottgegebene Natur, in die sich die Menschen einfügen müssen. Was bedeutet Erfolg in der kalifornischen Ideologie?

Sophie: Erfolg bedeutet nach der kalifornischen Ideologie, sich selbst durch Innovation verwirklicht und dadurch gleichzeitig finanziell ausgesorgt zu haben – und das ohne Unterstützung. Jeder ist Schmied seines eigenen Glücks und nur wer so “selfmade” wie möglich ist, hat es wirklich geschafft.

Stefan: Das Siegel “selfmade” hat etwas Wahnhaftes.

Sophie: Es ist ein Wahn, der sich vor allem im politisch tendenziell rechts verorteten Lager verfängt. Dabei wird versucht, eine historische Verbindung zwischen den Gründungsidealen des liberalen Amerikas und der unternehmerischen Tüchtigkeit der Siedler des 18. Jahrhunderts zu erzeugen. Das „selbstgenügsame Individuum“ in Form von Cowboys oder Trappern im Wilden Westen wird glorifiziert. Der einsame Held, der sich von den „unterdrückenden“ Gesetzen des Staates zu lösen versucht und so zu seinem Reichtum und Erfolg gelangt.  Außen vorgelassen wird dabei sowohl in der Geschichte als auch in den Erzählungen vieler selbst betitelter Selfmade-Billionaires, dass dieser Erfolg abhängig ist von der Arbeit vieler anderer Menschen, teilweise staatlicher Unterstützung oder durch das Leid und den Verlust Anderer fortschreiten konnte.

Ela: Dabei ist die Idee, die von vielen der Silicon-Valley-Milliardäre vertreten wird, zu viel staatlicher Einfluss würde Silicon Valley schaden, ja auch ein ideologisches Konstrukt, denn wie hätte Silicon Valley sich zu dem entwickeln können, was es heute ist, wenn der Staat kein Geld zugeschossen hätte, für Infrastruktur, Forschungsstipendien und Gründerdarlehen? Google oder Apple z. B. würde es ohne Zuschüsse und staatliche Investitionen nicht geben. Und Elon Musk hätte ohne staatliche Zuschüsse nicht bis heute durchgehalten. SpaceX z. B. wäre ohne eine Intervention von NASA 2008 heute nicht mehr am Leben.

Oder nehmen wir den Crypto-Hype. Da kommen wir auch wieder zu den Anhängern Musks, die auf seinen Anreiz hin in Dogecoin investiert haben und massiv Verluste gemacht haben. Da wurde übrigens schon eine Sammelklage eingebracht gegen Musk, in der ihm Insiderhandel vorgeworfen wird. Man wirft ihm unter anderem „eine vorsätzliche Marktmanipulation durch einen ‚Publicity-Zirkus‘“ vor, „um den Dogecoin-Preis in die Höhe zu treiben.“ Bei Crypto gab es ja zu Beginn auch diesen Hype, weil es quasi das Versprechen beinhaltet, dass jeder damit Geld machen kann. Niederschwellig, „demokratisch“, blablabla. Nur vergisst man da auch wieder, dass der Verlust von Geld die einen wahrscheinlich mehr schmerzt als die anderen.

Stefan: Was auch ausgelassen wird ist, dass wir bei den Energiekosten der Bitcoins mittlerweile bei 132,98 Terawattstunden im Jahr angelangt sind. Das entspricht dem Jahresverbrauch von Österreich. Nur zum Geld zählen!

Ela: Ein anderer Vorwurf von Anlegern gegen Musk war, dass er mit Tweets die Tesla-Aktie in die Höhe getrieben habe, als er behauptete, dass die Finanzierung gesichert sei und er das Unternehmen von der Börse nehmen könne. Apropos Twitter, das hat ja auch eine Rolle beim rapiden Crash der Silicon Valley Bank gespielt, als man quasi per Social Media zum Bank Run aufgerufen hat und damit den größten Crash seit Lehman Brothers ausgelöst hat. 

Stefan: Bei den tüchtigen Cowboys wird auch einiges ausgelassen. Vor allem wird ausgelassen, dass der Staat in Form von Armee und Gesetzen eine wichtige Rolle dabei gespielt hat diese selbstgenügsamen Individuen am Leben zu erhalten. Mit den Native Americans wurden hunderte Verträge geschlossen, die alle nach und nach gebrochen wurden. Diese Verträge führten immer wieder zu ihrer vorübergehenden Befriedung, bis sich die Siedlerpopulationen so weit erhöht hatten, dass durch Gewalt Fakten geschaffen werden konnten. Einzelne Bundesregierungen setzten dann hohe Belohnungen auf die Tötung von Native Americans aus. Kaliforniens Parlament genehmigte in den Jahren von 1851 bis 1860 1,5 Millionen Dollar für kriegerische Kampagnen gegen die Natives. (Mattioli: 217) Das durch den Gründergeist und den Frontiergedanken erzeugte Leiden ist gigantisch und bis heute nicht aufgearbeitet. Und ich weiß jetzt auch nicht von Initiativen des Silicon Valley da irgendwas anzugehen in die Richtung.

Das Abenteuer an der Frontier, der Goldrausch, die sogenannten „Indianerkriege“. Alles Mythen des so genannten „Wilden Westens“, der im Grunde schon sehr lange ein kapitalistischer Westen war. Die ursprüngliche Voraussetzung für den Aufstieg Kaliforniens war die Auslöschung des Lebens der Native Americans.  Frederick Jackson Turner, wie die meisten akademischen Historiker des 19. Jahrhunderts ein Fan der sozialen Evolutionstheorie, prägte den Frontierbegriff. Bei der Weltausstellung von 1893 in Chicago hat er verkündet, dass der Weg der Siedler nach Westen die amerikanische Entwicklung erklärt. Die sich chaotisch nach einer grausamen Eroberungslogik vollziehende Ausbreitung der USA beinhaltete als Kern die Ausrottung. Für Turner ist diese barbarische Vorbereitung der kapitalistischen Akkumulation eine wirksame militärische Trainingsschule und das Labor des gesamten politischen Systems der USA. Der Binnenkolonialismus ist übrigens keine Erfindung der USA. Das wird die Maoisten und 68er jetzt in ihrem Antiamerikanismus irritieren, aber Russland hat das indigene schamanistische und tribalistische Leben in seinem Osten lange ausgelöscht, bevor Old Shatterhand seine Silberbüchse von Winnetou gestohlen hat.

