Social Witchcraft ein Gespräch über Hexen auf TikTok mit Lisa Dorner

Stefan: Du hast für deine Masterarbeit Hexen und die von ihnen auf TikTok präsentierten Inhalte erforscht. Wie bist du auf die Idee gekommen?

Lisa: Ich bin durch zwei Faktoren auf das Thema gestoßen: Einerseits habe ich selbst immer wieder in meiner „privaten“ Social-Media-Nutzung die spirituelle Seite von TikTok kennengelernt und fand sie schon damals sehr faszinierend. Andererseits habe ich ein Seminar besucht mit dem Namen „Verfluchte Ökonomien“, das sich mit okkulten Vorstellungen in einem globalen Entwicklungsdiskurs auseinandergesetzt hat. Im Zuge meiner Abschlussarbeit für das Seminar, habe ich beschlossen diese Dinge zu verknüpfen, und weil ich das Gefühl hatte, es gibt noch mehr dazu zu forschen, habe ich schließlich auch meine Masterarbeit diesem Thema gewidmet.

Stefan: Wie kann TikTok am besten erforscht werden?

Lisa: TikTok ist ein digitaler Raum, in dem verschiedene Menschen und Unternehmen, die alle unterschiedliche Zwecke verfolgen, aufeinandertreffen. Um die Dynamiken die sich auf so einer komplexen Plattform zu verstehen, habe ich mich für eine qualitative Forschung entschieden, die mir erlaubt, möglichst tief in die Materie einzudringen. Für meine Arbeit habe ich mich für die digitale Ethnographie entschieden. Das ist eine Forschungsmethode, die das Verhalten und die Interaktionen von Online-Communitys untersucht. Besonders bei Social-Media-Phänomenen wie WitchTok erlaubt sie, digitale Rituale und Identitätskonstruktionen zu analysieren. Teilnehmende Beobachtung und Plattformanalysen sind zentrale Methoden, um in meiner Arbeit digitale Hexenpraktiken nachzuvollziehen. Die Methode umfasst verschiedene Techniken zur Datensammlung, darunter Inhaltsanalysen von Postings, Kommentare und Hashtags, sowie visuelle Analysen von Bild- und Videomaterial, um digitale Gemeinschaften und ihre Dynamiken zu verstehen. Plattformen wie TikTok stellen hierbei besondere Herausforderungen dar, da Algorithmen Inhalte nicht chronologisch, sondern personalisiert ausspielen. Dadurch kann sich die Rezeption von Daten je nach Nutzer:in stark unterscheiden.

In der digitalen Ethnographie wurde gezieltes Sampling von TikToks bzw. TikTok-Accounts angewendet, das sich an relevanten Hashtags, Algorithmen und Community-Strukturen orientiert. Im Falle dieser Arbeit wurden Accounts untersucht, die unter dem Hashtag #WitchTok aktiv sind und von Menschen geführt werden, die sich selbst als Hexen bezeichnen. Diese Methode ermöglicht es, digitale Subkulturen zu erfassen und Trends innerhalb der Community zu dokumentieren​.

Die Ergebnisse der digital-ethnographischen Forschung werden durch Screenshots und analytische Reflexionen dokumentiert. Dies ermöglicht eine Verknüpfung zwischen theoretischen Konzepten und beobachteten Online-Praktiken​.

Stefan: Von welchen theoretischen Prämissen bist du ausgegangen?

Lisa: Silvia Federici analysiert in ihrer Arbeit die historische Rolle der Hexenverfolgung im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Sie argumentiert, dass die Hexenjagden nicht nur Ausdruck patriarchaler Unterdrückung waren, sondern gezielt zur Disziplinierung und Kontrolle weiblicher Arbeitskraft eingesetzt wurden. In der frühen Neuzeit, insbesondere im 16. und 17. Jahrhundert, dienten die Hexenprozesse dazu, Frauen in traditionelle, untergeordnete Rollen zu drängen und ihre wirtschaftliche sowie soziale Unabhängigkeit zu unterbinden​. Die Auswirkungen dieses gewaltvollen Prozesses sind bis heute bemerkbar.

Federici beschreibt die Hexenjagden als eine Methode der ursprünglichen Akkumulation, die Karl Marx als Voraussetzung für das Entstehen des Kapitalismus definierte. Während Marx sich auf die Enteignung der Bauern und die koloniale Ausbeutung konzentrierte, zeigt Federici, dass Frauen durch die Hexenverfolgung ihrer reproduktiven Arbeit und ihres Wissens beraubt wurden. Besonders betroffen waren Frauen, die außerhalb patriarchaler Strukturen lebten – Heilerinnen, Hebammen und unverheiratete Frauen. Die Verfolgungen dienten dazu, Frauen in das kapitalistische Wirtschaftssystem zu zwingen, indem sie in abhängige, unbezahlte Reproduktionsarbeit gedrängt wurden​.

Stefan: Wie kommst du von der ursprünglichen Akkumulation zu TikTok?

Lisa: Soziale Netzwerke sind kapitalistische Plattformen, die von Unternehmen gesteuert werden, deren Ziel Kapitalakkumulation ist. Das bedeutet, sie sind das direkte Produkt kapitalistischer Strukturen und eine Weiterentwicklung der ursprünglichen Akkumulation. Social-Media-Plattformen sind keine luftleeren Räume, sondern reproduzieren gesellschaftliche Strukturen und gehören dementsprechend zu einer modernen entwicklungspolitischen Forschung.

Inhaltlich habe ich mich auf die Ansätze von Donna Haraway gestützt. Sie entwickelte das Bild des Cyborgs als eine postmoderne Identität, die die Grenzen zwischen Mensch und Maschine, Natur und Technik, auflöst. Technofeministische Ansätze heben hervor, dass Technologie nicht neutral ist, sondern geschlechtsspezifische Machtverhältnisse reproduziert. Gleichzeitig argumentiert Haraway, dass Technologie nicht zwangsläufig ein Instrument patriarchaler Unterdrückung sein muss, sondern auch emanzipatorisches Potenzial besitzt, wenn sie nach technofeministischem Verständnis genutzt wird. Kritisch wird angemerkt, dass Haraways Theorie eine westlich geprägte Fortschrittsvision verfolgt und dabei koloniale und kapitalistische Strukturen oft ausklammert. Ihre Vorstellung, dass Technologie die Befreiung von Geschlechterkategorien ermöglichen kann, blendet aus, dass digitale Plattformen selbst tief in kapitalistische und patriarchale Strukturen eingebettet sind.

Technopaganismus bezeichnet die Verschmelzung moderner Technologien mit spirituellen Praktiken. Während einige Hexen den Fokus auf Naturverbundenheit legen, sehen andere digitale Medien als legitimes Mittel zur spirituellen Erfahrung. Soziale Netzwerke dienen in diesem Zusammenhang als Orte der Identitätsbildung und ermöglichen den Austausch über Rituale und Glaubenssysteme in und außerhalb der Community. Dies zeigt sich beispielsweise in magischen TikTok-Trends, die digitale Tools für rituelle Zwecke nutzen​. Social Media spielt demnach eine entscheidende Rolle in der Identitätsbildung der modernen Hexe.

Stefan: Social Media ist Teil des Kulturindustriellen Produktionszusammenhangs, Teil der fortgeschrittenen Akkumulation, Teil der Ausbeutungsmaschinerie unterm Kapitalverhältnis. Was kann eine feministische Bewegung sich von der Teilnahme an so einer Struktur erwarten?

Lisa: Christian Fuchs beschreibt soziale Medien als kapitalistisch geprägte Plattformen, die eine neue Form der Kulturindustrie darstellen („techno-soziales System“).

Stefan: In Anknüpfung an Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.

Lisa: Genau, sie basieren laut Fuchs auf einem Geschäftsmodell, das durch Nutzer:inneninteraktionen Daten generiert, die dann monetarisiert werden. Soziale Medien sind demnach Unternehmen, die auf die Maximierung von Profiten durch algorithmisch gesteuerte Aufmerksamkeit ausgerichtet sind​. Fuchs zeigt, dass Social-Media-Plattformen nicht nur passiv Inhalte hosten, sondern aktiv in die Informationsverbreitung eingreifen. Algorithmen priorisieren Inhalte, die hohe Engagement-Raten erzielen, da diese die Verweildauer der Nutzer:innen erhöhen und damit die Werbeeinnahmen maximieren. Diese Mechanismen führen dazu, dass emotionale, kontroverse oder konsumfördernde Inhalte bevorzugt werden – ein zentrales Element der Kulturindustrie im digitalen Zeitalter.

Hierbei ist der Warencharakter von Kultur besonders offensichtlich, da Inhalte monetarisiert und für Werbezwecke optimiert werden. Influencer:innen sind Teil eines Systems, in dem Konsum gefördert und als natürliche Form der Selbstinszenierung dargestellt wird. Diese Mechanismen führen zu einer auch verstärkten Kommerzialisierung spiritueller Inhalte, auf die sich die Masterarbeit konzentriert.

Fuchs betont, dass die wirtschaftlichen Strukturen von Social-Media-Plattformen nicht nur die Kommunikation beeinflussen, sondern auch gesellschaftliche Diskurse prägen und politische Machtverhältnisse reflektieren​.

Stefan: In diesem Zusammenhang taucht in deiner Arbeit der Begriff der algorithmischen Divination auf. Kannst du erläutern was das ist, geht es wirklich um Magie?

Lisa: Es handelt sich nicht um Magie, obwohl es sich teilweise so anfühlen kann. Lazaro beschreibt algorithmische Divination als moderne Form der Wahrsagerei, bei der Algorithmen Muster erkennen und interpretieren. Diese Praxis wird von Hexen auf Social Media genutzt, um magische Praktiken mit digitalen Technologien zu verbinden. Beispielsweise wird über den Algorithmus auf TikTok versucht, göttliche Botschaften zu empfangen oder magische Muster in digitalen Daten zu erkennen​.

Ein Beispiel dafür sind TikToks, in denen Personen Karten legen oder mit übernatürlichen Kräften kommunizieren, um Voraussagen zu tätigen. Das passiert nicht im direkten Austausch, sondern wird auf eine größere Ebene umgelegt und dennoch versucht zu personalisieren: Die Personen in den Videos beginnen diese dann mit Sätzen wie „Wenn du auf einem Bildschirm die Zahl 3 siehst, dann ist dieses Video für dich“ und vermitteln so das Gefühl, eine magische Instanz schwingt mit der Botschaft mit.

Stefan: Spannend. Magie ist ja ein uraltes Phänomen, das die Menschen schon beinahe seit ihrer Menschwerdung begleitet. Leander Petzold weist auf die überzeitliche Unveränderlichkeit von Magie hin und bezieht sich damit auf Ludwig Wittgenstein, der nach der Lektüre des magischen Buches „The Golden Bough“ rezipiert: „So einfach es klingt: der Unterschied zwischen Magie und Wissenschaft kann dahin ausgedrückt werden, dass es in der Wissenschaft einen Fortschritt gibt, aber nicht in der Magie. Die Magie hat keine Richtung der Entwicklung, die in ihr selbst liegt.“ Man müsste ergänzen, sie hat sogar etwas antiwissenschaftliches, indem sie nicht auf Öffentlichkeit zielt. In der modernen Forschung hat sich die Praxis etabliert Forschungsergebnisse durch eine Öffentlichkeit validieren zu lassen. Alles muss ans Licht, es muss publiziert werden. Magie wirkt im Verborgenen. Sie bezieht ihre Wirkkraft laut Petzold aus der „Exklusivität eines in sich geschlossenen Systems bzw. einer Gruppe“. Ich frage mich also, was wollen die Hexen auf TikTok? Das ist ja eine Form der Öffentlichkeit?

Lisa: Meiner Einschätzung nach lässt sich das bei den Hexen auf TikTok nicht klar feststellen. Denn Authentizität in der digitalen Hexerei wird, meiner Beobachtung nach, durch eine Mischung aus persönlicher Inszenierung und Community-Anerkennung definiert. Hexen auf TikTok gestalten ihre Inhalte so, dass sie sowohl individuelle Spiritualität als auch Trends der Plattform bedienen. Dies führt zu einem Spannungsfeld zwischen echter Überzeugung und Anpassung​ für den Algorithmus. Die Beobachtung hat gezeigt, dass viele Hexen betonen „echt“ oder „authentisch“ zu sein – dies zeigt ein Bedürfnis sich abzugrenzen. Wer allerdings bestimmt oder definiert, was im Kontext der modernen Hexerei eine echte Hexe ausmacht, ist unklar.

Stefan: Claude Lévi-Strauss meint, die magischen Glaubensinhalte könnten auch als „Ausdrucksformen eines Glaubens an eine künftige Wissenschaft“ angesehen werden. Ich interpretiere das so, dass es durchaus legitim sein kann, das Medium, in dem Magie praktiziert wird, einem Update zu unterziehen. Aber ob das dann noch dieselbe Wirkkraft entfalten kann, ist eine andere Frage, oder?

Lisa: Die Vermarktung von Hexerei in sozialen Medien zeigt sich in verschiedenen Formen: von kostenpflichtigen Tarot-Lesungen, über den Verkauf magischer Produkte, bis hin zur Ästhetisierung von Hexenpraktiken. Dies führt dazu, dass spirituelle Inhalte zunehmend in kapitalistische Strukturen eingebettet werden, wodurch die Grenze zwischen Glauben und Konsum verschwimmt​. Durch die Aufbereitung und Darstellung einer gewissen „Hexenästhetik“ wird das Gesamtbild gestärkt und der Konsum ansprechender gestaltet. Das Versprechen, Teil der Gemeinschaft zu werden, indem gewisse Produkte und Dienstleistungen gekauft werden, geht in vielen Fällen mit der Bewerbung einher.

Moderne Hexen fungieren in diesem Sinne ähnlich wie herkömmliche Influencer:innen, außer, dass sie nur durch ihren exklusiven Zugang zu Wissen und Praktiken (Magie) ihre Käufer:innen anlocken, anstatt mit Nahbarkeit und einem großen Following.

Stefan: Eine Profanisierung der Hexerei. Was macht das mit der Identität der modernen Hexen?

Lisa: Die Identität der modernen Hexe ist stark von digitalen Netzwerken geprägt. Während traditionelle Hexenpraktiken oft durch persönliche Weitergabe vermittelt wurden, ermöglichen soziale Medien eine offene und zugängliche Form der Identitätsbildung. Plattformen wie TikTok und Instagram spielen eine zentrale Rolle in der Definition dessen, was es heute bedeutet, eine Hexe zu sein.

Hexen nutzen soziale Netzwerke, um ihre Identität öffentlich darzustellen. Sie zeigen ihrer Routinen, magischen Praktiken und tauschen sich untereinander aus. Gleichzeitig gewähren sie Außenstehenden einen scheinbar exklusiven Einblick in ihre Welt. In vielen Fällen ist diese Exklusivität kaufbar, und Teil der Gemeinschaft zu werden eine finanzielle Sache: Wer die richtigen, „echten“ Kerzen, Kristalle, Zaubersprüche kauft, kann Teil der Community werden.

Dennoch ist Gemeinschaft für moderne Hexen, den Ergebnissen dieser Untersuchung nach, ein essenzieller Bestandteil ihrer Identität. Der Austausch mit anderen und das gemeinsame Lernen wird hier stark in den Fokus gestellt.

War on Drugs in Vienna? Gespräch mit Dr. Peanuts über Drogenkonsum und dessen Bekämpfung in Wien

Stefan: Wo kann ich in Wien die besten Drogen kaufen?

Dr. Peanuts: Stefan, die Möglichkeiten sind wohl mannigfaltig 😉 Am einfachsten gehst du in den Supermarkt, kaufst dir zwei Flaschen Whiskey, gern auch den Besten – und ein Packerl Zigaretten in der Trafik daneben.  Schwupps, und schon hast du welche der gefährlichsten Drogen, in Bezug auf die Sterberate in Österreich, in deiner Hand und kannst sie ganz legal und ohne Stigma konsumieren.

Aber Spaß beiseite: Warum sind denn manche Drogen legal und andere nicht? Deine Frage lenkt unser Gespräch natürlich auf ein ernstes Thema: den Umgang der Wiener Drogenpolitik mit illegal gemachten Subtanzen und ihren Konsumierenden. Wie in jeder Großstadt, gibt es auch in Wien Drogenkonsum und -handel. Und tatsächlich ist es heute noch leichter an verschiedene illegale Substanzen zu kommen, als noch vor 30 Jahren – dank Internet, sozialen Medien, Bestelltaxis und dem Darknet.

Im Idealfall sollten Menschen, die berauschende oder bewusstseinsverändernde Substanzen konsumieren wollen, dies legal und sicher tun können. Bildung, Aufklärung und unterstützende Angebote wären dabei essenziell, um negative Effekte des Drogenkonsums einzudämmen. Eine Drogenpolitik die auf Repression und Kriminalisierung setzt, ist veraltet und verfehlt dieses Ziel. Sie stigmatisiert Konsument*innen und treibt sie in den Untergrund – mit all den damit verbundenen Risiken und sozialen Folgen, die wir schon aus der Geschichte des War on Drugs kennen.

Stefan: Der War on Drugs ist ein globales Regime der rigiden politischen Kontrolle von bestimmten Drogen und der Kriminalisierung bestimmter Drogennutzer. Dass Drogen illegal sind, hat den Effekt, dass die Risiken für den Umgang damit im Gefängnis zu landen unfair verteilt sind. Es gibt hier Klassenunterschiede. Berühmte wohlhabende Sportler, Künstler und öffentliche Personen kommen selbst bei schweren Verstößen gegen die Drogengesetze meist glimpflich davon. Oliver Stone, Paul McCartney, Lawrence Taylor erhielten für diverse Vergehen nicht mehr als eine Geldstrafe oder eine reduzierte Bewährungsstrafe. Die afroamerikanische Sängerin Billie Holliday hatte weniger Glück, an ihr wurde 1947 ein Exempel statuiert und sie kam ein Jahr lang ins Gefängnis, anstatt in eine Entzugsklinik. Als ehemalige Strafgefangene verlor sie ihre Auftrittserlaubnis, weil ihre Songs die öffentliche Moral schädigen würden. Die heroinabhängige Judy Garland, die jahrelang Barbiturate und Amphetamine konsumierte, kam mit einer mündlichen Verwarnung davon. 

Keith Richards, der Gitarrist der Rolling Stones, wurde 1977 in Toronto für das Schmuggeln von 22 Gramm hochreinem Heroin vor Gericht gestellt. Die mögliche Höchststrafe dafür war lebenslange Haft. Der Staatsanwalt plädierte auf eine Haftstrafe von 6 Monaten und der Richter verhängte die Strafe auf Bewährung. Das ist auch deshalb ein ungewöhnlicher Vorgang, weil Richards bereits fünf Mal in den vorangehenden 5 Jahren für Drogendelikte verurteilt worden war, also schwer vorbestraft war.

Es spricht einiges für Legalisierung, Regulierung oder zumindest Straffreiheit. Laut Günter Amendt würden die Freigabe des Drogenhandels und die Entkriminalisierung des Konsums die Marktverhältnisse völlig umkrempeln, eine gesellschaftliche Neubewertung ermöglichen und den Status der Drogen ändern. „Kokain würde das Luxuriöse verlieren, Heroin würde das Heroische genommen. Die Aufhebung der Prohibition wäre nicht gleichbedeutend mit der Ausschaltung der Mafia“, aber es könnte deren Kapazität verringern Einfluss auf die legale Wirtschaft zu nehmen. Vor allem aber würde sie einen Weg eröffnen die zunehmende Pharmakologisierung des Alltags in den Blick zu nehmen. Kommt der War on Drugs schön langsam auch in Wien an?

Dr. Peanuts: Eine repressive Drogenpolitik hat vor allem einen Effekt – die Marginalisierung von urbanen Minderheiten wie Migrant*innen und sozioökonomisch schwachen Schichten. Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa wird der War on Drugs, eigentlich als War on Class, Race and Gender geführt. In Wien werden Schwerpunktaktionen der Polizei gegen Drogenhandel besonders in Bezirken durchgeführt, in denen es eine vergleichsweise hohe Armutsrate gibt und wo besonders viele Menschen mit Migrationsgeschichte leben, zum Beispiel im 15. und 16., aber auch im 10. und 11. Bezirk. Oft sind diese Schwerpunktaktionen auch gezielt gegen bestimmte Nationalitäten gerichtet, da wird dann in den Medien von den afgahnischen/algerischen/blablub Drogenbanden berichtet – in rassistischer Manier also. Diese Art von Ausgrenzung und Rassismus hat System und spiegelt sich nicht nur in der Drogenpolitik wider, sondern auch in der Bildung, den Chancen am Arbeitsmarkt oder dem Sozialsystem. Über die Perspektivlosigkeit, der vor allem junge Menschen in solchen Kreisen aufgrund von systematischer Diskriminierung und Marginalisierung oft ausgesetzt sind, wird leider viel zu wenig gesprochen – stattdessen werden sie selber in die Verantwortung genommen für eine Politik, die ihnen oft keine andere Wahl lässt, als sich in die Schattenwirtschaft und informelle Märkte zu begeben. All das führt dazu, wie du auch für die USA mit deinen Beispielen gezeigt hast, dass die Chancen für Drogenvergehen inhaftiert zu werden sehr ungleich verteilt sind. Fabian Grünmayer hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass die Wahrscheinlichkeit für „Migrant*innen nach dem Suchtmittelgesetz inhaftiert zu werden, fünfmal höher ist als bei Österreicher*innen“. Ebenfalls kann man die Folgen eines Drogenvergehens auch auf sozioökonomische Schichten ummünzen: Für einen Politiker wie Johann Gudenus haben Drogenvergehen andere Folgen als für den Ahmed aus dem Resselpark – das schwächt natürlich auch das Vertrauen der Menschen in die Politik.

Stefan: Wikipedia schreibt: Gegenüber der Kronen-Zeitung räumte Gudenus einen möglichen Koks-Konsum ein, bezeichnete die Angelegenheit jedoch szenetypisch als „Schnee von gestern“. Ein Strafverfahren gegen ihn sei eingestellt worden, da es sich lediglich um „Eigengebrauch“ gehandelt habe.

Dr. Peanuts: Gleichzeitig wird mit der Konzipierung von Drogenkonsum als Gefahr für die Sicherheit einer Region auch Konsens für mehr Überwachung bzw. „Law and Order“ hergestellt und das Thema für polarisierende Politik missbraucht. Der „War on Drugs“, ursprünglich in den USA initiiert, hat also tatsächlich auch Auswirkungen auf Wien und andere europäische Städte. Die Drogenprohibition hat historische Wurzeln, die oft mit sozialer Kontrolle und mit der Marginalisierung bestimmter Gruppen verbunden sind. In Wien zeigt sich dies beispielsweise durch die gezielte Kriminalisierung des in der Öffentlichkeit sichtbaren Drogenhandels, der vor allem von Menschen durchgeführt wird, die auf diese Einkommensquelle angewiesen sind. Dies betrifft insbesondere einkommensschwache Bevölkerungsschichten, die nicht die gleichen Möglichkeiten haben, sich in weniger sichtbare und damit sicherere Formen des Handels zurückzuziehen. Polizeiliche Maßnahmen richten sich oft gegen diese marginalisierten Gruppen und tragen zur Polarisierung der Gesellschaft bei, ohne die grundlegenden Probleme wie soziale Ungleichheit, Armut und Mangel an Bildung anzugehen. Damit dient die Kriminalisierung von Drogenkonsum oft dazu, von fundamentalen sozialen Problemen abzulenken und eine Politik der Ausgrenzung zu legitimieren.

Günter Amendts Konzept des „Umkrempelns der Marktverhältnisse“ verdeutlicht, wie die Drogenprohibition nicht nur illegale Märkte schafft, sondern auch legale Wirtschaftsstrukturen destabilisiert. In Wien zeigt sich dies besonders durch den Einfluss der Mafia, die durch Geldwäsche illegale Einnahmen in legale Sektoren, wie das Baugewerbe und die Gastronomie, investiert. Ein prominenter Fall aus 2018 zeigt, dass rund 37 Millionen Euro an Mafiageldern in Wien und Innsbruck investiert werden sollten, bevor sie von den österreichischen Behörden sichergestellt wurden. Diese Praktiken verzerren die Marktverhältnisse, da legale Unternehmen oft nicht mit den durch kriminelle Gelder ermöglichten Bedingungen konkurrieren können. Das führt zu einer Marginalisierung kleinerer Unternehmen und verstärkt die sozialen Ungleichheiten, indem kriminelle Netzwerke zunehmend Kontrolle über legale Märkte gewinnen.

Ein problematisches Beispiel ist auch der Einfluss großer Pharmakonzerne in den USA, die durch aggressive Vermarktung von Opioiden wie Oxycontin eine weitverbreitete Abhängigkeit bzw. Epidemien geschaffen haben, inkl. Fälschung von Studien und der Bestechung von verschreibenden Ärzten. Dies hat zu einer „Pharmakologisierung“ geführt, bei der legal verschriebene Medikamente wie Opioide massiv verbreitet sind, während gleichzeitig die Repression gegen illegale Substanzen verschärft wird. Auch in Österreich sehen wir eine ähnliche Entwicklung, wenn wir etwa an die zunehmende Verschreibung von Psychopharmaka denken. Hier wird die Ironie deutlich: Während die Gesellschaft die illegalen Märkte bekämpft, entstehen durch legale, aber missbrauchte Medikamente neue Abhängigkeiten, die oft noch zerstörerischer wirken. Benzodiazepine sind zum Beispiel unter Jugendlichen sehr weit verbreitet und richten vermutlich mehr Schaden an als illegale Substanzen.

Stefan: Es gab in Wien lange Zeit Cafés in denen man zu bestimmten Uhrzeiten Gras kaufen konnte. Es gab auch einen Eishändler in der Lobau wo das möglich war. In Österreich hat jedes Bundesland eine eigene Herangehensweise an die Problematik des illegalen Drogenkonsums. Inwiefern unterscheidet sich Wien von den anderen Bundesländern, und was ist österreichweiter Konsens?

Dr. Peanuts: Ich bin in der Nähe der Lobau aufgewachsen und könnte dazu lustige Anekdoten vom Fensterhansi oder dem Dechandinvaliden aus meiner Jugend erzählen. Ich kenne diese Phänomene also und kann mich zum Beispiel auch erinnern, dass  verschiedene psilocybinhaltige Gewächse damals noch legal erworben werden konnten, bevor sie ins Visier der Drogenpolitik geraten sind. Welche Substanzen illegal sind und welche nicht, ist also immer auch im Wandel begriffen. Neue Designerdrogen, die oftmals wenig erforscht sind, werden ja laufend auf den Markt gebracht – die Politik kommt da nur schwer hinterher. Ebenso steht es mit der Forschung, welcher es durch Prohibition natürlich erschwert wird wichtige Erkenntnisse in Bezug auf bestimmte Substanzen zu gewinnen.

Zwischen den Bundesländern variieren die Strategien und Ansätze zur Drogenpolitik teils sehr stark. Während zum Beispiel Kärnten oder Oberösterreich eine sehr restriktive Drogenpolitik fahren und auf Repression setzen, unterscheidet sich Wien durch eine eher progressive und gesundheitszentrierte Drogenpolitik, die auf vier Säulen basiert:

1) arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und soziale Reintegration,

2) Behandlung, Beratung und Betreuung,

3) öffentlicher Raum und Sicherheit, sowie

4) Suchtprävention.

Schadensminderung (Harm Reduction) ist dabei die Basis, die all diesen Bereichen zu Grunde liegt.

Das bedeutet, dass in Wien verstärkt auf Programme zur Reduktion konsumbedingter negativer Folgen für Individuum und Gesellschaft gesetzt wird, statt vorrangig auf Kriminalisierung und Repression zu setzen. Programme wie der Spritzentausch oder Substitutionsbehandlungen stehen dabei klar im Vordergrund.

Generell ist ein gesundheitsorientierter Ansatz österreichweiter Konsens. Der Grundsatz Therapie statt Strafe ist im SMG (Suchtmittelgesetz) verankert. Dennoch liegen die Kompetenzen zur Umsetzung des SMG bei den Ländern und unterscheiden sich deshalb stark. Während Wien versucht Konsumierende vor allem durch gesundheitliche Maßnahmen zu unterstützen, liegt der Schwerpunkt anderswo auf der Durchsetzung des rechtlichen Rahmens, also dem SMG – bzw. seinen repressiven und kriminalisierenden Aspekten.

Stefan: Was ist das Konzept der Harm Reduction, und wie sieht das in Wien konkret aus?

Dr. Peanuts: Harm Reduction zielt darauf ab, die negativen gesundheitlichen, sozialen und rechtlichen Folgen von Drogenkonsum zu minimieren, ohne den Konsum selbst zwangsläufig zu verhindern. Ansätze der Harm Reduction sind eine logische und humanistische Reaktion auf die Erkenntnis, dass Menschen immer Drogen konsumieren werden und eine drogenfreie Gesellschaft eine Illusion ist, die jegliche Realität und Geschichte menschlichen Verhaltens und ihrer Bedürfnisse ignoriert.

In Wien gibt es das Wiener Sucht- und Drogenhilfenetzwerk mit zahlreichen Organisationen und Institutionen, die Angebote zur Harm Reduction bereitstellen. Die Koordination und finanzielle Mittelvergabe innerhalb dieses Netzwerks, also der Träger*innen von verschiedenen Angeboten und Programmen zur Harm Reduktion, geschieht dabei durch die Wiener Sucht und Drogen Koordination.

In Wien zeigt sich zum Beispiel, dass Spritzentauschprogramme, das Herzstück der Wiener Harm Reduction, Infektionskrankheiten wie HIV oder Hepatitis eindämmen. Die Rücklaufquote des in Wien ausgegebenen Spritzmaterials liegt bei über 90% – ein Riesenerfolg, der für sich spricht.

Weitere Maßnahmen sind Substitutionsprogramme und verschiedene Therapieformen für suchtkranke Menschen, das Projekt „Checkit!“, bei dem Konsumierende ihre Drogen auf Inhalt und Reinheit analysieren lassen können. Ebenfalls gibt es zahlreiche Ambulatorien zur medizinischen Versorgung von Konsumierenden und mobile Hilfsangebote die wir auch als „Streetwork“ kennen. Bei diesen Programmen geht es klar um die praktische Reduktion von Risiken im Zusammenhang mit Konsum und nicht um die moralische Verurteilung.

Generell setzt Wien auf niederschwellige Angebote, ein Beispiel wäre das Tageszentrum Jedmayer, eine zentrale Einrichtung in Wien, die als Anlaufstelle für Konsumierende dient. Betroffene können sich hier ohne Vorbedingungen über Unterstützungsangebote informieren und diese in Anspruch nehmen. Das Zentrum bietet sauberes Spritzbesteck und mittlerweile sogar die ersten Versuche sichere Drogenkonsumräume bereitzustellen – im Moment allerdings nur für legale Drogen, also meistens Substitutionsmedikamente, die intravenös, unter Aufsicht, konsumiert werden können. Sichere Drogenkonsumräume sind ein wichtiger Schritt einer gesundheitsorientierten und progressiven Drogenpolitik, jedoch brauchen wir diese für den Konsum von allen Suchtmitteln, unabhängig von ihrem legalen Status. In der Umsetzung ist dies allerdings schwierig, da Institutionen und Träger*innen, die solche Räume zur Verfügung stellen, sich damit in Konflikt mit dem SMG begeben. Die Kriminalisierung von bestimmten Substanzen bleibt damit also weiterhin ein großes Problem innerhalb der Wiener Drogenpolitik.

Stefan: Wenn es um Schadensminimierung geht, gibt es im österreichischen Suchtmittelrecht den Grundsatz „Therapie statt Strafe“, den du vorher bereits erwähnt hast. Wie wirkt sich das auf die strafrechtliche Praxis aus?

Dr. Peanuts: Der Grundsatz Therapie statt Strafe hat signifikante Auswirkungen auf die strafrechtliche Praxis und stellt den wichtigsten Grundsatz zur Schadensminderung im SMG dar. Der Grundsatz ermöglicht es, Personen die nach dem SMG straffällig geworden sind eine Therapie zu machen, anstatt ins Vollzugssystem eingegliedert zu werden. Das entlastet nicht nur unser Strafjustizsystem, sondern gibt Betroffenen in manchen Fällen auch die Chance ihr Leben zu verändern. Aber – und das ist ein großes ABER – Zwangstherapie ist dabei kontraproduktiv weil dadurch die Stigmatisierung von Konsumierenden gefördert wird und Therapie nur dann wirklich gut funktioniert, wenn sie auf Freiwilligkeit basiert.