Aber zugegeben, die USA erprobte damals, um mit den Worten von Aram Mattioli zu sprechen, „ein neues Gesellschaftsmodell, in dem Grund und Boden zu einem gleicherweise begehrten wie handelbaren Gut wurde“ (Aram Mattioli: Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas, 2018: 20).

Würdest du sagen, es ist etwas von dieser Gewalt noch in der kalifornischen Ideologie spürbar? Also ich frage jetzt bewusst nicht danach, ob das vergleichbar ist, das ist es nämlich natürlich keinesfalls. Darum geht’s auch nicht. Aber spürt man ein Echo davon in den Äußerungen der Akteure?

Sophie: Ich könnte nicht sagen, dass noch Gewalt in der Ideologie zu spüren ist, da mir dafür jegliche Beweise oder Anhaltspunkte fehlen würden. Was allerdings bleibt, ist eine gewisse Ignoranz, eine aktive Ausblendung gesellschaftlicher Probleme und wenig Anerkennung der existierenden Diskriminierung, die von vielen Bevölkerungsgruppen und natürlich den Native Americans erfahren wird. Damit meine ich nicht, dass die angesprochenen Akteure, die oft gesellschaftlich libertär eingestellt sind, Diskriminierungen aufgrund von Herkunft oder sexueller Orientierung nicht anerkennen, oder sich nicht auch öffentlich gegen diese Problematiken aussprechen würden, sondern, dass sie die Konsequenzen, die diese Hürden mit sich bringen, nicht mit in ihr Narrativ integrieren. Es gilt: Wer viel arbeitet und klug ist, kann alles schaffen – jeder kann den American Dream leben. Es besteht hier eine gewisse Selbstbeweihräucherung im Sinne von “Ich habe es geschafft, also kann es auch jeder andere schaffen”, in der Silicon-Valley-Brüderschaft, die oftmals ihre eigenen Privilegien nicht sieht oder sehen will und sich zusätzlich auch nicht als verantwortlich empfindet, ihre ökonomische und gesellschaftliche Macht zu nutzen, um diese Missstände zu beheben. Am ehesten könnte man also diese Ignoranz und Ausbeutung der eigenen Privilegien bei simultaner aktiver Ausblendung von Missständen als eine Form von Gewalt sehen.

Fantasy. Ein launiger Kommentar

(Impulsvortrag anlässlich einer Nacht über Terry Pratchett)

Lyon Sprague de Camp schreibt über Fantasy, es sei die Literaturgattung, die eine Welt beschreibt, die es hätte geben müssen, damit eine gute Story entsteht. Ich schließe mich dem vollständig an. Weiter behauptet er, dass eine gute Story in einer Welt spielt in der alle Männer Helden, alle Frauen schön und alle Probleme einfach waren. Naja.

Fantasy stammt aus der Antike. Wir erinnern uns an Homer, den ersten schriftlichen Fantasy-Autor, dessen Geschichten alle so ablaufen: Männer tun männliche Dinge. Da wäre mal Zeus, der männlichste Mann, erster Fantasy Held und Serienvergewaltiger. Achilles, erster Halbgott, Sklavenhalter, Kriegsverbrecher. Odysseus, der weltreisende Raubmörder. Und die beiden etwas seltsamen Helden Theseus, dessen erstes Opfer der „Keulenträger“ Periphetes wird und dessen größter Triumph darin besteht, den von einer Kuh bewohnten Palastkeller zu durchqueren. Und dann Ödipus, der, naja …

Jedenfalls ist das Monsterkompendium seit der Antike gut gefüllt. Denn die männlichen Helden vermöbeln mit Vorliebe starke Frauen mit tragischen Geschichten. Sphinx, Medusa, Harpyie, die Gorgonen, Kirke und Hera, und manchmal Athene, sind die Endgegner der antiken Männerfantasie.

Fantasy stammt aber auch aus dem Mittelalter.

Thomas Malorys Epos über König Artus und die Ritter der Tafelrunde ist ein Prototyp der erzählenden Phantastik. Es ist in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden und das erklärt auch, warum Artus Ritter anstatt Römerhelmen Langschwerter tragen. Hier jedenfalls betritt der erste Gandalf, Elminster, Dumbledore der Literaturgeschichte die Bühne: Merlin. Kind von Dämonen und auch ansonsten eine zwielichtige Gestalt. Aber immerhin Magier des Königs.

Wobei der echte Merlin von Don Rosa in seinen Dagobert-Heften historisch sicher akkurater dargestellt ist. Ein heruntergekommener Bänkelsänger am Hof eines Dumnonischen Kleinfürsten. Der dann im Verlauf der Zeitreise-Geschichte auch noch das einzige scharfe Schwert (Excalibur: Keltisch Hartscharte) seines Fürstentums an die Ducks verliert.

Um einiges realistischer ist da schon die erste Comicserie der Welt von Harold Foster (geboren 1892) und Max Trell: Prinz Eisenherz. Darin erscheinen alle Komponenten des Ritterromans, aufgepeppt durch historisch relativ akkurate Kostüme, weniger akkurate amerikanische Ureinwohner und Plots, in denen es um das strategisch kluge Überlisten mächtiger Feinde geht. Darunter auch immer wieder die Enttarnung des einen oder anderen falschen Hexenmeisters. Harold Fosters Merlin ist ein Mann der Wissenschaft, der seine Erkenntnisse mit esoterischen Kalendersprüchen aufregender macht, um sie leichter an den Mann zu bringen. Prinz Eisenherz ist sein gelehriger Schüler.

Bis heute ist das beliebteste Fantasy-Setting eine feudale Gesellschaft. Deren Reiz liegt natürlich darin, dass die Protagonisten von Fantasy meistens entweder bereits aus dem Adelsstand stammen oder durch ihren Heldenmut dorthin gelangen. Also entweder reich geboren sind, oder Superkräfte haben, oder beides.