Stefan: Ich denke, es ist auch ein Zwang dahinter, wenn die Alternative zur Therapie das Absitzen einer Gefängnisstrafe ist. Mit allen Folgen die ein Aufenthalt im Gefängnis mit sich bringt und darüber hinaus das persönliche Ansehen, das Berufsleben. Dennoch werden Drogenvergehen sehr hart bestraft und führen sehr oft zu Verurteilungen und Gefängnisstrafen. Zwischen 1980 und 2000 wurden alleine in der Stadt New York 125.000 Menschen für kleinere Drogendelikte eingesperrt. Der überwältigende Großteil davon kleine Dealer. Anfang der 1970er Jahre waren in den gesamten USA 200.000 Menschen im Gefängnis, Stand 2009 sind es 1,8 Millionen. Mehr als die Hälfte der Gefängnisse und Verwahrungsanstalten in den USA sind, Stand 2009, in den letzten 20 Jahren errichtet worden und haben eine eigene wirtschaftliche Dynamik entwickelt indem es zu einem der größeren Arbeitgeber des Landes angewachsen ist. Die Errichtung eines Gefängnisses ermöglicht die Schaffung von hunderten Arbeitsplätzen in Regionen, in denen es nur schwer ist Arbeit zu erhalten. Das Problem dabei ist, dass empirische Belege darauf hinweisen, dass Gefängnisstrafen nicht davon abhalten Drogen zu konsumieren oder zu verkaufen. Darüber hinaus ist der soziale Faktor nicht zu unterschätzen. Der Entzug von einer Droge ist unter den richtigen Bedingungen durchaus möglich, aber von einer Gefängnisstrafe erholen sich die meisten, was ihre gesellschaftliche Stellung betrifft, nie wieder.

Dr. Peanuts: Die Gefängnisindustrie, die sich da in den USA herausgebildet hat, ist natürlich erschreckend und zeigt die drastischen Auswirkungen einer auf Strafen fokussierten Drogenpolitik auf. Es kann nicht sein, dass mit der Zunahme an Repression bei Drogenvergehen ein regelrechtes Businessmodell geschaffen wird, das von der Kriminalisierung und Inhaftierung, vor allem von Menschen aus marginalisierten Gruppen, profitiert. Wenn, wie in den USA, Gefängnisse teils von privaten Unternehmern geführt werden, die der Profitlogik des Kapitalismus folgen, ergibt sich daraus natürlich ein absurder Widerspruch: Mehr Insassen = mehr Geld und bessere Aktienkurse für die Betreiber, das heißt die Wiedereingliederung und Rehabitilation von Betroffenen oder aus ökonomischer Not dealenden Menschen, die eigentlich als Gesellschaft das Ziel sein sollte, steht der wirtschaftlichen Logik dieses Systems entgegen. Außerdem glaubt doch nicht ernsthaft jemand, dass Gefängnisse ein guter Ort sind, um eine Drogensucht zu überwinden, unterstützende Personenkreise zu finden, oder Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen, die dabei helfen, gesellschaftlich wieder Fuß zu fassen. Leiden tun darunter meist Menschen, die so oder so schon schlechte Startbedingungen für ein gutes Leben haben und damit auf ihren Platz am unteren Ende der sozialen Hierarchie verwiesen werden. Und so schließt sich auch wieder der Kreis des War on Drugs, der als Klassenkampf von oben geführt wird.

Der Grundsatz „Therapie statt Strafe“ soll in Österreich eigentlich genau das verhindern, dass Menschen wegen kleinerer Vergehen in ein System geraten, das sie dauerhaft stigmatisiert und ihre Chancen auf ein normales Leben erheblich einschränkt. Gefängnisstrafen, das zeigt die Empirie, wirken kaum abschreckend auf den Drogenkonsum oder -handel. Vielmehr tragen sie dazu bei, dass Menschen in einem Teufelskreis aus Kriminalisierung und sozialer Ausgrenzung gefangen bleiben. Die sozialen und beruflichen Konsequenzen einer Haftstrafe sind enorm und oft schwerer zu überwinden, als die eigentliche Abhängigkeit. Daher ist es wichtig, dass wir in Österreich weiterhin auf präventive und rehabilitative Maßnahmen setzen und dabei die Entkriminalisierung und die Freiwilligkeit der Therapie als zentrales Element einer menschlichen Drogenpolitik in den Vordergrund stellen. Denn der Zwangsaspekt der Therapie bleibt auch in Österreich problematisch. Wie du richtig anmerkst, steht die Wahl oft zwischen Therapie und Gefängnis, was tatsächlich eine Art von Nötigung bedeutet – selbst wenn die Therapie die „bessere“ Alternative darstellt.

Stefan: Kannst du ein paar Programme vorstellen, die von der Stadt Wien in diesem Zusammenhang initiiert worden sind?

Dr. Peanuts: Das Tageszentrum „Jedmayr“ habe ich ja bereits oben ein bisschen ausgeführt. Ebenfalls gibt es den Verein „Dialog“, der niederschwellige Beratung und Unterstützung anbietet. Das „Neunerhaus“ bietet ähnliche Angebote und ist speziell für obdach- und wohnungslose Konsument*innen wichtig.

In den letzten Jahren wurden zum Beispiel auch das Take-home-Nalaxon-Projekt initiiert, dabei werden im „Jedmayr“ Schulungen angeboten und Nalaxon-Kits zur Reduktion drogenbezogener Todesfälle durch Überdosierung ausgegeben. Ebenfalls sind kostenlose Hepatitis A/B-Impfungen ein wichtiger Bestandteil der Harm Reduction-Strategie Wiens. Positive Entwicklungen sieht man auch im Bereich der niederschwelligen psychotherapeutischen Angebote, wo die ersten Pilotprojekte 2019 starteten.

Stefan: Zum Begriff der Überdosierung eine Anmerkung, die nicht darauf abzielt Drogenkonsum zu verharmlosen! Carl Hart weist aber darauf hin, dass die Gefährlichkeit der Drogen aus den Lebensumständen resultieren und nicht nur aus ihrem Konsum. Es hängt von der Dosierung (Menge und Stärke der angewandten Droge), der „route of administration“ (die Art wie die Droge eingenommen wird und wie schnell sie das Gehirn erreicht), dem Set (den persönlichen Charakteristika und körperlichen Voraussetzungen der Drogen konsumierenden Person), sowie dem Setting (der Umgebung in der die Person die Drogen konsumiert) ab, wie gut die Droge vertragen wird. Nur ein Viertel der Tode, die durch Opioide ausgelöst werden, entsteht durch die Einnahme einer Überdosis. Die Hauptauslöser für tödlichen Drogenkonsum sind kontaminierte Drogen oder die Kombination mit anderen Drogen, von denen Alkohol die häufigste ist.

Dr. Peanuts: Ein besonders interessantes Beispiel ist das Projekt „Scanner“, eine internationale Kooperation zwischen „Checkit!“ und anderen Drug-Checking-Einrichtungen. Ziel dieses Projekts ist es, fundierte Erkenntnisse über die Dynamiken und Auswirkungen neuer psychotroper Substanzen zu gewinnen, insbesondere im Hinblick auf den Handel über Online-Drogenmärkte. Während die Wiener Drogenpolitik sehr effektiv auf die Herausforderungen reagiert hat, die beispielsweise mit dem intravenösen Konsum von Opiaten verbunden sind, scheint es, als würde sie den neuesten Entwicklungen noch hinterherhinken. Eine wichtige Frage ist, wie jüngere Drogenkonsument*innen besser erreicht werden können. Welche Substanzen konsumieren sie? Wie werden diese konsumiert und beschafft? Dies sind zentrale Punkte, die in der aktuellen Wiener Drogenpolitik stärker berücksichtigt werden sollten.

Stefan: Günter Amendt hat auf die Widersprüche des aktuellen Drogenrechtsregimes hingewiesen. Eine drogenfreie Gesellschaft ist nicht möglich, aber die Prohibition verursacht mehr Schaden als Nutzen. Zahlen der American Civil Liberties Union (ACLU) legen nahe, dass, obwohl Caucasians und African-Americans beinahe gleich oft Marihuana konsumieren, 3,73-mal so viele African-Americans dafür im Gefängnis landen. Paula Mallea leitet daraus ab, dass die Gesetze zur Drogenprohibition in den USA als Mittel der sozialen Kontrolle verwendet werden. 1995 war die Ratio der Bestrafung zwischen Kokain und Crack um ein Hundertfaches unausgeglichen, obwohl es sich bei den beiden Rauschmitteln, von ihrem Grundstoff (Kokain) her, um ein und dieselbe Droge handelt. Crackkonsumenten mussten mit einem hundertmal höheren Strafmaß rechnen als Kokainkonsumenten. Mit dem Fair Sentencing Act 2010 wurde diese Ratio auf 18:1 gesenkt, sie ist aber weiterhin ungerecht, vor allem, wenn man bedenkt, dass Kokain eine Droge der Wohlhabenden und Crack die Droge der Armen ist. Die überwiegende Mehrheit der Crack-Konsumenten in den USA besteht aus African-Americans mit niedrigem Einkommen, die bereits längere Zeit vom Arbeitsmarkt abgeschnitten sind.

Dr. Peanuts: Wer welche Substanzen konsumiert und/oder dealt und welche Konsequenzen das hat, ist eben auch in Wien kein Zufall, sondern Ergebnis von struktureller Diskriminierung und einer tief in der Gesellschaft verankerten Klassenjustiz. Es hätte uns wohl alle sehr gewundert, wenn es nach Ibiza ernstzunehmende Konsequenzen für Strache oder Gudenus im Zusammenhang mit Kokain gegeben hätte. Während Drogenvergehen bei Eliten oft als Kavaliersdelikte abgehandelt werden, werden sie bei Migrant*innen oder ärmeren Bevölkerungsschichten für rassistische und klassistische Politik missbraucht. Man kann Drogenprohibiton also auch aus der Perspektive betrachten, dass sie gezielt eingesetzt wird, um bestimmte Bevölkerungsgruppen zu überwachen, zu unterdrücken und zu marginalisieren – im Sinne von sozialer Kontrolle eben. Daher sollte es wohl eher „Keine Macht der Repression“ heißen, als „Keine Macht den Drogen“.

Stefan: Kann in Wien eine Legalisierung umgesetzt werden, und würde sie eine Verbesserung darstellen?

Dr. Peanuts: Eine Legalisierung könnte in Wien tatsächlich viele Probleme lösen. Die Prohibition hat enorme negative Folgen: verunreinigte Drogen, Stigmatisierung, Kriminalisierung der Konsumierenden und dadurch eine immense Belastung für das Justizsystem, mit hohen finanziellen Kosten – Geld, das in Prävention, Aufklärung und gesundheitlichen Maßnahmen besser aufgehoben wäre. Eine Legalisierung würde den Konsum nicht eliminieren, aber sie würde ihn sicherer machen. Dabei geht es nicht darum, Konsum zu fördern, sondern einen bewussten Umgang mit Drogen zu ermöglichen, Risiken zu minimieren und den Zugang zu Hilfe zu erleichtern. Allerdings bräuchte es dazu eine Gesetzesänderung und ein Umdenken auf Bundesebene – und da sind wir leider noch nicht.

Und apropos Legalisierung: Die Zahlen zeigen, dass die Sterberaten durch legale Drogen wie Alkohol und Tabak weit höher sind, als durch illegale Substanzen. Wir sollten also genau hinschauen, wo die wirklichen Probleme liegen. Und wer weiß – vielleicht muss ich mir mein Päckchen Nikotin ja irgendwann auch im Darknet kaufen – aber das wäre wohl eine eher traurige Zukunftsvision.

[Teile meiner Antworten sind meinem gerade entstehenden Buch „Konstellationen der Ungleichheit. Digitaler Kapitalismus und Drogenökonomie“ entnommen. Die Literatur-Nachweise werden dort nachzulesen sein.]

Drogenkrieg in den Medien. Ein Gespräch mit Antonia Kaufmann über die Zukunft des Drogenkonsums und die Berichterstattung darüber

Stefan: In den Medien wird viel über den „Drogenkrieg“ berichtet. Es geht auch um die „Drogenszene“ und die „Drogensüchtigen“. Inwiefern wird diese Diktion der Problematik gerecht?

Antonia: Die von dir genannten Stichwörter „Drogenkrieg“, „Drogenszene“ und „Drogensüchtige“ beeinflussen den Diskurs um die Handhabung von Suchtmitteln in den Medien in dem Sinne, dass sie meist nicht in einem neutralen Zusammenhang genannt werden bzw. keine neutrale Konnotation aufweisen und somit ein verzerrtes oder vereinfachtes Bild der Suchtmitteldebatte bei dem/der Leser:in verursachen können. Der gesamte Diskurs um Suchtmittel ist sehr komplex und wird meiner Meinung nach aktuell in den Medien nicht gerecht wiedergegeben. Das ist aber eventuell auch gar nicht möglich, da die Medienberichterstattung in der Debatte um die Drogenszene meist dazu neigt, zu dramatisieren, um durch die eigenen verbreiteten Inhalte Aufmerksamkeit generieren zu können. Manchmal kann eine solche Herangehensweise zu einer Sensationalisierung führen, die den zugrundeliegenden Problemen, welche den Suchtmittelkonsum bzw. -vertrieb antreiben, keine Beachtung schenkt. Eine solch einseitige Darstellung führt dann auch meist zu einer Stigmatisierung, welche von bestimmten Medien aktiv im Diskurs eingesetzt und durch bestimmte Wörter und Phrasen (bspw. „Junkies“) verstärkt wird, was wiederum zu einer gesellschaftlichen Marginalisierung von Suchtkranken führt.

Neben dieser Sensationalisierung und Stigmatisierung der Inhalte werden die aktuellen Probleme im Suchtmittelmilieu zudem meist sehr vereinfacht dargestellt und neigen meist dazu, sich vor allem auf negative Auswirkungen auf die Gesellschaft zu konzentrieren.

In meiner Recherche zur Berichterstattung über die Legalisierung von Cannabis in Deutschland konnte ich hingegen eine sehr ausgeglichene Abbildung des Meinungsbilds innerhalb der österreichischen sowie deutschen Medienlandschaft erkennen. Während mehrmals die Befürchtung der Überlastung des Justizsystem durch die kontrollierte Freigabe oder die Befürchtung vor einer verstärkten organisierten Kriminalität durch die Legalisierung thematisiert wurde, kamen in mehreren Artikeln auch der durch die Freigabe forcierte Schutz der Bevölkerung bzw. die Themen Suchtprävention, Jugendschutz und die Eindämmung des Schwarzmarkts zur Sprache. Ich kann mir diesen Unterschied vor allem damit erklären, dass die Legalisierung von Cannabis bereits allein im ausgewählten Wording und Framing einen Gegensatz zu aufgeladenen Stichwörtern wie „Drogenkrieg“ bildet und somit auch medial anders transportiert wird. Weiters geht es in der von mir untersuchten Berichterstattung zudem um ein neues Gesetz, welches (auf Wunsch der Regierungsparteien) Anklang in der deutschen Gesellschaft finden soll und daher eventuell auch eher neutral/positiv dargestellt wird.

Jedoch bin ich auch der Meinung, dass die gesamte Diktion im medialen Diskurs, egal ob Cannabis oder Crack, es verabsäumt, den tatsächlich Betroffenen (bspw. Suchtmittelkranken oder auch Familienangehörigen etc.) Raum zu geben, die eigene individuelle Geschichte zu erzählen. Diese fehlenden Perspektiven und Stimmen würden einen wichtigen Beitrag in einer neutralen und aufklärenden Berichterstattung leisten und hätten die Macht, die Diktion in den Medien Step für Step zu verändern.

Stefan: Was ist eine Drogenpanik? Gibt es dafür historische Beispiele?

Antonia: Der Begriff „Drogenpanik“ wurde vom US-amerikanischen Soziologen und Rechtswissenschaftler Craig Reinarman (2007) definiert und benennt ideologisch konstruierte, moralische Paniken, welche u. a. von Massenmedien beeinflusst sowie geprägt sind. Es handelt sich dabei also um rein soziale Konstruktionen, die nach Reinarman (2007) immer sieben bedeutende Merkmale enthalten:

  1. alle gesellschaftlich produzierten Drogenängste haben einen realen Anlass, welcher von/in der Gesellschaft als ein tatsächliches Problem anerkannt werden;
  2. die Massenmedien tragen eine bedeutsame Rolle in der Dramatisierung, Aufbauschung oder auch Verbreitung des erkannten Problems;
  3. sowohl wirtschaftliche als auch politische Eliten nutzen den Drogendiskurs für die Durchsetzung ihrer Eigeninteressen (bspw. finanzieller Profit);
  4. professionelle Interessensverbände versuchen die öffentliche Definition des Problems zu beeinflussen und erheben den Anspruch, entsprechende Lösungsansätze aufzustellen, die der eigenen Ideologie entsprechen;
  5. für die Entstehung von Drogenpaniken ist auch immer der historische Kontext, also die Stellung der im jeweiligen Land dominierenden Konflikte und Spannungen, von großer Bedeutung, da Konsument:innen von Suchtmitteln so von unterschiedlichen Seiten als potenzielle Gefahr geframed werden können;
  6. Meinungsführer:innen stellen eine „Verbindung“ zwischen einem Suchtmittel und einer am Rand der Gesellschaft stehenden Konsument:innengruppe dar, aus dem dann ein „gesamtgesellschaftliches Drogenproblem“ konstruiert wird;
  7. Drogen werden meist als Sündenböcke der bereits zuvor existierenden gesellschaftlichen Probleme verantwortliche gemacht, um der Bevölkerung eine simplifizierte Erklärung präsentieren zu können, welche alleinig die Suchtmittel und sozial ausgestoßene Individuen als Verursacher:innen eines weitaus komplexeren Netzes an gesellschaftlich-sozial-politischen Problemen identifiziert.