Dass die mittelalterliche Gesellschaft sich für den Heldenmut der Normalbürger nicht allzu sehr interessierte, ist historisch belegt. Oder kann sich von euch noch jemand an den tapferen Mann erinnern, der bei der Schlacht von Hastings 1066 die rechte Flanke von König Harolds Angel-Sachsen zu einem Sturm vom Hügel herunter motiviert, und damit den Normannen die Eroberung Englands und Wilhelm dem Eroberer seinen Titel ermöglicht hat?

Im Mittelalter dient die Literatur der Zuweisung von gesellschaftlichen Plätzen, der Bestätigung von Herrschaft. Erst Aufklärung und Säkularisierung bringen Fantasy in die Form, die wir heute kennen. Moderne Fantasy setzt die Trennung von Phantasie und Herrschaft voraus. Oder anders gesagt: Fantasy ist alles, was wir uns vorstellen können, ohne Zwang und religiösen Wahn, eine kleine Revolution.

Thomas Morus schreibt 1516 über „Utopia“, eine Insel, auf der Menschen mit Hilfe von Robotern und angeleitet von weisen Männern ein gutes Leben frei von feudalen Zwängen führen.

Der Roman „Gargantua und Pantagruel“ des Mönchs Rabelais ist ebenfalls ein früher Zeuge für die widerständige Kraft der Fantasy. Der Riese Gargantua und sein Sohn erleben allerhand wunderliche und definitiv nicht politisch korrekte Abenteuer und finden eines Tages das versteckte Kloster Thelema, auf dessen Tor geschrieben steht: Tu was du willst!

Rabelais macht bereits im 16. Jahrhundert mittels Phantastik Werbung für den Anarchismus. Denn für ihn sind Menschen, die in Freiheit und mit liebevoller Erziehung aufwachsen, von Natur aus dazu fähig miteinander ohne äußeren Zwang respektvoll und friedlich umzugehen.

Phantastik ist ein Erzählgenre das sich im Roman des 18. Jahrhunderts endgültig herausbildet. Gute Fantasy beinhaltet viel Phantasie, viele Wunder und wunderbare Wesen. Aber Phantastik braucht nicht unbedingt Phantasie, denn die Motive und Kreaturen, an denen sie sich abarbeitet, existieren seit Jahrtausenden. In schlechter Fantasy wird nur das wiedergekäut, was wir eh schon alle zur Genüge kennen.

Ich sage jetzt nicht Harry Potter, aber bei Harry Potter ist das so. Alles ist ein wiederaufgewärmter Strudel von vorgestern, der happengerecht zum Konsum präsentiert wird.

Etwa das Waisen- oder Findelkind Motiv: Ein Kind wird von seiner Geburt an zu einer Machtstellung in der Welt bestimmt. Der Antagonist bemüht sich erfolglos durch eine Reihe von Anschlägen die Entscheidung des Schicksals zu vereiteln. Das Schicksalskind gelangt zu seiner Bestimmung: sein Feind wird besiegt. Die ersten überlieferten Schicksalskinder sind Buddha und König Artus. Aber auch Elora Danan gehört zu ihnen.

Fantasy kann auch Ablenkung sein. Und Wirklichkeitsflucht ist den Herrschenden oft recht. Schlechte Fantasy ist genau das: ein Herrschaftsmittel. Die Aufklärung will das Licht der Vernunft dazu verwenden alle Schatten von der Erde zu verbannen. Alles soll eindeutig und klar werden. Für Kant ist jede Fantasy schlechte Fantasy. Aber von der Revolution hält er nach dem Erhalt seiner Professur auch nichts mehr.

Es stimmt: Mit dem richtigen Licht lässt sich gut sehen. Aber mit Wissenschaft alleine lässt sich keine Revolution machen. Die Romantiker erwidern: Wenn das Licht so auf eine Stelle konzentriert wird, dass die Schatten ganz verschwinden, bleibt alles rundherum im Dunkeln.

Vielleicht liegt das daran, dass Revolution und Phantasie doch etwas gemeinsam haben. Die Phantasie ist eine produktive Kraft. Wer sich vorstellen kann, dass es anders sein kann, der hat zumindest eine Ahnung davon, dass man das, was ist, ändern kann.

Die Romantiker erweitern die Phantastik in die Religion hinein, sie verwenden sie wie ein trojanisches Pferd . Friedrich Schleiermacher schreibt 1797, also kurz vor der französischen Revolution: „Ihr werdet es wissen daß Eure Phantasie es ist, welche für Euch die Welt erschafft, und daß Ihr keinen Gott haben könnt ohne Welt.“ (ÜdR: 72)

Die deutsche Romantik verwendet das Übernatürliche und Wunderbare als Ausdrucksmittel menschlicher Gefühle. Aber auch als Waffe gegen religiöse Fundamentalisten und staatliche Repression.

Die Phantastik dient dazu Phantasie in den Mainstream einzuschmuggeln. Das Phantastische bereitet den Weg für Science Fiction und Superhelden Comics. Es wird zum Mittel das randständige und seltsame, die Außenseiter, ins Zentrum zu rücken. Dass der Batman heute ein „Dark Knight“ ist, verdankt er der Romantisierung des mittelalterlichen Ritters. Dass er ursprünglich in Detective Comics auftrat, verdankt er Arthur Conan Doyle und seinem Sherlock Holmes.

Wir verdanken große Teile der Fantasy des 20. Jahrhunderts den Romantikern. Die Welt des Herrn der Ringe ist genau das: Eine romantische Gesamtschau der frühenglischen Ritternovelle, in Form eines epischen Reiseführers mit Sehenswürdigkeiten und Top-Wanderrouten.

Aber die Fantasy-Welten des 21. Jahrhunderts stammen aus der Feder unzähliger AutorInnen. Anne Rice (Vampire), Fritz Leiber (Schwerter von Lankhmar) und Michael Moorcock (Elric von Melniboné der Albino Elf) in den 1970ern, R. A. Salvatore ab 1988 „The Legend of Drizzt“ (der Dunkelelf). Aus ihren Ideen hat aber nicht nur Joanne K. Rowling ihre Ideen geklaut, sondern auch Andrzej Sapkowski mit seinem Geralt von Riva.