Die erste „Drogenpanik“ entsteht laut Craig Reinarman im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der zunehmenden Verbreitung von Alkohol als Genussmittel. Darauf folgte die Prohibition in den USA – also das landesweite Verbot von Herstellung, Transport und Verkauf von Alkohol. Weitere historische Drogenpaniken werden von Reinarman im Diskurs um die Suchtmittel Opium, Marihuana und Crack beschrieben. Dabei wurden all diese Suchtmittel bereits Jahrzehnte und Jahrhunderte vor der Entfachung der jeweiligen Drogenpanik konsumiert, allein die Gruppe der von der Gesamtgesellschaft wahrgenommenen Konsument:innen hatte sich verändert. Im Zuge einer Drogenpanik verändern sich also nicht grundlegend die Konsumgewohnheiten innerhalb der Gesellschaft, sondern primär der Darstellungsrahmen.

Stefan: Wie wird in den Medien über Drogen berichtet? Da gibt es sicher auch Unterschiede je nach Thema: Drogenkonsum, Drogenhandel oder Drogensucht.

Antonia: Im aktuellen Diskurs um die Legalisierung von Cannabis in Deutschland habe ich in meiner Recherche feststellen können, dass sowohl der Konsum als auch der Handel von, in diesem Fall Cannabis, im Zuge der Legalisierungsdebatte in den Medien stark aufgegriffen wurden und eine Legalisierung von den Medien oftmals als Problemlösung für illegalen Drogenkonsum und -handel angesehen wird bzw. darüber in den Medien diskutiert wurde. Beiden Stichwörtern kommt im Diskurs oftmals eine eher neutrale Konnotation zu, da man den illegalen Charakter durch die aktuelle Gesetzesänderung an die gesellschaftliche Norm anpassen möchte. Die gesamte mediale Debatte ermöglicht der Bevölkerung einen „frischen“ Zugang zu den Begriffen „Drogenkonsum“ und „Drogenhandel“, da diese durch eine Legalisierung frei von negativer Konnotation werden und somit der Gesellschaft zugänglicher gemacht werden. Die Einordnung der vier Betrachtungsweisen von Drogenkonsum in der Geschichte der Drogenpolitik ist laut Dollinger und Schmidt-Semisch (2007) an dieser Stelle eine interessante Einordnung, da Drogenkonsum demnach verstanden werden kann als:

  • kulturell reguliertes bzw. zu regulierendes Phänomen, das allgemein akzeptiert und (in bestimmten Situationen) erwünscht ist (Kultivierung);
  • unerwünschtes Verhalten, das aber in der Verantwortung des Einzelnen steht (Akzeptanz);
  • Krankheit, die behandelt werden kann/muss (Pathologisierung);
  • Verbrechen, das es mit Freiheits-/Geldstrafen zu ahnden gilt (Kriminalisierung).

In den von mir untersuchten Medien konnte ich sowohl den Kultivierungs- als auch den Akzeptanzansatz von Cannabiskonsum und -handel erkennen.

Anders sah es im Zuge meiner Recherche jedoch mit dem Begriff „Drogensucht“ aus. Über Sucht wurde im Diskurs der Legalisierung von Cannabis in den von mir untersuchten Medien nur sehr wenig berichtet und wenn, dann handelte es sich meist um Kritik an der Legalisierung und um eine „Gefahr“, der die Gesamtbevölkerung ausgesetzt wird und vor welcher man sie schützen müsse (z. B. indem man bzw. der Gesetzgeber entsprechende Maßnahmen implementiert). In diesem Zusammenhang werden also eher die Ansätze der Pathologisierung und Kriminalisierung verwendet.

Stefan: Das Bedürfnisdas „Volk“ zu „schützen“ scheint dem Gesetzgeber am stärksten im Fall des Drogenmissbrauchs umzutreiben. Beim In-den-Tod-Schicken von Soldaten sind die meisten Staaten da nicht ganz so zimperlich.

Christine Graebsch hat einen luziden Text über die Rechtstheorie der Drogenprohibition geschrieben. Das deutsche Opiumgesetz von 1920 hat mit dem Betäubungsmittelgesetz von 1971 gemeinsam, dass der Zweck des Drogenverbotes als „Schutz der Volksgesundheit“ angegeben wird. Das soll erreicht werden, indem jeglicher Umgang mit den im Gesetz aufgelisteten Substanzen unter Strafe gestellt wird. Das ist insofern bemerkenswert, als dass in der sonstigen verfassungsrechtlichen Literatur und Rechtsprechung „paternalistischer Schutz des sich freiverantwortlich selbst schädigenden Individuums weithin abgelehnt wird“. Das liberale Recht spricht uns zu uns krank- und totzuarbeiten und gesundheitsgefährdende Berufe und Arbeitsbedingungen (Nachtarbeit, Schichtdienste, Arbeit mit gefährlichen Substanzen, körperliche Schwerarbeit) zu akzeptieren. Diese werden manchmal durch monetäre Anreize, Stichwort: Überzahlung für Schwerarbeit, abgegolten. Es ist erlaubt Extremsport mit erheblichem Unfallrisiko zu betreiben, täglich übermüdet mit Fahrrad und Auto in die und aus der Arbeit zu fahren, Kriegsdienst zu leisten, und Suizid zu begehen, aber beim Drogenkonsum wird es offenbar ernst.

Graebsch nimmt sich den Cannabis-Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts von 1994 vor. Der Begriff der Volksgesundheit kommt darin nicht vor, aber der Wille „die menschliche Gesundheit sowohl des einzelnen wie der Bevölkerung im Ganzen vor den von Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren zu schützen und die Bevölkerung, vor allem Jugendliche, vor Abhängigkeit von Betäubungsmitteln zu bewahren“. Dies soll ein „drogenfreies soziales Zusammenleben ermöglichen“. Ein Recht auf burnoutfreies Arbeitsleben gibt es dagegen noch nicht. Das deutsche Bundesverfassungsgericht argumentiert mit einem dem Konsum innwohnenden antizipierbaren Fremdverletzungspotential, das daraus resultiert, dass jeder Konsument seine Drogen auch in Umlauf bringen könnte. Warum in privaten Haushalten in denen Kinder leben grundsätzlich Alkohol in unbegrenzten Mengen gelagert und konsumiert werden darf, warum dort geraucht werden darf, das darf man sich angesichts dieser Argumentation sicherlich fragen. Es ist jedenfalls eine sonderbare Herangehensweise, dass die Kriminalisierung von Erwerb und Besitz von illegalen Drogen zum Eigenkonsum deshalb verboten sein soll, weil es die Möglichkeit gibt, dass man sie an schützenswerte Andere weitergibt. „[E]ine Verdachtsinkriminierung, die dem Schuldprinzip widerspricht.“

Der dieser Möglichkeit zur Verdachtsinkriminierung implizit zugrundeliegende Begriff der Volksgesundheit ist „ein konturloses Rechtsgut, das in der NS-Zeit darauf angelegt war, die ‚Reinheit der Rasse‘ zu bewahren“. Dadurch soll ein „Interesse der Allgemeinheit an der Verhinderung von Gesundheitsbeinträchtigungen des*der Einzelnen konstruiert“ werden. Und auch heute noch wird es „in Zusammenhang mit dem Schutz vor der Verbreitung von Infektionskrankheiten und im Lebensmittelrecht herangezogen“. Immer kommt darin eine Sorge um die individuelle Gesundheit zum Ausdruck, die wie ein Allgemeingut rechtlich gesichert werden soll. Diese Rechtsgutbeschreibung der allgemeinen Sorge um die Volksgesundheit bezieht sich explizit nicht auf alle gesundheitsgefährdenden gesellschaftlichen Praktiken, sondern auf den Konsum illegaler Drogen und nimmt „die Arbeitskraft und Produktivität von Bürger*innen als Maßstab für deren Gesellschaftsnützlichkeit“. Die Gesundheit Einzelner wird juristisch „kollektiviert“ und einer „wirtschaftlichen Nützlichkeitserwägung“ unterzogen. „(D)em herangezogenen Gesundheitsbegriff entgegenstehende und ebenfalls kollektiv verankerte Bedürfnisse nach Entspannung, Rausch, Irrationalität, Vergemeinschaftung ohne Wirtschaftlichkeitsbezug etc. werden dahinter rechtsdogmatisch zum Verschwinden gebracht.“

Ich habe das Gefühl, es geht bei der Drogenberichterstattung noch sehr viel um die Befriedigung von Sensationsgelüsten beim Publikum und das hat vor allem in Deutschland und Österreich eine gewisse Tradition. Die Nürnberger Rassegesetze von 1935 und die Einführung des arischen Ahnenpasses stellten die „Reinheit des Blutes“ in den Mittelpunkt der Verfolgungspolitik im Nazi-Reich. Hier sieht Ohler eine „Schnittstelle zwischen antisemitischer Hetze und Antidrogenpolitik“ in der „Juden und Drogen […] zu einer toxischen oder infektiologischen Einheit“ (ebda.) verschmolzen, die das gesunde deutsche Volk durch Verunreinigung bedrohte. Der „marxistisch-jüdische“ Einfluss der hinter der Vorstellung vermutet wurde, dass Menschen ihren Körper und ihre Gesundheit selbst besitzen könnten und also selbst entscheiden mit welchen Drogen man sich berauschen wollte, stand für die Nazis die „germanisch-deutsche“ Auffassung entgegen, dass der Körper der Einzelnen dem Volk gehört. Während Drogen wie Cannabis, Morphin und Kokain geächtet waren, wurde die Entwicklung synthetischer Stimulanzien forciert. Die Konzerne Merck in Darmstadt, Bayer im Rheinland oder Boehringer Ingelheim profitierten stark und können ihr Geschäft bis heute weitgehend bruchlos fortführen. Für die Behandlung des Volkskörpers wurden Metamphetamine im industriellen Maß hergestellt. Das Indikationsfeld, also die Anwendung der Drogen, ging von Geburtshilfe, Seekrankheit, Höhenangst, Heuschnupfen, Depression, und Hirnstörungen. Gleichzeitig wurde der öffentliche Hass auf Drogenkonsumenten geschürt, die sich nicht an den „Volksdrogen“ berauschten. „Wer Drogen konsumierte, litt unter einer ‚Auslandsseuche‘. Rauschmittelhändler wurden als skrupellos, gierig oder fremdvölkisch hingestellt, Drogenkonsum als ‚rassisch minderwertig‘ und sogenannte Rauschgiftkriminalität als eine der größten Bedrohungen der Gesellschaft“ bezeichnet. Diese Diktion im Umgang mit Drogen hält sich in einer ähnlichen Weise bis heute. Richard Nixon wird folgendes Zitat zugeschrieben: ‚Every one of the bastards that are out for legalizing marijuana is jewish.‘“ (zitiert nach Tom Feiling: The Candy Machine 35)

Antonia: Das von dir hier angesprochen Framing, welches von den Nazis verwendet wurde, um den Konsum bestimmter Suchtmittel in der Gesellschaft zu normalisieren und andere Substanzen als eine „Verunreinigung des deutschen Volkes“ darzustellen, finde ich sehr interessant. Diese quasi-ideologische Interpretation des Drogenkonsums bedarf sicherlich einer eigenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Welche Zusammenhänge siehst du in den von dir aufgelisteten Fakten und dem aktuellen Umgang mit Suchtmitteln und Drogen? Welche Fortschritte haben wir als Gesellschaft in diesem Diskurs seit dem zweiten Weltkrieg gemacht?

Stefan: Da muss ich etwas weiter ausholen. Legalität bedeutet Rechtmäßigkeit. Man kann von einer legalen Handlung sprechen, wenn sie überprüfbar auf rechtlicher und gesetzlicher Grundlage erfolgt. Es können aber zwischen dem geschriebenen Gesetz, der dementsprechend legalen Handlung und den jeweiligen Vorstellungen über Gerechtigkeit Spannungen auftreten, die Fragen nach der Legitimität, also der inhaltlichen Rechtmäßigkeit dieser Handlung aufwerfen.

Illegalität bezeichnet einen Verstoß gegen geltendes Recht. Illizität bezeichnet eine Handlung am Rande der Legalität, die gerade noch durch das Gesetz gedeckt ist, sich aber bereits in den Bereich der Illegalität hinbewegt oder zwar vollständig legal, aber ethisch verwerflich ist.

Die Begriffsklärung der europäischen Drogenbeobachtungsstelle von 2023 beschreibt Legalisierung als einen Vorgang, der eine Handlung die zuvor verboten war, rechtmäßig macht. Im Fall von Drogen bedeutet es, dass alle strafrechtlichen und nichtstrafrechtlichen Sanktionen betreffend den Besitz oder Konsum abgeschafft werden.

Entkriminalisierung bedeutet die Aufhebung des strafrechtlichen Status für ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Handlung. Drogen werden aber weiterhin beschlagnahmt und nicht-strafrechtliche Sanktionen weiterhin verhängt. Entkriminalisierung bezieht sich in der Regel auf den persönlichen Besitz oder Konsum der Drogen. Verkauf und Angebot bleiben strafrechtlich relevant.

Straffreiheit dagegen würde bedeuten, dass Strafverfahren ohne Verhängung einer Strafe eingestellt werden, weil sie etwa als geringfügig eingestuft werden, oder deren Verfolgung nicht im öffentlichen Interesse liegt.

Regulierung liegt dann vor, wenn Anbau, Vertrieb und Verkauf von Drogen durch Lizenzen geordnet werden. Damit verbunden können auch Bestimmungen, wie Altersgrenzen für den Erwerb und Konsum sein. Verstöße gegen diese Bestimmungen können strafbar sein, oder auch nicht.

Es gibt zur Legalisierung von Drogen verschiedenste Ansätze die sich mit unterschiedlichen Argumentationen für oder gegen die Legalisierung aussprechen. Ein wichtiges Argument für die Legalisierung ist das Recht der Individuen auf Selbstbestimmung. Ein mündiger Mensch sollte die Freiheit haben sich für oder gegen den Drogenkonsum aufgrund ausreichender Information und sicherem Zugang zu entscheiden. Dafür spricht, dass der Konsum trotz Prohibition in großem Ausmaß stattfindet. Dagegen kann eingewendet werden, dass damit der Einstiegskonsum verstärkt wird. Vergleichbar mit Alkohol und Zigaretten könnte eine Legalisierung ohne starke flankierende politisch-institutionelle Maßnahmen dazu führen, dass bereits sehr junge Menschen zu starken Drogen greifen. Ein wirksamer Jugendschutz kann jedenfalls nur durch engmaschige staatliche Kontrollen und begleitende Projekte, sowie wirkungsvolle suchtpräventive und -begleitende Maßnahmen garantiert werden. Aus kriminologischer Sicht kann man feststellen, dass die Prohibition den Konsum kaum beschränkt, sondern hauptsächlich zu einer Kriminalisierung der Konsumenten und Prekarisierung des Konsums führt.