Alle zusammen stehen sie in der Schuld bei einem Bodybuilder namens Robert E. Howard, einem Zeitgenossen und Freund von Harry Hudini und H. P. Lovecraft.

Howard hat das Heldenepos ins 20. Jahrhundert geholt und mit Conan einen Helden erschaffen, der mit seiner pragmatischen Einstellung zu Abenteuern bis heute ein Vorbild für sämtliche Fantasy-Rollenspieler abgibt. Er ist ein Dieb, ein Frauenheld, ein Superspion und ein Schwertmeister, alles in einem. Und wenn er ein Kamel K.O. schlägt, dann hat er seine guten Gründe dafür.

Aber bereits bei Ludwig Tiecks Erzählung „Die Elfen“ von 1811 gibt es eine Vorschau auf Tolkiens Galadriel: Eine große Frau in glänzendem Kleid, warm lächelnd und voller tödlicher Macht. Tiecks Geschichte endet mit dem Tod.

Wir erinnern uns an den Film: „Anstelle eines dunklen Herrschers hättest du eine Königin; nicht dunkel, aber schön und entsetzlich wie der Morgen, tückisch wie die See, stärker als die Grundfesten der Erde. Alle werden mich lieben und verzweifeln!“

Bevor wir jetzt alle anfangen zu weinen: Es gibt auch Funny Fantasy. Also Fantasy, die sich über Fantasy lustig macht. Als würde sie das nicht eh von selbst erledigen.

Der Herr der Ringe ist nicht funny. Und an manchen Stellen fast lachhaft, wie ernst die Protagonisten ihre Ringe und Steine nehmen. Aber eigentlich gibt’s da nichts zu lachen. Und wenn die Protagonisten mal lachen, dann nur weil sie sich nach überstandenen Gefahren lebendig wiedersehen. Tolkien beschreibt, aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrend, eine Welt im Untergang. Und fragt man Winston Churchill, dann hat er damit recht. Großbritannien verliert im Ersten Weltkrieg sein Empire.

Aber niemals den Humor. Oder, um den Bauern Dennis aus „Die Ritter der Kokosnuss“ zu zitieren: „You can’t expect to wield supreme executive power just ‚cause some watery tart threw a sword at you!“ Das sagt er zu König Artur.

Puh!! Empire verloren, aber Humor gerettet. Einige Ritter gibt es also doch noch. Einer davon ist Terry Pratchett, bei dem schon die Ansammlung an Konsonanten in Vor- und Nachnamen einfach zum Spaßhaben anleiten. Diese Namen kann man kaum falsch schreiben. Jedenfalls war Pratchett vor seiner Karriere als Autor im Industriemanagement (Atomkraft) tätig. Und auch das merkt man seinen Büchern an. Er hatte übrigens ein „ausgeprägtes Interesse“ an Orang-Utans und wird von seinen Fans Pterry genannt. (Stummes P von Ptolemaios.)

Terry Pratchett ist das Aushängeschild der Funny Fantasy, ein absoluter Bestseller, dessen Bücher sich, wie Wikipedia sagt „durch die zum Teil überbordende Verwendung von Fußnoten auszeichnen“. Na, wenn etwas Phantasie und Humor in einem zum Ausdruck bringt, dann sind es Fußnoten!

Unter Gamerinnen: Zum aktuellen Stand des Immergleichen Teil 1

Stefan: Ich spiel heut einen alten Mann auf der Bank, der über die Jungen die vorbeigehen schimpft und mit seinem Stock wedelt. Ich bin 1981 geboren und ich hab ein Vorurteil gegenüber der aktuellen Gamerszene. Ich glaub, ihr könnts nicht mehr richtig spielen. Mir ist klar, dass im Gegensatz zu früher mittlerweile Gaming eine olympische Disziplin ist und Menschen Millionen damit verdienen können. Gleichzeitig seh ich so oft Reviews über „Spiele“, die eigentlich keine mehr sind. Es sind Filme und an drei Stellen kann man auf die X-Taste drücken.

Die andere Art von Spielen nennt sich Computer Rollenspiel, fast immer mit Open World, und besteht meistens darin, dass man herumläuft und Gegenstände einsammelt, die man dann verwendet um eher einfach gestrickten Gegnern eines auf die Nase zu geben. Spannung kommt dabei aus mehreren Gründen nicht auf: 1. Weil das Kampfsystem meistens nur das wiederholte Klicken mit der linken Maustaste als Strategie vorsieht. 2. Weil die KI der Gegner extrem lahm ist. 3. Weil man durch Auto- und Quicksave Funktionen de facto nicht sterben kann. 4. Weil man meistens jederzeit, auch während eines Kampfes, den Schwierigkeitsgrad angleichen kann und die ohnehin tumbe KI des Gegners noch weiter senken.

Es gibt natürlich Ausnahmen. Aber selbst solche Spiele wie Bloodborne sind nicht halb so unfair und hinterlistig wie Castlevania I von 1986 auf dem NES. Man stelle sich vor, da konnte man nicht speichern und es kam auf Reflexe und schnelle Auffassungsgabe an um durchzukommen! Da fangen heutigen Spielern die Knie zu schlottern an.

Felix: Du sprichst von dem ersten Nintendo Entertainment System. Ich bin mit der Nintendo Wii in mein Gamerleben eingestiegen. Nicht, weil ich bis dato kein Interesse an Videogames (Vgames) hatte, vielmehr weil meine Eltern mir erst 2010 (2 Jahre nach erscheinen der Wii auf europäischen Märkten) zutrauten, Vgames zu spielen. Um jetzt meine Eltern nicht sofort in ein gamerfeindliches Shitstorm-Setting zu werfen: ich hatte einen GameBoy, auf dem ich zu abgemachten Zeiten spielen durfte und muss ehrlich gestehen, ich hab für mich nix verpasst.