Grundsätzlich verhält es sich aber so, laut Hans Joachim Jungblut, dass die internationalen Konventionen zum Drogenhandel und Konsum zwar einen Einfluss auf die nationalen Gesetzgebungen haben und „prohibitive Rahmenbedingungen konstituieren“. „Sie sind aber nationalspezifisch auszuformulieren. Dies bedeutet, […] dass Spielraum zur sinnhaften Ausgestaltung einer schadensreduzierenden Drogenpolitik besteht. Insofern die prohibitive Drogenpolitik und ihre drogenrechtliche Kristallisation Inkonsistenzen und Vermittlungsprobleme u. a. mit grundgesetzlichen Regulierungen beinhaltet, besteht Anlass, diesen Raum auszufüllen.“ Die aus den Konventionen abgeleitete Verpflichtungen müssen „im Einklang mit der jeweiligen Verfassung eines Mitgliedsstaates“ sein. Der Staat hätte Spielraum dafür Institutionen zu schaffen die Qualität und Reinheit von Betäubungsmitteln garantieren und Risiko mindernde Strategien des Gebrauchs vermitteln. Diesen Spielraum hat gerade Deutschland genutzt um Cannabis zu legalisieren. Die deutsche Bundesregierung will damit erreichen, dass der illegale Cannabis-Markt eingedämmt, die Qualität von Cannabis besser kontrolliert, die Weitergabe von verunreinigten Substanzen verhindert und damit zu einem verbesserten Gesundheitsschutz beigetragen werden kann. Dafür soll mehr für Aufklärung und Prävention getan und der Kinder- und Jugendschutz gestärkt werden. Das Gesetz sieht vor, dass Erwachsene in begrenzten Mengen privat (bis zu drei Pflanzen) oder – ab dem 1. Juli 2024 – in nicht-gewerblichen Vereinigungen Cannabis anbauen dürfen. Über diese Anbauvereinigungen darf Cannabis an Erwachsene zum Eigenkonsum kontrolliert weitergegeben werden. Cannabissamen dürfen aus EU-Mitgliedsstaaten zum Zwecke des privaten Eigenanbaus eingeführt werden. Ein Erwerb über das Internet und der Versand nach Deutschland sind zulässig. Die Einfuhr von Cannabis aus dem Ausland nach Deutschland bleibt hingegen verboten. Der Besitz von bis zu 25 Gramm getrocknetem Cannabis ist nun straffrei. Dies gilt für den öffentlichen Raum. Für den privaten Raum gilt die Grenze von 50 Gramm getrocknetem Cannabis. Es gibt ein allgemeines Werbe- und Sponsoringverbot für Konsumcannabis und für Anbauvereinigungen. Für Minderjährige bleibt der Besitz von Cannabis nach wie vor verboten. Zudem bestehen Sonderregelungen für junge Erwachsene – mit geringeren Abgabemengen und reduzierten THC-Gehalten. Der öffentliche Konsum von Cannabis ist beschränkt. So gilt zum Beispiel ein Konsumverbot in Fußgängerzonen von 7 bis 20 Uhr.

Als positive Auswirkungen der Legalisierung von Cannabis gelten, in Hinblick auf Länder in denen die Legalisierung schon länger beobachtbar ist (USA, Canada), laut Hoch und Preuss, ein Zuwachs an Steuereinnahmen sowie ein Rückgang des illegalen Marktes, auch wenn gerade die Besteuerung des legalen Marktes dem illegalen Markt Vorteile verschafft und er deshalb durch diese Maßnahme nicht ganz verschwinden wird. Auf der anderen Seite gibt es eine Zunahme im Konsum der Droge und bei den Cannabisnotfällen in den Krankenhäusern.

Die Debatte über eine mögliche Legalisierung von Drogen tobt seit Jahrzehnten. Der libertäre US-amerikanische Richter James P. Gray stellt, seine langjährige Erfahrung zusammenfassend, fest die Ergebnisse der Null-Toleranz-Politik der USA in Bezug auf Drogen seien „überwältigend negativ“. Er schreibt, einer von 31 Erwachsenen in den USA war 2009 im Gefängnis auf Bewährungsstrafe. Obwohl die allgemeine Kriminalitätsrate in den USA in den letzten Jahren gesunken ist, sind Gefangennahmen wegen Drogendelikten seit 1980 um das Siebenfache gestiegen. Absurd daran ist, so behauptet Gray, dass dieses System der schnellen Gefangenahme bei geringen Verstößen dazu geführt hat, dass hauptsächlich die „dummen, unorganisierten und weniger gewaltbereiten“ Personen vom Markt eliminiert wurden, die Cleveren und Gefährlichen aber weiter ihr Unwesen treiben. Dazu kommt, dass die Überfüllung der Gefängnisse dazu führt, dass immer wieder gefährlichere Verbrecher entlassen werden müssen, um Platz zu schaffen für neu eintreffende kleine Drogenhändler. So viele werden in manchen Gegenden für kleine Delikte eingesperrt, dass sich Jugendkulturen darum bilden, die den Aufenthalt im Gefängnis als Ritual der Aufnahme in die Gemeinschaft ansehen.

Dazu kommt nach neuesten Erkenntnissen, dass laut Karl-Heinz Reuband eine rigide Strafverfolgung für Drogendelikte keine präventive Wirkung hat. Für das Verhalten der Individuen ist die Höhe der Strafdrohung weniger entscheidend, als ihre Wahrnehmung der Möglichkeit entdeckt zu werden. Anders gesagt, die Befunde der empirischen Untersuchung des Einflusses der Rechtspraxis auf den Konsum illegaler Drogen liefern „keinen überzeugenden Beweis für die Haltbarkeit der These, derzufolge das Recht und die Rechtspraxis eine ‚normvalidierende‘ Funktion ausüben“. Dasselbe gilt für den Einfluss der Drogenpolitik auf die Drogenverbreitung. Jedenfalls was den Cannabiskonsum in Deutschland betrifft.

Die Allokation von Polizei-Ressourcen auf die Verfolgung von geringeren Drogendelikten in den USA hat dazu geführt, dass in den ohnehin strukturschwachen Gegenden klassische Eigentumsdelikte kaum mehr verfolgt werden. Als wäre das Eigentum der unteren Klassen ohnehin nicht schützenswert. Darüber hinaus kam es zu einem Absinken der Aufklärungsrate bei Kapitalverbrechen. Wurden in den späten 1960ern noch 80% der Morde im Raum Los Angeles strafrechtlich verfolgt, fiel diese Rate während des Höhepunkts des War on Drugs auf 47%. Das liegt im Spezialfall der USA auch an den sogenannten „asset-forfeiture laws“. Diese Gesetze erlauben den Polizeistationen einen Anteil an sichergestellten Drogengeldern und anderen mit der Drogenkriminalität verbundenen Werten einzubehalten und als Mittel zur Eigenfinanzierung einzusetzen. Alleine in Texas gibt es laut Tom Feiling im Jahr 2009 45 „narcotic task forces“ deren Budgets an ihren Verhaftungsraten bemessen werden, was ebenfalls die Zahlen der Verhaftungen in die Höhe treibt. Bundesweit gibt es in den USA 50 Regierungsorganisationen die mit dem Krieg gegen Drogen betraut sind. Die Drug Enforcement Agency (DEA) unterhält 227 Büros in den USA und 86 verteilt über 36 weitere Länder. Den so geführten War on Drugs verbindet mit dem War on Terror das Versprechen eines nicht enden wollenden Auftrags der mit unklaren Parametern konstruiert ist. Für Harvard Professorin Elizabeth Hinton steht diese Dynamik in einem Zusammenhang mit der aus einem parteiübergreifenden politischen Konsens entstandenen Entwicklung hin zu dem aktuellen System der Masseneinkerkerung in den USA. Das Ziel war und ist die Kontrolle von als problematisch eingestuften Bevölkerungsgruppen. Betroffen davon sind in erster Linie arme Menschen aus den unteren Klassen. Für Afroamerikaner aber gelten noch einmal gesonderte Regeln. Sie werden, vor allem bei Routinekontrollen der Polizei, unabhängig von ihrem Klassenstatus weitaus öfter kontrolliert und werden weitaus öfter Opfer von Polizeigewalt.

Eine Gruppe die darüber hinaus überproportional betroffen ist von polizeilichen Maßnahmen im Zusammenhang mit Drogendelikten, sind Frauen. Während der Jahre ab 1993 stieg die Anzahl von Frauen, die wegen Drogendelikten im Gefängnis waren um 224% bis 1996 sogar um 888% im Vergleich zu einem Anstieg von 129% für andere Verbrechen. Sie würden am meisten von einer Legalisierung, oder Straffreiheit profitieren, denn nur 12% von ihnen sitzen wegen Gewaltverbrechen hinter Gittern. Bei den Männern sind es 50%. Die meisten Frauen die für Drogendelikte eingesperrt werden, sind arm, schlecht oder gar nicht ausgebildet und in vielen Fällen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status ausgestattet, als die männlichen Kleindealer. Dennoch tragen sie, laut Taxman/Cropsey, das höhere Risiko beim Drogenhandel erwischt und eingesperrt zu werden. Vor ihrer Verhaftung haben sie im Durchschnitt ein Einkommen von 600 Dollar oder weniger. Das liegt auch daran, dass die Drogenszene zumindest auf Seite der Konsumenten, von Männern dominiert wird, denen auch die höhere Statusposition zukommt. Das kann ich auch aus meiner Erfahrung als Sozialarbeiter bestätigen. 

Also die Gesellschaft macht durchaus Fortschritte im Umgang mit dem Thema von Drogenhandel und Konsum. Auch die Medienberichterstattung hat sich gewandelt. Aber wir sind immer noch mit schädlichen Artefakten aus vergangenen Zeiten konfrontiert, die sich nur langsam verflüchtigen. Ich wäre auch misstrauisch gegenüber der Wirkung, die ein progressiver Umgang mit dem Thema im Endeffekt haben kann. Also, selbst wenn es eine Berichterstattung gibt, die sich positiv auf die Legalisierung von Drogen bezieht und, wie im Fall von Cannabis, sich immer mehr öffnet, bleibt die Frage, warum wir überhaupt so viele Drogen konsumieren?

Zusammengefasst kann man sagen, das Drogen-„Problem“ wird sich nur wirksam lösen lassen, wenn sich das Kapitalismusproblem lösen lässt.

[Teile meiner Antworten sind meinem gerade entstehenden Buch „Konstellationen der Ungleichheit. Digitaler Kapitalismus und Drogenökonomie“ entnommen. Die Literatur-Nachweise werden dort nachzulesen sein.]

Das Subjekt im Netz

Ein Gespräch mit Nivine El-Aawar.

Stefan: Luke Munn schreibt Algorithmen verfügen über eine politische Qualität. Erst einmal erzeugt, gestalten sie von selbst unsere politischen Agenden mit. Virginia Eubanks zeigt in ihrer Studie „Automating Inequality“, wie Algorithmen im Versicherungswesen in den USA eine diskriminierende und Armut verstärkende Wirkung haben. Sie fürchtet, dass die damit verbundenen Mechanismen des „red flagging“ Arme kriminalisieren und digitale Armenhäuser erzeugen könnte.

Nivine: Dem würde ich zustimmen. Algorithmen reproduzieren soziale Ungleichheiten. Dies ist der Fall, da personenbezogene Daten verarbeitet werden, welche die Interessen und Vorlieben der Nutzer*innen darstellen. Im Sinne von Bourdieu spiegeln diese den Habitus wider, welcher die soziale Position von Individuen darstellt. Wenn nun also quasi ein „digitaler Habitus“ von Algorithmen in Form von digitalen Nutzer*innenprofilen kreiert wird und dann genutzt wird, um Inhalte, wie Videos, personalisierte Werbeanzeigen, Nachrichten etc. zu kuratieren, können Algorithmen soziale Ungleichheiten nicht nur reproduzieren, sondern diese auch verstärken.

Ela: Eine Studie von 2020 (Silvia Milano, Mariarosaria Taddeo & Luciano Floridi) mit dem Titel „Recommender systems and their ethical challenges“ hat sich mit einigen Problemen im Zusammenhang mit Algorithmen befasst. Wie du bereits gesagt hast: Wenn die Klassifizierung durch den Algorithmus für die Erstellung der Nutzermodelle auf Grundlage der gesammelten Nutzerdaten basiert, werden soziale Kategorien reproduziert.

Außerdem sind Empfehlungssysteme im Zusammenhang mit Nachrichten und sozialen Medien so konzipiert, dass Nutzer*innen in ihren Filterblasen „gehalten“ werden, also sie kommen gar nicht dazu sich mit anderen Standpunkten auseinandersetzen zu müssen, sondern werden geradezu mit immer ähnlichem Content und gleichartigen Meinungen zugespammt. Bereits vorhandene Vorurteile werden dadurch verstärkt.

Zudem sind solche Algorithmen für politische Manipulation anfällig, da besonders aktive Nutzer*innen bzw. jene mit einer besonders großen Anzahl an Follower*innen die öffentliche Meinung beeinflussen können, indem sie starke positive Rückkopplungen im System erzeugen – was dazu führt, dass ihr Content besonders häufig empfohlen wird.

YouTube arbeitet ja auch so. Der ehemalige YouTube-Mitarbeiter Guillaume Chaslot hat eine Software geschrieben, um einen Einblick in die Empfehlungsmaschinerie von YouTube zu geben. Sie simuliert das Nutzer*innenverhalten und zeichnet Daten darüber auf, welche Videos von YouTube empfohlen werden, um im Endeffekt die „Vorlieben“ des Algorithmus abzubilden. Chaslots Untersuchungen legen nahe, dass YouTube systematisch Videos vorschlägt, die polarisierend, sensationslüstern und verschwörerisch sind.

Die Soziologin Zeynep Kufekci geht davon aus, dass YouTube mit Verschwörungscontent seinem Ziel der Verlängerung der Verweildauer seiner Nutzer*innen effizienter näherkommt, weshalb der Algorithmus solchen Content bevorzugt. „Die Frage“, so Kufekci, sei „ob es ethisch vertretbar“ sei, dies auch zu tun, „nur weil es funktioniert“.

Ähnliches hat die Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen 2021 über die Social Media Plattformen Instagram und Facebook verlauten lassen. 2017 hat Facebook eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, um herauszufinden, ob die Maximierung der Nutzer*innenaktivität zur politischen Polarisierung beiträgt. Man kam zum Ergebnis, dass es einen Zusammenhang gebe, aber eine Verringerung der Polarisierung hätte einen Rückgang des Nutzer*innen-Engagements bedeutet. Lösungen wie die Optimierung der Empfehlungsalgorithmen stellten sich als „wachstumsfeindlich“ heraus und wurden nicht weiterverfolgt.

Stefan: Rebecca Giblin und Cory Doctorow schreiben, dass der Online-Werbemarkt ein Betrugskonzept ist. Denn was schließlich darüber entscheidet, ob etwas überhaupt gesehen wird, ist nicht die Werbung, sondern Algorithmen. Das Datensammeln hilft nicht unbedingt beim Anpreisen von Waren. Um John Wanamaker, den ehemaligen Postminister der USA und Erfinder der modernen Werbung, zu zitieren: „Half the money I spend on advertising is wasted; the trouble is, I don’t know which half.“

Aber um das richtig verstehen zu können müsste man mal einen Schritt zurücktreten. Was sind Daten und wie verwandeln sich Daten in Ressourcen?

Nivine: Daten können allgemein als logisch geordnete Informationseinheiten bezeichnet werden, welche meist aus Codes bestehen und Symbole, Zahlen sowie Buchstaben kombinieren. Erst die IT-Systeme können diese Codes auswerten und somit die Daten verarbeiten.

Dabei ist zu betonen, dass es sich bei Debatten zum Thema Digitalisierung meistens um personenbezogene Daten handelt. Darunter werden einerseits sowohl sozioökonomische Daten als auch solche verstanden, welche individuelle Meinungen in Form von Beiträgen, Likes und Kommentaren darstellen. Außerdem fallen Verhaltensdaten, wie Suchanfragen und Metadaten, also Informationen über den Standort, unter den Begriff der personenbezogenen Daten.

Mithilfe von Datenanalysen und künstlicher Intelligenz werden sogenannte „prediktive Analysen“ durchgeführt, wodurch Vorhersagen über menschliches Verhalten getroffen werden können. Diese Vorhersagen haben zu einem sehr profitablen Markt geführt – vor allem für Plattformunternehmen wie Instagram und TikTok. Diese Unternehmen profitieren nicht nur davon, dass individuelles Verhalten vorherbestimmt werden kann, sondern auch davon, dass sich Gedanken und Verhalten aktiv beeinflussen lassen. Die Nutzer*innen werden zu transparenten Individuen, welche sich oftmals – ohne es zu wissen – in einer digitalen Sphäre befinden, welche aus ihnen Waren und Konsument*innen zugleich macht. Wie bereits Shoshana Zuboff 2018 in ihrem Buch „Überwachungskapitalismus“ beschreibt, werden menschliche Erfahrungen zu Rohstoffen für Verhaltensdaten, die es Unternehmen ermöglichen Profite zu generieren.

Dabei werden die Online-Welten von Algorithmen dominiert, indem sie die Plattformen strukturieren und deren Inhalte kuratieren. Besonders die Personalisierungsmechanismen gehen mit diversen Gefahren, wie Radikalisierungstendenzen, Überwachungsmechanismen, Intransparenz und Manipulation im Sinne der Wirtschaft einher.

Stefan: Bei Shoshana Zuboff, auf die du vorher schon hingewiesen hast, gibt es den Begriff des „Verhaltensmehrwerts“. Dieser wird im Fall von Google aus „surveillance asstes“ gewonnen aus denen „surveillance revenues“ erzielt werden, die in einem letzten Schritt in „surveillance capital“ verwandelt werden. Umso mehr die algorithmischen Maschinen an Verhaltensmehrwert konsumieren, umso präziser werden sie mit der zukünftigen Ausbeutung davon. Was macht das Datensammeln, Stichwort Big Data, mit uns und was ist algorithmische Personalisierung?

Nivine: Bei Algorithmen handelt es sich um programmierte Mechanismen, die mit Hilfe von Such- und Sortiervorschriften anhand von Datensätzen Interessen und Vorlieben erkennen können und daraus Wahrscheinlichkeiten und Folgerungen ableiten können. Genauer beschrieben sucht ein Algorithmus Datensätze und verknüpft diese miteinander, wodurch sich Entscheidungsempfehlungen ableiten lassen.

Das Ziel von Unternehmen ist es, mithilfe von Algorithmen einen individuellen Markt für die Nutzer*innen zu schaffen. Individuen erhalten personalisierte Inhalte, wodurch Unternehmen ihre Profite vergrößern können. Das Verhalten von Individuen wird also von Algorithmen verarbeitet, welche lernen die Interessen und Vorlieben der Nutzer*innen zu erkennen und kategorisieren. Ein besonders prägnantes Beispiel stellt der Algorithmus von TikTok dar, welcher die Startseite, die sogenannte „For You Page“ kuratiert. Hierbei haben Studien gezeigt, dass TikToks Algorithmus so leistungsfähig ist, dass er in der Lage ist, die Vorlieben und Interessen der Nutzer*innen in weniger als 40 Minuten zu erlernen.

Algorithmen strukturieren somit mithilfe von personenbezogenen Daten nicht nur die digitale Sphäre, sondern zunehmend das menschliche Leben als Ganzes.

Ela: 2021 wurde ein Dokument geleakt, das als „TikTok Algo 101“ betitelt war. Das „ultimative Ziel“ von TikTok ist die tägliche Vergrößerung der Zahl der aktiven Nutzer*innen. Deshalb hat man sich entschieden, den Videostrom auf zwei Messgrößen festzulegen: „Retention“, ob der Nutzer wiederkehrt, und „Verweildauer“. Ziel ist es die Nutzer*innen so lange wie möglich auf der Plattform zu halten, sie also im Endeffekt abhängig zu machen. Ich glaub man kann auch hier – wie bei YouTube, Facebook, etc. – davon ausgehen, dass man mit kontroversen Inhalten eher die Leute zum Dableiben anregt. Es geht eben um Profit.

Stefan: Was ist ein digitales Subjekt?

Nivine: Die digitale Sphäre, insbesondere soziale Medien, können als ein sozialer Raum verstanden werden. In diesen sozialen Räumen verbringen die Nutzer*innen ihre Zeit und interagieren mit der Plattform und anderen Nutzer*innen. In diesem Zusammenhang können digitale Subjekte identifiziert werden. Als digitales Subjekt kann eine Person beschrieben werden, die aus Daten, Profilen und anderen digitalen Aufzeichnungen besteht. Das digitale Subjekt unterscheidet sich vom lebenden Selbst, knüpft aber an die Subjektivität der lebenden Person an. Digitale Subjekte können als neue Formen der Subjektkonstruktion gesehen werden, die auf computergestützten Prozessen in der digitalen Sphäre basieren.

Stefan: Das klingt noch ein wenig abstrakt. Die Geschichte des Subjektbegriffs verweist auf den Herrschaftszusammenhang und heute besonders auf das Kapitalverhältnis. Der Subjektbegriff ist notwendig eng an die materiellen Verhältnisse gebunden oder er wird unklar. Zunächst einmal entsteht mit dem Subjekt auch die Herrschaft. Bei Althusser wird das Individuum zum Subjekt indem es in eine bestehende Struktur eingefügt wird. Michel Foucault bezeichnet es als Einfügung in eine Ordnung.

Aber es geht bei der „Subjektivierung“ auch um einen Wahrnehmungsprozess. Bei Marx erscheint das freie Individuum als Teilnehmendes am Produktionsprozess und Warentausch. Erst im Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft kann sich das Individuum wirklich vereinzeln. Dabei verliert es aber zugleich die bewusste Wahrnehmung, die ein Sklave, Leibeigener oder Adliger noch haben musste: Dass seine gesellschaftliche Position von äußeren Zwängen mitbestimmt wird. Wir sind uns in dem Maß unseres gesellschaftlichen Zusammenhangs nicht mehr bewusst, indem wir scheinbar von den Zwängen der Gesellschaft befreit werden. Im digitalen Bereich erscheint dieser Sachverhalt noch diffuser.

Vielleicht wäre es also gut, diesen Subjektbegriff ein wenig zu konkretisieren.

Nivine: Der Subjektbegriff im Kontext des Digitalen ist sehr komplex, besonders im Kontext von Machtverhältnissen. Prinzipiell wird in den wissenschaftlichen Debatten nicht mehr zwischen der analogen und der digitalen Sphäre/Subjekt unterschieden. Mit dem digitalen Subjekt ist in diesem Kontext jedoch gemeint, dass die Plattformen Informationen über die Nutzer*innen in Form von Daten sammeln. Aus diesen Informationen werden Profile generiert, welche „digitale Subjekte“ darstellen. Diese Profile sind entscheidend für profitorientierte Strategien der jeweiligen Plattformunternehmen. Damit einher gehen asymmetrische Machtverhältnisse. Dies hat unterschiedliche Gründe. Ein entscheidender Grund ist jedoch die Informationsasymmetrie. Unternehmen wissen nahezu alles über die Nutzer*innen, für die Nutzer*innen sind die digitalen Infrastrukturen, besonders die Algorithmen, jedoch eine Black-Box. Besonders aus der Intransparenz der Algorithmen ergeben sich große Manipulationspotentiale im Sinne der Wirtschaft. Daher kann in diesem Rahmen sicherlich mit Foucault argumentiert werden, dass sich Subjekte „in eine Ordnung einfügen“. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht, dass besonders soziale Medien rein von den Unternehmen kontrolliert werden und somit einen Raum darstellen, der rein wirtschaftsbasiert funktioniert.

Um die Fragen zu beantworten, wie genau die Subjektivierungsprozesse im Digitalen aussehen, was daran neu ist und inwieweit neue theoretische Ansätze dafür benötigt werden, braucht es weitere Forschung. Dies ist besonders wichtig, um zu verdeutlichen, dass es sich bei der digitalen Sphäre nicht um einen freien und neutralen Raum handelt, in dem unabhängig von der gesellschaftlichen Position und sozioökonomischen Situation „alles möglich ist“, wie es uns die Unternehmen weismachen möchten.

Stefan: Der Begriff des Profils stammt übrigens aus der Kriminologie. Ein Profiler ist einer, der einen Tatort analysiert und aus den dort auffindbaren Spuren ein Profil erstellt, aus dem dann abgeleitet werden kann, wie sich der Täter in Zukunft verhalten wird. Wo die nächste Tat stattfindet, oder was seine Motive für die Tat sein könnten. Das wir ein solches „Täterprofil“ mittlerweile freiwillig anlegen, ist eine interessante Entwicklung.

Ela: Das ist lustig, meine ersten Erfahrungen mit den sozialen Medien hab ich damals bei uboot.com gemacht, und bei fm4, da gabs diese Profilseiten. Da hat das angefangen mit dieser „Offenbarungswut“, aber ich denke, dass das auch viel damit zu tun hatte, dass die durchschnittlichen Nutzer*innen da zwischen 15 und 20 waren. Da hat man dann so Sachen ins Profil geschrieben wie Spitznamen und Songzitate, Buchzitate usw. Da hat das angefangen mit der Selbstkategorisierung, was sicher auch dem geschuldet war, dass man eben für andere Nutzer*innen gleich kurz und knackig Hinweise sähen wollte, auf welcher Seite man steht, was man für Musik hört, etc., da ging es eben auch um Abgrenzung, damit man nur mit solchen in Kontakt kommt, die für einen interessant sein könnten. Das ist ja bis heute so, nur dass das eben inzwischen von Algorithmen übernommen wird.

Stefan: Da entstehen Bubbles und Echo-Kammern. Selbstverstärkende Meinungsräume. Eine Meisterklasse in der möglichst verkürzten Meinungsäußerung ist TikTok. Was macht man auf TikTok?

Nivine: In den letzten Jahren hat die chinesische App „TikTok“ internationale Popularität erlangt. TikTok ist eine Kurzvideo-App, die Videos mit einer Länge zwischen 15 und 60 Sekunden enthält. Vor allem durch die Ausrichtung auf Jugendliche dominierte die App den Teenager-Markt und wurde zu einer viel genutzten App, mit mehr als 1 Milliarde Nutzer*innen.  Zudem führte der Ausbruch von Covid-19 zu einem rasanten Anstieg der Nutzer*innenzahlen. Die App basiert auf dem schnellen Konsum von Videoinhalten und ermöglicht es den Nutzer*innen, eine Vielzahl von Funktionen wie Filter, Hashtags, Musik und Videobearbeitung zu nutzen, was die Erstellung von Inhalten aufgrund der einfachen Nutzung fördert. TikTok prägt mittlerweile die (Pop-)kultur, der jüngeren Generationen, durch virale Trends, wie Tanzvideos, Fashion-Trends, aber auch politische Diskurse. 

Ela: Apropos Covid und Trends. Eine TikTokerin hat 2020 die Idee gehabt, man könnte sich ja als Symbol der „Einheit“ und „Rebellion“ gemeinsam ein Tattoo stechen lassen, ein Z, mit einer horizontalen Linie durch die Mitte, das für Generation Z stehen sollte. Dieser Trend kursierte unter dem Hashtag #GenZTattoo. Mehrere Userinnen kamen diesem Vorschlag gerne nach, bis andere begannen darauf hinzuweisen, dass das Symbol eine verdächtige Ähnlichkeit mit der Wolfsangel habe, die von einigen SS-Divisionen verwendet wurde, sowie noch heute als Symbol der Wehrhaftigkeit bei Rechtsextremen gern in Gebrauch ist. Nachdem die Starterin des Trends Todesdrohungen bekommen hat, hat sie ein Entschuldigungsvideo gepostet und Merchandising mit dem Z aus ihrem Etsy-Shop entfernt.

Ebenfalls 2020 haben K-Pop-Stans zahlreiche freie Tickets für Donald Trumps Rally in Tulsa, Oklahoma, reserviert, und damit potenziell die Zuschauerzahl beim Event dezimiert. Der Twitteraccount @TeamTrump hatte davor seine Anhängerinnen gebeten sich für freie Tickets bei der Rally zu registrieren, was von den K-Pop-Stans fleißig geteilt wurde und sich schließlich auch auf TikTok verbreitete. Die meisten Userinnen löschten ihre Tweets und TikToks nach einem Tag, um das Vorhaben geheim zu halten. Bei einer Kapazität von 19.000 Zuschauern wurden beim Event nur 6.200 Tickets vor Ort gescannt.

Stefan: Aber TikTok ist nicht nur politisch, sondern betrifft auch unser Selbstbild.

Ela: Eine Studie von 2022 mit 778 jungen amerikanischen Collegestudentinnen hat ergeben, dass die Nutzung von TikTok indirekt mit der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper zusammenhängt, dass diese den Vergleich des eigenen Aussehens nach oben hin und eine stärkere Überwachung des eigenen Körpers befördert, und das auch bei Nutzerinnen die ein hohes Maß an Medienkompetenz vorwiesen und Inhalte konsumierten, die Körperakzeptanz und Body Positivity behandelten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die regelmäßige und konsequente Nutzung von TikTok dem Körperbild von Frauen schaden kann, und dass Frauen mit einem höheren Maß an Körperakzeptanz und Kritikfähigkeit sowie an Medienkompetenz für diese negativen Auswirkungen am anfälligsten sein könnten.

Stefan: Die Medienwissenschaftlerin Stine Lomborg setzt sich mit den materiellen Grundlagen des digitalen Trackings auseinander. Web-Cookies oder sensorbasierte Technologien werden dazu genutzt digitale Funktionen und Dienste etwa auf Plattformen zu optimieren. Sie dienen aber auch der Überwachung der Generierung von Daten zum Trainieren von maschinellen Lernmodellen und anderen Entwicklungen in der KI.

Die potentiellen negativen Folgen des Trackings sind für sie äußerst dystopisch. Sie sagt, wir opfern das Recht, frei über unsere eigene Zukunft zu entscheiden. Gerade vulnerable Gruppen nehmen durch Tracking mehr Schaden als andere. Einwanderer werden ins Visier genommen und ihre Zukunft von den gewonnenen Erkenntnissen abhängig gemacht. Umfassende digitale Erfassung ist für Lombog eine infrastrukturelle Macht, die liberale Werte wie Gleichheit und Autonomie gefährdet und unsere Gesellschaften einem abstrakten Wandel unterzieht.

Wenn ich das höre, frage ich mich wovon wir ausgehen können. Sind diese liberalen Werte überhaupt so weit verwirklicht, dass wir uns über ihren Verlust Gedanken machen müssten? Oder anders gefragt können wir sie leben, wenn sich die Subjektivität in den digitalen Bereich verlagert? Und wie sieht das aus?

Daran anschließend: Ist eine digitale Subjektivierung wünschenswert? Wenn ja, wie wird sie sich auf die analogen Individuen auswirken. Wenn nein, was sind die Widerstandsmöglichkeiten dagegen? Und wie sinnvoll ist es überhaupt sich zu wehren?

Nivine: Ob eine digitale Subjektivierung wünschenswert ist oder nicht, ist eine berechtigte Frage. Die Tatsache ist jedoch, dass sich die Sozialisationsprozesse, besonders von jüngeren Generationen bereits zu einem Großteil in das Digitale verlagert haben. Es kann sogar von einer digitalen Vergesellschaftung gesprochen werden. Diese digitale Subjektivierung wird auch in Zukunft nicht verschwinden, sondern im Gegenteil immer ausgeprägter und relevanter werden

Die aufgeführten Trends und Debatten auf TikTok haben gezeigt, dass gesellschaftspolitische Debatten digital geführt werden können, dass Standards über Körper digital diskutiert werden, dass digitales Tracking an Ländergrenzen genutzt wird. Diese Entwicklungen sind größtenteils von Unternehmen, welche die Technologien und Infrastrukturen zur Verfügung stellen, dominiert. Die Frage ist jedoch, wie gehen wir damit um? Wie können Kinder und Jugendliche schulisch digitale Kompetenzen lernen, in denen sie über die Gefahren aufgeklärt und sensibilisiert werden? Was muss die Politik tun, um schnell auf Entwicklungen reagieren zu können? Und wie können die negativen Auswirkungen minimiert werden? All diese Fragen werden in den nächsten Jahren geklärt werden müssen.

Stefan: Die Frage ist sicherlich auch, was machen wir mit Körperbildern, die gar nicht mehr von menschlichen Körpern geprägt werden, sondern von Deepfakes. Ich sehe in meiner Facebook-Timeline immer öfter so genannte Celebrity Deepfakes. Wo also die Gesichter von berühmten Schauspielerinnen oder Sportlerinnen (fast immer sind es übrigens Frauen) auf meist vereinheitlicht überproportionierte Körper montiert werden. Und von den Kommentaren kann ich sagen, dass tausende Männer bereit sind diese Körperbilder sofort ohne Ironie zu akzeptieren.

Ela: Ja, aber dass es da irgendwie einen Hang gibt unrealistisches Zeug aus dem Internet gut zu finden, ist ja auch nichts neues, das kennen wir ja schon von Pornografie. Und das sind dann wahrscheinlich dieselben, die in Pseudodiskussionen auf Social Media behaupten, dass Body Positivity so überhandnimmt, und dass man über Frauenkörper gar nichts mehr Negatives sagen darf, während man sich über Leonardo DiCaprios Dad Bod ganz offen lustig machen darf. Dann frag ich mich aber, wann haben wir je aufgehört uns über Frauenkörper lustig zu machen? Weil es jetzt ein paar Hansln gibt, die versuchen mit übertriebener Body Positivity dagegen zu steuern, kann man doch noch lange nicht davon reden, dass das irgendwie ein gesamtgesellschaftlicher Trend ist, dass Frauen öffentlich fett sein dürfen und dass es Konsequenzen für Bullys gibt.

Stefan: Das Subjekt hängt im Netz seiner eigenen Klischees und der Imperative, die ihm das Kapitalverhältnis ständig vorhält. Davon kann sicherlich auch Elon Musk ein Lied singen, wenn er sich angesichts des gefrorenen Kopfes von Peter Thiel fragt: „Subjekt oder nicht Subjekt?“

Die kalifornische Ideologie

Ein Gespräch mit Sophie Ströbitzer

Stefan: Aus den biographischen Apokryphen über Elon Musk kann man entnehmen, dass er seinen heutigen Reichtum unter anderem damit begründet, dass er zwei Diamanten aus dem Familienbesitz verkauft. Bei einer Tiffany’s Filiale in New York. Danach studiert er erstmal ausgiebig in Kanada und den USA. Seine erste Geschäftsgründung ist 1994 das Unternehmensportal Zip2 für das ihm sein Vater das Startkapital zur Verfügung stellt. 1999 verkauft er es für 307 Millionen Dollar, von denen 22 an ihn gehen. Ist Elon Musk ein Selfmade Man?