Du sprichst mit dem Castlevania-Bloodbourne Vergleich da gerade etwas an, wo ich gleich mal einen massiven Einwand gegenüber deiner These (die man in der heutigen Gamerszene als Boomer-Rant bezeichnen würde) anspreche. Technologie verändert sich mit der Zeit. Die NES war die erste Konsole von Nintendo, die Switch ist die neueste. Lustigerweise kann man auf der Switch sowohl Castlevania als auch den ersten Teil der Dark Souls-Reihe (selbes Konzept und Entwicklerstudio wie Bloodborne) spielen.

Die NES war durch ihre technischen Kapazitäten limitiert, ich glaube nicht, dass die Entwickler von Castlevania in erster Linie ein Spiel im Sinn hatten, das keine Fehler zulässt oder den Spieler zu einem Reflexmonster erziehen sollte. Es gibt auch heute noch Spieler, die genau diese Herausforderungen schätzen. Ich gehöre definitiv nicht dazu.

Mit dem technologischem Fortschritt erkläre ich mir auch, dass sich das komplette Konzept von Vgames gewandelt hat. Die Grafik wurde besser, die technologischen Möglichkeiten breiter. Ich glaub schon, dass eine gute Grundidee eines Spieles überleben kann, da ist die Grafik scheißegal, ABER in letzter Zeit werden Vgames meistens nur mehr daran gemessen, wie flüssig sie rennen oder wie sehr die Elemente einer UltraHD Auflösung standhalten.

Was du auch kritisierst, ist die Möglichkeit, die KI der Gegner anzupassen. Ich persönlich sehe darin für mich eher ein Benefit. Ich hab kein Interesse daran ein Spiel wie das vorsintflutliche Castlevania zu spielen, teils weil meine (zugegeben wenig bis gar nicht vorhandene) Frustrationstoleranz das nicht zulässt, teils weil ich mich ganz gern in die Fantasiewelt eines Vgames flüchte. Mit Strapazen, Stress und unangenehmen Konfrontationen habe ich bereits im RealLife genug zu kämpfen, da erscheint es mir ganz angenehm, einfach mal im Spielmenü auf „leicht“ zu stellen und für mich zu beschließen, dass es ein gutes Gefühl ist, der depperten KI überlegen zu sein.

Stefan: Ich hab mir gestern beim Zuschauen von einem Streamer gedacht, das viele Spiele von früher heute nur mehr als „Rage Games“ durchgehen würden. Also durch die verhunzte Sprungmechanik hat Castlevania von 1986 durchaus etwas mit Pogostuck von 2019 gemeinsam.

Aber ich finde es interessant, wenn du sagst, du brauchst den Eskapismus, um dich entspannen zu können. Vielleicht waren in den 1980er Jahren die Bedingungen noch nicht so harsch, wie sie heute sind. Oder das Spielen war einfach anders angesehen. Nicht so sehr als Entspannung und Weltflucht, sondern mehr als Herausforderung. Zur Entspannung war man dann spazieren, oder hat ein Buch gelesen. Jetzt kommt wieder was boomeriges: Zoomers lesen ja nicht mehr so viele Bücher. Ihr macht die Bucherfahrung aus zweiter Hand. Was ich sehr oft höre, ist, dass sich ein Roman so anhört, wie dieses oder jenes Vgame, oder dass es da einen Artikel auf dem blabla-blog gegeben hat, oder jemand auf dem V-log drüber geredet hat. „Werwölfe? Kenn ich von The Order 1886.“

Vielleicht braucht ihr ja diese Entspannung beim Spiel, weil ihr eh unentwegt in die digitale Röhre schaut und euch durch irgendein Zeugs durchklickt. Früher war ja das Konsolenspielen wirklich eine Abwechslung zur Arbeitswelt. Das ist heute nicht mehr so.

Was ist eigentlich bei The Order 1886 aus Sicht der Fans schief gelaufen?

Felix: The Order 1886 ist fehlgeschlagen, weil das Spiel zu kurz, zu unausgereift und in erster Linie zu groß angekündigt war. Mythologie verbreitet sich heute eher über Vgames als über Bücher, da geb ich dir Recht. Auch Filmklassiker verlieren gegenüber Vgames immer mehr an semantischer Bedeutung, bedenkt man, dass Kratos (einer der PS1- Posterboys, God of War) jetzt als Fortnite-Skin herhalten muss, oder dass Medusa eher als Boss in Assassin’s Creed Odyssey bekannt ist, statt der tragisch verfluchten Gestalt die sie in der klassischen griechischen Mythologie ist.

Was ich allerdings schon in diesem Kontext ansprechen muss, ist das sich Vgames, wohl auch durch das Internet, wesentlich weiterentwickelt haben. Online Gaming war ein zentraler Faktor für eine sich weiterentwickelnde Spiel- und Spielerszene.

Die Gamer heute schätzen kompetitives Spielen sehr. Spiele wie Counterstrike Global Offensive lassen einen recht schnell merken, dass die Zukunft der Vgames sich im anonymisierten Cyberspace abspielt. PuSsYdEsTr0yEr69 teabagt über deiner virtuellen Leiche, man wird an der K/D gemessen, also nein, ich glaube nicht, dass die Gen Z Spaß daran hat, hirnlos was anzuklicken, es steht immer eine gewisse Leistung dahinter.  Gamer machen alles mit viel System, die kennen die Abläufe genau. Sie spielen taktisch. Genauso wie du damals Castlevania als Spieler analysiert hast, genau die Sprungmechanik gekannt hast, gewusst hast, wo und woran man sich anhalten kann, genauso gut wissen Gamer über mehr oder weniger ähnliche Spielmechaniken Bescheid. Es gibt immer Experten und es gibt immer Noobs. 

Stefan: Das Nintendo Entertainment System ist in Europa 1986 auf den Markt gekommen und drei/ vier Jahre danach hab ich angefangen damit zu spielen. Übrigens gabs 1983 bereits den ersten Video Game Crash, also den Zusammenbruch der ersten Videospielindustrie. Atari und ein Haufen anderer Anbieter hat zusehends billigen Schrott herausgebracht und die Übertragung von den Arcade-Spielen auf die Heimstationen hat meistens auch nicht geklappt. Nintendo hat die aus dem Tief wieder rausgeholt.