Sophie:  Die Frage lässt sich nur durch eine weitere beantworten: Ab wann ist man “selfmade”? Elon Musk ist sicherlich nicht in Armut aufgewachsen. Er konnte sich sein Studium finanzieren und sein Vater unterstützte seinen Bruder und ihn bei ihrer ersten Firmengründung, laut dem Biographen Ashlee Vance, mit 28.000 US-$, durch die sich die beiden beispielsweise Software-Lizenzen, ein Büro, sowie Equipment leisten konnten. Musk bestreitet das allerdings mittlerweile. Den Großteil des Fundings für Zip2 erhielten die beiden durch Silicon-Valley-Investoren, mit deren Kapital sie es schließlich schafften, das Unternehmen in wenigen Jahren in eine Multi-Millionen-Dollar-Firma zu transformieren. Das Geld seines Vaters trug dazu zwar seinen Teil bei, trotzdem kann man Musk, vor allem in Betracht der Geldsumme, über die er heute verfügt, den Titel “selfmade” nicht nehmen. 28.000 sind eine beachtliche Summe, wenn man von der Hand in den Mund lebt, aber Musks Erfolg ist keinesfalls signifikant durch das Vermögen seiner Familie bedingt.

Ela: Forbes hat 2019 in einem Artikel Kylie Jenner, Tochter von Caitlyn und Kris Jenner, als jüngste „Self-made“ Milliardärin bezeichnet. Kylie verkauft jetzt Kosmetikprodukte, eine wahrlich innovative Idee und ein Produkt, mit dem jeder reich werden könnte – wenn er Kylie Jenner hieße. Über die enormen Vorteile, die sich ergeben, wenn man aus einer wohlhabenden Familie stammt, die noch dazu 24/7 im Rampenlicht steht, und zudem über Vitamin B verfügt, hat der Artikel geschwiegen. Nachdem sich aber einige Leute recht darüber empört haben, hat Forbes einen weiteren Artikel nachgeschossen, in dem man darüber aufklärte, was alles „Self-made“ heißen kann. Kurz zusammengefasst könnte man sagen „Self-made is a spectrum“.

Und auch bei Elon Musk könnte man wieder fragen, wie kommt er überhaupt zu diesen Investoren? Ich meine, über welche sozialen Kontakte, oder wie Bourdieu sagen würde, über welches soziale Kapital verfügt er? Kann es sein, dass soziales Kapital auch vererbt wird? Und, wie bedingen sich die Kapitalformen gegenseitig? Und man könnte sich fragen, ob es für Unternehmer mit finanziellem „Polster“, aus wohlhabenden Familien, nicht auch einfacher ist überhaupt ein Unternehmen zu gründen und Risiken einzugehen als für Unternehmer ohne ein Sicherheitsnetz. Wäre Musk ohne das Geld bzw. die sozialen Kontakte des Vaters heute dieser „Selfmade“-Milliardär, der er angeblich ist?

Das ist ja auch ein Image, in das er viel Arbeit steckt, um es aufrecht zu erhalten. Die medial kursierende Behauptung, dass sein Vater eine Smaragdmine in Zambia habe, streitet Musk vehement ab – vor kurzem hat er sogar demjenigen, der beweisen könne, dass es die Smaragdmine gäbe, eine Million Dogecoins (DOGE) angeboten – worauf sich sein Vater selbst zu Wort meldete und fragte, ob er an der Herausforderung teilnehmen dürfe, denn er könne es beweisen. Aber eigentlich ist es doch unerheblich, ob es die Smaragdmine nun gibt, oder nicht. Elon Musk stammt sicher nicht aus ärmlichen Verhältnissen, da ist es dann schon egal, ob man die eine Anlage mehr oder weniger besitzt. Das Geld „arbeitet“ ab einem gewissen Zeitpunkt schon „für sich selbst“. Und ein anderer käme gar nicht in die Lage mit Smaragdminengerüchten zu kokettieren.

Sophie: Wie bei so vielen anderen Selfmade-Millionären auch, variieren wie man sieht auch bei Elon Musk die Informationen zu seinem Startkapital sowie dem Vermögen seiner Familie, das ihm in seiner Karriere vielleicht einen Startschuss gegeben habe. Dass seine eigenen öffentlichen Statements und die seines Vaters immer mal wieder nicht übereinstimmen, ist natürlich fragwürdig und Musk ist sicherlich bedacht sich weiterhin so “selfmade” wie möglich zu präsentieren, trotzdem denke ich weiterhin, dass ihm dieser Titel bis zu einem gewissen Grad auch zusteht. Privilegien, die er als weißer Mann, der (höchstwahrscheinlich) nicht in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, genießt, fließen allerdings natürlich in seinen Karriereverlauf mit ein.

Mit einer Kylie Jenner, die seit sie ein Kind ist, mehr oder wenig freiwillig vor der Kamera steht und bereits vor ihrer Geschäftsgründung einen enormen Bekanntheitsgrad sowie eine Fanbase hatte, kann man ihn allerdings nicht vergleichen. Kylie Jenner wurde defintiv in dieses soziale Kapital geboren und kann meines Erachtens nach deshalb auch nur bedingt als “selfmade” angesehen werden – wobei man auch die Frage in den Raum werfen kann, ob sie für dieses Kapital mit einer Kindheit im Auge der Öffentlichkeit und null Privatsphäre nicht auch irgendwo ihren Teil bezahlt hat. Dass der Begriff als Spektrum verstanden werden muss, ist wahrscheinlich richtig, trotzdem würde ich Musk aufgrund von potenziellen Kontakten seiner Familie nicht absprechen, sich den Status den er heute als Unternehmer hat, zum größten Teil selbst aufgebaut zu haben.

Stefan: Jeff Bezos war ja bevor er Amazon gegründet hat bereits ein Spitzenverdiener, der im höheren Management der taiwanischen Mobilfunkfirma FITEL und danach für große New Yorker Vermögensberater wie Bankers Trust gearbeitet hat. Er hat dann zur Gründung von Amazon extra ein Haus mit Garage erstanden, wie sein Biograph Brad Stone schreibt. Warum hat er das getan? Um in dieser Garage sein Büro einzurichten und sozusagen Amazon aus der Garage heraus aufzubauen, wie das Selfmade Men halt so machen. Man sieht, es geht immer auch um den richtigen Anstrich. Dafür eignen sich Ideologien. Das sind breit anerkannte Überzeugungen und Einstellungen, die aufgrund ihrer Verbreitung und ihrer sozialen Rolle für objektiv richtig gehalten werden. Sie sind ein falsches Bewusstsein von einem konkreten Inhalt. Ideologie ist also kein falscher Inhalt, sondern eine falsche Form des Denkens des Inhaltes. Ideologie versucht bestehendes Unrecht zu rechtfertigen.

Ein Beispiel: Wer Radfahren geht, um politisch frei zu sein, hat etwas falsch verstanden. Wer an der Marktwirtschaft teilnimmt im Glauben dadurch politisch frei werden zu können, ist auf eine Ideologie hereingefallen.

Was ist eigentlich eine kalifornische Ideologie?

Sophie: Die kalifornische Ideologie ist eine besondere Art von Ideologie, da sie keine aktiven Vertreter*innen hat, die sich ihr zuordnen. Sie ist eine Hypothese der Sozialwissenschaftler Andy Cameron und Richard Barbrook, die im Zuge des Technologiebooms der 90er im Silicon Valley entstand. Die beiden Wissenschaftler beschreiben mit der von ihnen begründeten kalifornischen Ideologie die Philosophie und Weltvorstellung einer gewissen Gruppe von Menschen zu dieser Zeit. Sie bemerkten eine neue Art “Unternehmerkult”, die sowohl durch die Verbreiterung des Internets als auch seiner Kommerzialisierung entstanden sein soll.

Stefan: Sie beschreiben damit einen Glauben an die emanzipatorischen Möglichkeiten die durch moderne Technologien entstehen können.

Sophie: Die Kernphilosophie ist der Glaube, durch den technologischen Fortschritt würden liberale Prinzipien sich verselbstständigen und jede*r könne von nun an die eigene Meinung ohne Zensur kundtun. Die Anhänger dieses “Kults” wie die beiden Wissenschaftler sie einordnen, seien überzeugt, die Technologisierung der Gesellschaft biete ein freieres und gerechteres Leben und löse sich von den starren Regeln staatlichen Zwangs und ökonomischer Monopole. Der Vorwurf von Barbrook und Cameron lautet, diese religiöse Interpretation der Technik würde bestehende gesellschaftliche Probleme ausblenden und die gefährlichen Aspekte der voranschreitenden Technologisierung negieren. Die Autoren versuchen durch die Kritik der kalifornischen Ideologie die Intentionen und oftmals heuchlerischen Praktiken der Menschen an der Spitze der Big-Tech-Bubble sowie die Blindheit ihrer Anhänger*innen in einem ideologischen Konstrukt festzumachen und deren Lücken zu entlarven. Selbst-proklamierte Anhänger*innen der Moralkonstrukts sind, aber wie bei anderen Ideologien, hier nicht vorzufinden.

Ela: Es ist ja ein merkwürdiges Amalgam aus konservativ-neoliberaler Wirtschaftsgläubigkeit und Hippie-Progressivität entstanden, oder? Also so eine Art Hippie-Yuppie-Techno-utopisches Frankensteingebilde. Technik wird alle Probleme lösen, Sharing Economy, blabla, und der Staat hat sich gefälligst so weit wie möglich da rauszuhalten, denn der stört die natürliche Ordnung, die unsichtbare Hand des Marktes. Wenn die Märkte einfach in Ruhe gelassen werden, wird sich alles ausbalancieren. Silicon Valley ist sowas wie ein Ökosystem, das in Ruhe gelassen werden muss.

Stefan: Ein großer Teil der Ideologie ist die Überzeugung sich als Gesellschaft auch oder sogar nur durch die Privatwirtschaft und entgegen staatlicher Interventionen weiterzuentwickeln und Demokratie leben zu können – sozusagen aktiv Politik zu machen, indem man Ökonomie perfektioniert. Du sagst, ein aktuelles Beispiel dafür ist die medial sehr präsente Übernahme des US-Kurznachrichtendienstes Twitter durch Elon Musk.

Sophie: Genau. Die Verfasser der Kalifornischen Ideologie schreiben davon, dass sich die großen Profiteure der Big-Tech Szene des Silicon Valley gerne öffentlich von der Politik distanzieren – hinter verschlossenen Türen sehe das aber ganz anders aus. Elon Musk ist vor diesem Hintergrund eine ganz besondere Figur. Während er den größten Teil seiner Karriere immer versuchte sich nicht öffentlich politisch zu positionieren, sich in den USA sowohl für Demokraten als auch für Republikaner stark machte, so hat sich seine Einstellung diesbezüglich in den vergangenen Jahren verändert. Der Milliardär twittert immer wieder provokante Stellungnahmen zu polarisierenden Themen, lässt sich in Verschwörungstheorien verwickeln und sympathisiert offen mit teils rechtsradikalen Gruppierungen. Zuletzt sorgte er sich besonders um die Wahrung der allgemeinen Meinungsfreiheit, die er durch jegliche regulierenden Eingriffe in die Massenmedien gefährdet sieht.

Stefan: Seit der Übernahme von Twitter durch Musk hat sich da einiges getan. Das Center for Countering Digital Hate (CCDH) hat aufgezeigt, dass User, die sich Twitter Blue leisten, mittlerweile sagen können was sie möchten. Auch rassistische, antisemitische, homophobe und misogyne Aussagen werden im Fall der Blue User nicht mehr geahndet. Darunter Aussagen wie:

„Die schwarze Gesellschaft hat mehr Schaden angerichtet als der Klan je getan hat.“

„Die Judenmafia will uns alle durch braune Menschen ersetzen.“

Sophie: Der Entschluss Musks Twitter zu kaufen wirkte sehr spontan. Aber am Tag der Übernahme entlässt er einen großen Teil der Belegschaft und der Führungsriege per E-Mail. In den folgenden Wochen werden unter Musks Führung ehemalige wegen bedenklicher Inhalte gesperrte Konten, wie das von Donald Trump, aufgehoben und Authentifizierungskennzeichen von Konten können von nun an ersteigert werden. Das Unternehmen verliert daraufhin in kurzer Zeit zahlreiche Werbekunden und sinkt in kurzer Zeit stark im Aktienkurs. Hat sich aber mittlerweile wieder erfangen.

Während die Geschichte “Musk kauft Twitter” noch viele weitere Akte zählt und medial sowohl für Unterhaltung als auch Empörung sorgte, visualisiert sie eines besonders gut: Die Weltverbesserungsagenda des Unternehmers, der überzeugt davon scheint, durch Privatwirtschaft und Technologie die Gesellschaft besser voranbringen zu können als durch staatliche Maßnahmen. Der ideologisch motivierte Kauf zeigt außerdem einerseits die Anstrengungen, die Musk auf sich nimmt, um seine libertären Werte zu vertreten und gleichzeitig wie begrenzt diese doch sind, wenn es sich um den eigenen ökonomischen- oder Imageschaden handelt.

Ela: Elon Musk bezeichnet sich selbst ja als „free speech absolutionist“ – man beachte die entlarvende Wortwahl. Lustigerweise ist er bekannt dafür Kritikern mit Klagen zu drohen oder ihnen einfach zu kündigen. Zudem hat Twitter unter Musk einem Großteil der Zensuranfragen autoritärer Regierungen zugestimmt. Also Absolutist dürfte im Fall von Twitter und Musk schon stimmen. Ich würde sagen, Elon Musk ist inzwischen der Kanye West von Silicon Valley. Ähnlich wie dieser kann er noch so viel Blödsinn verzapfen, und seine Anhänger – und ich verwende hier absichtlich nur die männliche Form – hängen trotzdem an seinen Lippen, als wäre er der größte Intellektuelle aller Zeiten. Ye und Musk treffen wohl den Geschmack einer ähnlichen „Gruppe“ junger Männer. Ich glaube das hat auch wieder viel damit zu tun, was Angela Nagle in „Kill all normies“ beschreibt: „Eines der Dinge, die die oft nihilistische und ironische Chan-Kultur mit einer breiteren Kultur des Alt-Right-Orbits verband, war ihre Ablehnung politischer Korrektheit, Feminismus, Multikulturalismus usw. und deren Eindringen in ihre freiheitliche Welt der Anonymität und Technologie.“ DasSilicon Valley ist ja auch stark mit Ideen der Counter-Culture verbunden.

Sophie: In ihrer Absurdität und Sprunghaftigkeit zwischen politischen Lagern lassen sich Kanye West und Elon Musk in ihren öffentlichen Statements tatsächlich ganz gut vergleichen – wobei West sicher mittlerweile ein neues Level an Absurdität und auch Hemmungslosigkeit entwickelt hat, außerdem wird bei ihm bereits seit längerem eine psychische Problematik vermutet. Beide Männer stehen allerdings seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit und sind in ihren Branchen an der Spitze des Erfolgs angekommen. Beide haben sich in ihren öffentlichen Meinungsäußerungen vor allem in den vergangenen Jahren immer mehr radikalisiert und versuchen gleichzeitig zu provozieren und polarisieren. Es wäre interessant zu wissen, welchen Einfluss dieser immense Erfolg und auch das Ankommen an der Spitze auf die Entwicklung ihrer öffentlichen Äußerungen hat und ob das dann wirklich etwas über sie aussagt, oder nur wieder zu einer Marketingstrategie gehört.

Stefan: Das Media Research Center (MRC) in den USA hat ermittelt, dass Twitter seit der Übernahme durch Musk repressiver geworden ist. Die Zensur trifft nicht weniger, sondern andere Leute. Meist Menschen, die keine große Bühne haben wie Donald Trump um ihre Sperrung zu einem öffentlichen Thema zu machen.

Nick Srnicek, der den Plattform-Kapitalismus begrifflich für die Wissenschaft erschlossen hat, sagt, seine Überlegungen beginnen an der Stelle, wo er von der kalifornischen Ideologie absieht. Für ihn ist die analytische Kompetenz des Begriffs darauf beschränkt politische Akteure zu beobachten, die durch ökonomische Aktivität nach politischer Macht streben. Srniceks Hypothese wendet sich gegen diesen kulturalistischen Ansatz und will dessen ökonomische Seite zur Darstellung bringen, dass diese Akteure Profit machen wollen um ihre Konkurrenz auszustechen und deshalb an manchen Stellen politisch werden. Das bedeutet, nicht das geniale Kalkül von Superbösewichten ist ausschlaggebend für ihre strategischen Entscheidungen, sondern die Struktur der Kapitalakkumulation diktiert ihre Handlungen. Die wahnsinnigen öffentlichen Auftritte sind dann Makulatur um das Image aufzupolieren und bestimmte Segmente der Gesellschaft zu aktivieren. Ye macht das mit Antisemitismus, womit er sicherlich auch einige Hip-Hop Fans abholen kann. Musk eher mit libertärem Männergehabe.