2000 ist dann die Dotcom Blase geplatzt. Daran sind nicht so sehr die schlechten Videogames schuld gewesen, sondern die Wetten auf Gewinne und Verluste. Aber die New Economy, hauptsächlich webbasierte Dienstleistungen, war betroffen und darauf baut ja das neue System der Spielindustrie weitgehend auf. Watchpartys von Playthroughs, Livestreams usw. Die haben sich trotz dieses Rückschlags gut erholt. Kleinanleger sind halt massiv geschädigt worden dabei.

Felix: Webbasierte Dienstleistungen. Eine schon fast kryptisch klingende Bezeichnung für Medien, die heute jeder kennt und konsumiert. Youtube (YT) und Twitch sind wahrscheinlich auch außerhalb der Szene vielen Menschen bekannt. Ich hab den Eindruck man kann keine 2 Videos auf YT schauen, ohne dass einem eine Werbung für ein Videospiel, oder noch schlimmer, irgendeine Cashgrab-Smartphone-App angezeigt wird, selbst wenn man sich Videos ansieht, die mit Gaming gar nichts zu tun haben. Kannst du dich noch dran erinnern, wie grausliche D-Promis wie Pietro Lombardi „Coin Master“ beworben haben? Das war sowas von cringey und außerdem Promotion von Glücksspiel, das allerdings sehr kinderfreundlich verpackt war. Was das Ganze noch widerlicher macht.

Auf Twitch tummeln sich vermehrt Streamer, die Geld damit verdienen, dass ihnen Andere beim Spielen zuschauen. Man kann heute tatsächlich gut mit dem Voyeurismus anderer Menschen Geld verdienen, kommt mir vor. Ich denke da besonders an eine ganz besonders toxisch veranlagte Streamerin, die ihre Audience beleidigt hat, sie würden ihr nicht genug Geld spenden. Besagte Streamerin spielt keine Vgames, sie schaut auf Youtube mit aktiviertem Adblock Videos, die andere Leute gepostet haben und kommentiert die. Adblock bedeutet in dieser Situation, dass die ursprünglichen Contentkreatoren, die die Videos selbst aufnehmen, schneiden und hochladen, durch ihren Aufruf keinen einzigen Cent sehen, da sich die meisten Youtuber (YTer) über Werbungen finanzieren.

Einige Streamer verdienen sich auch etwas dazu, indem sie absolut absurde Nischenprodukte promoten. Alles unter der Prämisse, es sei für „richtige Gamer“. Eiweißshake für Gamer, dann muss man nicht mehr vom Rechner weg, weil man sich die 2000 Kalorien einfach flüssig einehaut, wer braucht feste Nahrung?

Oder auch ein Pulver, das sich mit Wasser zu einem Energydrink a la Red Bull vermengt. Gonna need those Reflexes for Counterstrike. Ich glaub fest dran, dass sowas zumindest potentiell gesundheitsschädlich ist. Und mir läuft ein Schauer über den Rücken, wenn ich dran denk, dass Gaming immer öfter ein jüngeres Publikum anspricht. Auch geil find ich Gaming-Socken. Einfach nochmal langsam drüber lesen. GAMING- SOCKEN.

Stefan: Es kann prinzipiell nicht gesund sein, so lange zu spielen, dass man Mahlzeiten auslassen muss. Andererseits findet auch niemand was dabei, wenn man 8 Stunden lang wegen der Arbeit vorm PC sitzt. Also da gibt es schon eine Schieflage in der Betrachtung, die was mit dem weitverbreiteten Arbeitsfetischismus in unserer Gesellschaft zu tun hat. Oscar Wilde kritisiert das auf wunderbare Art. Er bezeichnet Lohnarbeit als unwürdigen Zwang für andere zu leben. Die Frage die sich da stellt, ist, ob nicht diese vernetzte digitale Gaming-World neue Zwänge auftürmt? Viele Spiele haben ja kostenpflichtige Anteile oder machen bestimmte Erfolge davon abhängig, dass man das richtige Equipment hat für das man wochenlang grinden muss, oder für das man eben ein paar Euro ausgeben soll. Für die Euro muss man dann wieder einige Zeit arbeiten.

Felix: Die Pay-to-win- Mechanik, die du hier ansprichst ist für mich eine der Entwicklungen die Vgames in den letzten Jahren kaputt gemacht haben. Es kommen immer wieder Spiele heraus, in denen man als Spieler, der nicht bereit ist Geld auszugeben vor allem im Multiplayer keine Chance hat gegen Spieler die in die digitale Währung innerhalb eines Vgames investieren. Mikrotransaktionen sind mittlerweile fast überall angekommen, vom Triple A-Game bis hin (und ich glaub sogar vor allem) in mobile Games, also Spielen die am Smartphone gespielt werden. Eine gefährliche Entwicklung, sieht man sich zum Beispiel Spiele wie Fortnite an, die eine sehr junge Spielerbasis anziehen, die meistens abgesehen von ihrem Taschengeld null eigenes Einkommen haben. Aber ich glaube genau dieses Geschäftsmodell haben die Leute bei Epic Games, dem Entwickler Studio hinter Fortnite angestrebt, bzw sie haben bis dato absolut nichts unternommen, um diese Entwicklung zu unterbinden. Mamis Kreditkarte hält dann halt für die Vbucks her, dann kann man sich auch endlich den Skin leisten, mit dem man ausschaut wie ein Kratos aus God of War, einem FSK 18- Spiel das an Brutalität eventuell von Mortal Kombat, aber nicht vielen anderen Vgames überboten wird.

Was ich auch besonders geil finde, ist das Konzept der Season Passes. Entwickler bringen ein Spiel heraus, verkaufen es zum Vollpreis, und veröffentlichen nach dem Release, meistens ein paar Monate später einen Season Pass, der quasi als Erweiterung nochmal Geld kostet. Es ist wie damals das „Horse Armor Package“ in The Elder Scrolls 4- Oblivion eine absolut unverschämte Abzocke.

Stefan: Günther Anders schreibt mal irgendwo, die Mode sei der Trick der Industrie um die Nachfrage aufrecht zu erhalten. Aber dazu braucht es auch eine Bereitschaft mit der Mode mitzugehen. Woher wissen die Spieler denn was gerade Mode ist? Nintendo hatte bereits 1988 einen Podcast. Den „Nintendo Power“ ein News und Strategie Podcast, der aus dem Printmagazin hervorgegangen ist.

Gamingjournalismus hat sich auch ein wenig verändert. Früher war es ein Begleittext zu den Spielen, der von den Firmen selber gekommen ist. Die haben das als Forum benutzt, um Neuigkeiten anzukündigen und Tricks zu verraten wie man Gegner, die unschaffbar waren, fertig macht. Es war Corporate Business. Jetzt ist das demokratischer. Wobei, der „Journalismus“ der auf Youtube stattfindet, ist ja eher eine Form von freiwilliger Corporate Mentality. Man merkt sehr schnell, dass es bei vielen wenig um Inhalt und mehr um Klicks oder das Reviewer Package vom großen Produzenten geht.

Felix: Nicht nur um die Klicks. Mir kommt vor es ist mittlerweile Usus, dass man Gamer mit einer bestimmten medialen Reichweite, neue Spiele „testen“ lässt. Entwicklerstudios stellen die Spiele oft vor dem offiziellen Release YouTubern zur Verfügung, natürlich unter der Abmachung, sie dürfen über das Spiel nichts Negatives sagen.

Was mir hierfür als Beispiel einfällt, ist das Anfang Dezember 2020 erschienene Spiel Immortals- Fenyx Rising. Das von Ubisoft entwickelte Spiel ist der purste, unverschämteste Abklatsch von Nintendos Legend of Zelda – Breath of the Wild (BotW). Ich habe bei einem Yter, den ich regelmäßiger schaue, ein verfrühtes Gameplay von Immortals gesehen und er hat relativ beiläufig fallen gelassen, dass er es vor dem Aufnehmen des für seine Zuschauer gedachten Videos erst in einem „abgesicherten Rahmen“, in einer Spielsitzung im Beisein eines der Ubisoft-Entwickler gespielt hat. Lustigerweise hat er die absolut unbestreitbare Ähnlichkeit zu BotW nicht einmal erwähnt.

Irgendwie kotzt es mich an, dass Nintendo, ein sonst so protektives Entwicklerstudio, es zulässt, dass Content so schamlos abgekupfert wird. Ich erinnere mich an ein Pokemon Fanwork – Project, Pokemon Prism, das sich rein das Konzept von Pokemon abgekupfert hat, oder viel mehr hätte. Alle Sprites, alle Charaktere und alle Pokemon waren vom Entwicklerteam komplett selbst designt und auch die Möglichkeit selbst als Pokemon zu spielen, waren absolut original und neu. Über acht Jahre hat das Entwicklerteam reingesteckt. Noch während des Entstehungsprozesses kam eine Beschwerde von Nintendo und das Projekt erschien nie.

Wenn jetzt Ubisoft daherkommt und abkupfert ist es anscheinend ok.

Stefan: Das Maskottchen der Nintendo-Welt ist ja Super Mario. Da gab es sogar mal einen Film mit Bob Hoskins. Großartiger Trash von Ed Solomon, der später Men in Black gemacht hat. Sega hat Sonic the Hedgehog. Auch wenn ich sagen muss den habe ich viel weniger verstanden. Mario und Luigi und das Märchenland in den Abwasserkanälen kann ich verstehen. Ich bin mit Spielzeug von Mattel und Hasbro und MB und solchen Produzenten aufgewachsen. Die haben in den 80er und 90ern einfach alles rausgebracht, was man aus Plastik und schlechtem Geschmack herstellen kann, was Kinderherzen höherschlagen lässt. Masters of the Universe, Turtles, Dino Riders, Hero Quest. Unglaublicher wundervoller, zauberhafter Trash.

Die Zeichentrickserien, die es dazu gab, waren als Werbung für die Figuren gedacht. Also nicht wie beim Star Wars Universe, oder den meisten heutigen Franchise Produktionen, wo zuerst ein Film da ist und dann unendliches Merchandise, sondern anders herum. Die hatten Gussformen für seltsame Mutanten und haben sich überlegt, wie sie die an die Kinder kriegen. Und haben dann Serien und Comics gemacht, drum herum.

Bei Masters gab es später ja sogar einen Film mit Dolph Lundgren als He-Man. Dass es eine Kinderserie gibt deren Hauptcharakter auf Deutsch „Er-Mann“ heißen darf, finde ich an sich schon faszinierend. Das ist auch deshalb, weil der He-Man ja eine durch Magie erzeugte Figur ist. Der Typ, der zu He-Man wird, mit der Macht von Greyskull, ist der Prinz Adam, der eher ein Hasenfuß ist und immer in einem rosafarbenen Jogginganzug herumläuft. Ich habe ihn geliebt als Kind. Ich wollte immer eine Adam Figur haben. Meine Mutter war aber völlig gegen die Masters. Was ich heute total verstehe. Aber meine Oma hat mir dann heimlich die grauslichsten Masters gekauft, wenn ich bei ihr zu Besuch war übers Wochenende. Ich sag nur Snake Face.

Das Highlight in dem Film ist Frank Langella als Superbösewicht Skeletor. Er spielt den Erzfeind von He-Man fast so übertrieben wie später Jeremy Irons in dem Dungeons and Dragons Film den Nekromanten Profion. Nur wo Irons Charakter total auf Wahnsinn setzt, ist Langella mit viel Würde und Pathos am Werk. Er hasst He-Man richtig. Das spürt man. Es ist toll.

Lustigerweise sind die epigonalen Charaktere der aktuellen PC Welt keine Erfindungen der Konzerne mehr, sondern literarische Figuren. Also bereits vorhandene Charaktere. Angefangen beim berühmten Geralt von Riva, dem Witcher, bis zu den ganzen endlosen Star Wars Epigonen und sonstigen Franchise-Vermarktungen aktueller Spiele.

Felix: Ich muss jetzt ehrlich gestehen, ich hätte vorgehabt mir im Rahmen der Recherche für diesen Text den neuen Sonic the Hedgehog Film anzuschaun, aber der war mir schon nach dem Teaser auf Netflix zu blöd.

Ich glaub schon, dass es auch heute noch genug Franchises gibt, die zuerst auf die Produktion des Produktes und dann auf die Vermarktung setzten, denk mal an die ganzen neuen Lego-Sets die rauskommen, Ninjago und ähnlicher Schmarrn. Aber ich sehe auch, dass heute immer noch 80er Erscheinungen, höchstwahrscheinlich wegen ihres Kultcharakters finanziell bis zum Letzten ausgeschlachtet werden. Star Wars Figuren und Pokemon Karten erfreuen sich bei Volksschülern auch heute noch allergrößter Beliebtheit. Vielleicht liegt es dran, dass es sehr schwer ist, etwas wirklich Neues zu etablieren, da schon so ein großes Angebot da ist. Ein Negativbeispiel dafür ist Minecraft. Das schlug ein wie eine Bombe, ist auch zugegebenerweise ein cooles, erfrischendes Spielkonzept gewesen. Alle coolen Kids hatten auf einmal Minecraft-T-Shirts, -Plüschtiere, -Lego und fast alles erdenkliche andere.

Und Gerald von Riva verdankt seinem Ruhm in erster Linie dem damals noch hoch angesehen Entwicklerstudio CD Project Red, weniger den Romanen, die eigentlich kein Schwein gekannt hat vorm 3. Teil der Spielreihe. Ich glaube, dass sich die Burschen und Mädels bei Project Red mit dem absoluten Flop von Cyberpunk so dermaßen ins Knie geschossen haben, dass wir keinen 4. Witcher-Teil mehr sehen werden.

Stefan: Das Genre der Spielentwicklung nimmt ja Formen an wie der Film. Die Spieleproduktion nähert sich dem Filmemachen an. Interessanterweise zu einem Zeitpunkt, in dem das klassische Kino sich anschickt unterzugehen. Die erfolgreichsten Filme laufen zurzeit in China, wie zb. der Film The 800 von Guan Hu. Die großen Hollywood Produktionen finden pandemiebedingt nicht statt, oder floppen so wie Tenet von Christopher Nolan.

Wobei Nolans Film so ein abstraktes Ungetüm ist, dass trotz der Ambitionen wenig politisch und dafür sehr metaphysisch daherkommt. Während Guan Hu ein berührender Film gelungen ist, in dem er den Kampf der Kuomintang gegen japanische Invasoren in Shanghai darstellt. Und dass, trotz chinesischer Zensur.

Jedenfalls gibt es diese Hinwendung zum Auteur Produzenten wie im Film auch im Spielebereich. Aber eh schon länger. Ich denk jetzt an Final Fantasy von Hironobu Sakaguchi. Da ist dieses Element schon vorhanden.

Aber richtig geknallt hat es erst bei Death Stranding von Hideo Kojima. Bei Final Fantasy steht ja noch der epische Konflikt von Gut und Böse im Vordergrund und man kann mit Training und guter Ausrüstung dem Bösen, von dem man recht bald Bescheid weiß, tapfer entgegentreten und es besiegen. Die Welt retten.

Bei Death Stranding ist die Welt eigentlich nicht mehr zu retten. Es sind nur mehr Pakete auszuliefern. Und irgendwie erinnert das an die aktuelle Pandemie. Wo alles von Zustelldiensten übernommen wird. Alles wird geschickt und die Kommunikation ist nur mehr digital. Wer weiß, ob die Menschen überhaupt noch alle da sind. Vielleicht sind manche nur mehr Signaturen?

Felix: Da kann ich aus eigener Erfahrung sprechen, ich hab die ersten 2 Spielstunden von Death Stranding tatsächlich hinter mir. Es spielt sich wie ein Fiebertraum. Norman Reedus liefert in einer postapokalyptischen Welt Pakete aus, wobei er einen durch Technologie am Leben gehaltenen Fötus in einer Art Mechanischem Kängurubeutel mit sich herumschleppt, trinkt ausschließlich Monster Energy, uriniert auf schemenhafte Wesen, um sie zum verschwinden zu bringen, vorausgesetzt er duscht nicht gerade, oder funktioniert seinen scheinbar sehr wirksamen Urin zu Granaten um.

Mich hat selten etwas mit so vielen Fragezeichen stehen gelassen, aber ich muss sagen nach verfassen dieses Absatzes, wäre ich doch an einer Aufklärung sehr interessiert, glaub ich hol das demnächst mal wieder aus dem Regal.

Der Film-Vgame Vergleich erinnert mich auch noch an ein anderes Spiel, das ich erst vor kurzem angespielt hab. Rockstar Games Red Dead Redemption 2, das hab ich aber nach gefühlt 4 Stunden dann auch wieder aufgehört, weil es sich einfach anfühlt wie ein Film. Es werden einem am Anfang keine Auswahlmöglichkeiten gelassen, es ist ein spielbarer Film. Fair enough, nach 6 Stunden kann man dann wahrscheinlich schon die Welt erkunden, aber bis dahin ist es ur zach. Mich schreckt sowas ab. Sorry, an alle Red-Dead-2 Liebhaber da draußen, ich glaube euch gerne, dass es ein tolles Spiel ist, aber mich nervt schon das Skyrim-Einstiegsszenario und da ist man nach 45 Minuten durch, da hab ich auf ein Spiel, bei dem ich nach 4 Stunden das erste Mal eine Entscheidung treffe, absolut keinen Bock.

Stefan: Das finde ich interessant, weil davon sind wir ja am Anfang losgegangen: Das einige Spiele heute sehr wenig Raum zum „Spielen“ lassen, sondern die Spieler an der Hand nehmen und betreuen. Bei Johann Huizinga gibt’s den Gedanken, dass der Mensch im Spiel Kultur erzeugt. Manche Philosophen fürchten die zunehmende Medienabhängigkeit des Menschen, andere finden die Fähigkeit des Menschen Zeit im Internet zu verschwenden ganz wunderbar. Vielleicht hängt es ja davon ab, was man mit der verschwendeten Zeit macht?

Wir könnten ja weiter darüber reden und dazu anregen die Zeit im Internet damit zu verschwenden aktiv drüber nachzudenken was man da tut.

… to be continued …

Art by Timon Tiefling!