Aber es ist auch wichtig zu sehen, dass die Profite in der Erzeugung von Waren seit Jahrzehnten zurück gehen. Daher wendet sich das Kapital den Daten zu, die immer noch Wachstum versprechen. Digitale Plattformen (wie Facebook, Google, Amazon) sind gigantische Datenakkumulierer, die Digitalisierung das technische Mäntelchen, dass sich die neuen Charaktermasken der kapitalistischen Entwicklung umgehängt haben. Auch die von Musks ehemaligen Geschäftspartner Peter Thiel propagierte ständige Erneuerung durch Zerstörung, Disruption, entspricht den Ansprüchen des Kapitals nach ständig neuen Techniken, die darauf zielen, sinkende Profite in veralteten Bereichen, wo der Gag nicht mehr zieht, wieder reinzuholen.

Ist es alter Wein in neuen Schläuchen, oder gibt es utopische Potentiale der kalifornischen Ideologie?

Ela: Man muss sich halt fragen, wie revolutionär diese ganzen Start-Ups, die aus Silicon Valley herauskommen, tatsächlich sind, wie sehr sie tatsächlich unser Leben verbessert haben. Z. B. Uber ist ein billigeres Taxi, aber ist das revolutionär, hat sich dadurch unser Leben so stark verbessert? Das Leben der Uber-Fahrer ja eher nicht. Die sind nach ihrem Arbeitgeber selbstständig und damit würde der Versicherungsschutz und Sozialleistungen wegfallen, die man als Angestellter hat. Das wurde zwar in vielen europäischen Ländern angefochten – Gerichtsurteile wurden aber teilweise von Uber ignoriert – inzwischen hat es auch in den USA teilweise die Bestätigung gegeben, dass Uber-Fahrer als Angestellte gelten. Der sympathische Uber-CEO Travis Kalanick hat auf Proteste seiner Fahrer wegen mieser Bezahlung reagiert, indem er meinte, dass sie sowieso bald durch Computer ersetzt würden. Der Programmierer Steve Dekorte hat Uber 2015 übrigens mit Rosa Parks verglichen, als wieder einmal eine Sammelklage anstand, weil Uber seine Fahrer als unabhängige Unternehmer beschäftigte. In einem Tweet hieß es „Ja, Uber hat gegen das Gesetz verstoßen. Das Gleiche geschah mit Rosa Parks. Korrupte Gesetze zu respektieren, die Kumpanen besondere Privilegien gewähren, ist keine Tugend.“

Und lustigerweise geht mit dem Aufstieg der Tech-Riesen in Silicon Valley ein Rückgang an Innovationskraft einher, denn die haben ja inzwischen Monopole aufgebaut. Wie innovativ ist es, dass man sich alles Mögliche zur Haustür bringen lassen kann? Und was heißt das alles für die Angestellten dieser Unternehmen? Hat das Potenzial unser Leben zu revolutionieren? Wie viele hundert Sharing-Apps brauchen wir?

Sophie:  Die Frage, ob Geschäftsleute wie Musk wirklich aus ideologischen Gründen handeln oder diese nicht viel eher als öffentlichen Scheingrund in Form von vorgegaukelter Integrität inszenieren, um ein neues Marktsegment zu erschließen, ist natürlich eine relevante und wichtige. Obwohl das teilweise der Fall sein mag, sehe ich das am Beispiel Musk und auch generell bei den Akteuren, die von der kalifornischen Ideologie angesprochen werden, nicht vorliegen. Ich denke einerseits, dass Menschen wie Musk, die stolz den Kapitalismus nicht nur ankurbeln, sondern sogar als visualisiertes Sinnbild dessen gesehen werden und daran Gefallen finden, keine ideologische Tarnung für ihre strategischen ökonomischen Züge brauchen. Man erwartet von Musk zu wirtschaften und er könnte dies auch in Ruhe, ohne öffentliche Rechtfertigung seiner Entscheidungen tun, wenn er wollen würde.

Ich halte den Kauf von Twitter nicht für einen rein ideologischen Zug am Schachfeld des Medienkapitalismus, auch wenn er auf den ersten Blick ideologisch motiviert scheint, verdankt sich die Kaufentscheidung sicherlich auch einem ökonomischen Kalkül. Musk wollte ein Exempel statuieren und dabei das Unternehmen wertvoller machen. Und vor allem wollte er sich auch am Markt der öffentlichen Kommunikation beteiligen. Trotzdem hat seine Weltvorstellung sicher viel mit rein gespielt.

Stefan: Das wäre dann das typische Verhalten digitaler Plattformen. Der Soziologe Philipp Staab ist ja überzeugt, dass es den Plattformen um den Besitz des ganzen Marktes geht. Also keine ideologische Finte, sondern eine ökonomische Notwendigkeit.

Sophie: Abgesehen davon ist jeder Image-Move natürlich immer auch zum Teil ökonomisch bedingt, weil er direkt auf Musks Wert als Unternehmer wirkt. Es findet also sicherlich ein Wechselspiel zwischen den beiden Ambitionen statt. Ideologische und ökonomische (Selbst-)Aufwertung ist sicherlich Teil der kalifornischen Ideologie. Die ja auch auf Selbstperfektionierung zielt.

Stefan: Peter Thiel strebt ja bekanntermaßen nach Unsterblichkeit und will sich auch einfrieren lassen.

Dieses ambivalente Verhältnis von Ideologie und Ökonomie, das du beschreibst, durchzieht alle libertären Ideologien und ist auch im Liberalismus spürbar. Arbeit soll sich lohnen, jeder kann es schaffen, aber man muss auch bissl auserwählt sein, damit es klappt.

Ayn Rand ist sicherlich eine Gallionsfigur aller heutigen Selfmade-Männer. Ihr Konzept über die Welt nachzudenken, nannte sie „Objektivismus“.  Darin entfaltet sie auf der erkenntnistheoretischen Ebene einen radikalen Rationalismus und auf der gesellschaftstheoretischen Ebene einen radikalen Individualismus. Das Denken soll laut Rand durch Beobachtung und Logik geprägt sein, mittels denen unbestreitbare Fakten ermittelt werden können. Das Handeln sollte von Egoismus, Erfindergeist und Tüchtigkeit angetrieben werden. Eigennützig agierende Großindustrielle sind für sie der Motor der Welt. Den Kapitalismus beschreibt sie in einem Aufsatz von 1965 – „What is Capitalism?“ – als objektive Voraussetzung menschlicher Freiheit. Jeder gesellschaftliche Reichtum wird in ihren Augen von Individuen produziert und sollte diesen auch gehören. „There is no such thing as social surplus.“ Die Armen sind arm, weil sie nicht egoistisch, nicht erfinderisch, nicht tüchtig genug sind und sollen es auch bleiben. Wie denkt Musk über diese Dinge?

Sophie: Ich denke nicht, dass Musk so radikale Worte wie Rand über die Kluft zwischen Arm und Reich findet und die Welt dermaßen schwarz und weiß betrachtet. Er selbst ist zwar wahrscheinlich der Kapitalismus in Person, bezeichnete sich 2018 auf Twitter aber beispielsweise als Sozialist: “By the way, I am actually a socialist. Just not the kind that shifts resources from most productive to least productive, pretending to do good, while actually causing harm. True socialism seeks greatest good for all.“, so seine Worte. Trotzdem gehe ich davon aus, dass er ähnlich wie viele seiner Branchenkollegen, die sich in der Privatwirtschaft ein enormes Vermögen angehäuft haben, davon überzeugt ist, dass jeder Schmied seines eigenen Glücks ist. Er ermutigt seine Mitarbeiter*innen mit dem Versprechen, wer alles für ihn und seine Vision tue und sich der gemeinsamen Mission praktisch “versklave”, werde am Ende erfolgreich aussteigen.

Ela: Eben. Das ist ja auch wieder so eine Ideologie. Als wären die Ärmsten der Gesellschaft die Unproduktivsten der Gesellschaft und jene mit den meisten Ressourcen die Produktivsten der Gesellschaft. Nur weil ich mich, bevor ich typisch neoliberale Slogans raushaue, als Sozialist bezeichne, macht mich das noch lange nicht zum Sozialisten. Das ist übrigens dasselbe Argument, das heute teilweise in Diskussionen über die Nazis verwendet wird, wo dann behauptet wird die Tatsache, dass das Wort Sozialismus in Nationalsozialismus vorkomme, beweise schon, dass die Nazis Sozialisten waren. Das macht mich immer wahnsinnig, wenn so getan wird, als hätten Worte keine Bedeutung. Was für eine Art Sozialist ist Musk denn, wenn er behauptet, wer reich sei, sei dies, weil er hart gearbeitet habe, während faule Menschen eben arm blieben.

Das nennt man in der Sozialpsychologie einen fundamentalen Attributionsfehler. Man neigt dazu, bei anderen Menschen die Ursache für deren Verhalten in ihrer Persönlichkeitsstruktur zu vermuten, nicht in den Umständen. Der Gründer des Google-X-Labors Sebastian Thrun drückt das so aus: „Es sind nicht die Pessimisten, sondern die Optimisten, die die Welt verändern werden (…) die Folge ist, dass diese Menschen auch mehr Reichtum und Macht anhäufen werden.“ Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Wenn jemand reich ist, dann liegt das daran, dass er besonders hart gearbeitet hat und nicht daran, dass sein Vater eine Smaragdmine hat und sein Söhnchen schon früh in den richtigen Kreisen Gassi geführt hat.

Die George Washington Universität hat 2019 einen Bericht herausgegeben, aus dem hervorging, dass der wichtigste prädikative Faktor für späteren beruflichen Erfolg das Haushaltseinkommen der Familie ist. Laut einer Studie des National Bureau of Economic Research von 2005 werden ungefähr 34 % bis 45 % der Vermögen in den USA vererbt.

Stefan: Vielleicht ist Musk einfach wirklich nur ein Geschäftsmann, der opportunistisch das sagt, was ihm grad in den Sinn kommt und letztendlich auch so handelt. Es gäbe da ein paar Anzeichen dafür in seiner Biographie. Das hat aber auch ein messianisches Element, wenn ich das so höre. Also wenn ich mich dem Ziel Gottes unterwerfe komme ich dafür in den Himmel. Die Evangelikalen Christen nennen es das Calling. Ayn Rand hat sich übrigens anlässlich einer Krebserkrankung unter falschem Namen bei der staatlichen Sozial- und Krankenversicherung angemeldet und diese beinahe 10 Jahre bis zu ihrem Tod auch konsumiert.

 Sophie: Ähnlich wie vielen weiteren vermeintlichen Selfmade-Millionären, traue ich auch Musk zu, die Beiträge die Mitarbeiter*innen über viele Jahre zu seinem Erfolg geleistet haben, nicht genügend anzuerkennen. Ich glaube auch nicht, dass er sehr intensiv die gesellschaftlichen Privilegien und Umstände, die zu seinem heutigen Reichtum beigetragen haben, reflektiert. Dass Musk der Meinung sei, Armut würde nur durch Dummheit und Faulheit existieren, glaube ich allerdings auch nicht. 

Stefan: In seinem Buch Zero to One legt Thiel offen dar, dass ein Startup seiner Ansicht nach am besten wie Kult organisiert ist. Der Unterschied ist in seinen Augen nur, dass die Anhänger eines Kultes „fanatically wrong about something important“ sind, während die Angestellten in einem erfolgreichen Startup „fanatically right“ (Thiel: 125) sind. Das klingt nach dem Randschen Objektivismus. Die Erfolgreichen entscheiden, was richtig ist und was falsch.

Ela: Thiel ist ja auch Anhänger kreativer Monopole, denn diese bedeuteten „neue Produkte, die allen zugutekommen“, während „Wettbewerb bedeute(), dass niemand davon profitiert“.

Stefan: Nicht umsonst wurde Thiel 2015 mit dem Hayek Lifetime Achievement Award ausgezeichnet. Ohne Friedrich August Hayek könnte die bürgerliche Nationalökonomie wohl nicht bis heute an ihren überholten Vorstellungen von der kulturellen Evolution festhalten. Diese besagt, kurzgefasst, dass gesellschaftliche Werte nur in geringem Maße Resultat menschlicher Gestaltung sind. Für Hayek stammen sie vielmehr aus drei Wurzeln: den biologischen „vererbten“, den kulturell „erprobten“ und den rational „geplanten“. In der Nationalökonomie, wie sie an den Universitäten gelehrt wird, wirkt sich das insofern aus, als weiterhin so getan werden kann, als wären die Fragen von Reichtum und Armut kein Feld politischer Gestaltung, sondern gottgegebene Natur, in die sich die Menschen einfügen müssen. Was bedeutet Erfolg in der kalifornischen Ideologie?

Sophie: Erfolg bedeutet nach der kalifornischen Ideologie, sich selbst durch Innovation verwirklicht und dadurch gleichzeitig finanziell ausgesorgt zu haben – und das ohne Unterstützung. Jeder ist Schmied seines eigenen Glücks und nur wer so “selfmade” wie möglich ist, hat es wirklich geschafft.

Stefan: Das Siegel “selfmade” hat etwas Wahnhaftes.

Sophie: Es ist ein Wahn, der sich vor allem im politisch tendenziell rechts verorteten Lager verfängt. Dabei wird versucht, eine historische Verbindung zwischen den Gründungsidealen des liberalen Amerikas und der unternehmerischen Tüchtigkeit der Siedler des 18. Jahrhunderts zu erzeugen. Das „selbstgenügsame Individuum“ in Form von Cowboys oder Trappern im Wilden Westen wird glorifiziert. Der einsame Held, der sich von den „unterdrückenden“ Gesetzen des Staates zu lösen versucht und so zu seinem Reichtum und Erfolg gelangt.  Außen vorgelassen wird dabei sowohl in der Geschichte als auch in den Erzählungen vieler selbst betitelter Selfmade-Billionaires, dass dieser Erfolg abhängig ist von der Arbeit vieler anderer Menschen, teilweise staatlicher Unterstützung oder durch das Leid und den Verlust Anderer fortschreiten konnte.

Ela: Dabei ist die Idee, die von vielen der Silicon-Valley-Milliardäre vertreten wird, zu viel staatlicher Einfluss würde Silicon Valley schaden, ja auch ein ideologisches Konstrukt, denn wie hätte Silicon Valley sich zu dem entwickeln können, was es heute ist, wenn der Staat kein Geld zugeschossen hätte, für Infrastruktur, Forschungsstipendien und Gründerdarlehen? Google oder Apple z. B. würde es ohne Zuschüsse und staatliche Investitionen nicht geben. Und Elon Musk hätte ohne staatliche Zuschüsse nicht bis heute durchgehalten. SpaceX z. B. wäre ohne eine Intervention von NASA 2008 heute nicht mehr am Leben.

Oder nehmen wir den Crypto-Hype. Da kommen wir auch wieder zu den Anhängern Musks, die auf seinen Anreiz hin in Dogecoin investiert haben und massiv Verluste gemacht haben. Da wurde übrigens schon eine Sammelklage eingebracht gegen Musk, in der ihm Insiderhandel vorgeworfen wird. Man wirft ihm unter anderem „eine vorsätzliche Marktmanipulation durch einen ‚Publicity-Zirkus‘“ vor, „um den Dogecoin-Preis in die Höhe zu treiben.“ Bei Crypto gab es ja zu Beginn auch diesen Hype, weil es quasi das Versprechen beinhaltet, dass jeder damit Geld machen kann. Niederschwellig, „demokratisch“, blablabla. Nur vergisst man da auch wieder, dass der Verlust von Geld die einen wahrscheinlich mehr schmerzt als die anderen.

Stefan: Was auch ausgelassen wird ist, dass wir bei den Energiekosten der Bitcoins mittlerweile bei 132,98 Terawattstunden im Jahr angelangt sind. Das entspricht dem Jahresverbrauch von Österreich. Nur zum Geld zählen!

Ela: Ein anderer Vorwurf von Anlegern gegen Musk war, dass er mit Tweets die Tesla-Aktie in die Höhe getrieben habe, als er behauptete, dass die Finanzierung gesichert sei und er das Unternehmen von der Börse nehmen könne. Apropos Twitter, das hat ja auch eine Rolle beim rapiden Crash der Silicon Valley Bank gespielt, als man quasi per Social Media zum Bank Run aufgerufen hat und damit den größten Crash seit Lehman Brothers ausgelöst hat. 

Stefan: Bei den tüchtigen Cowboys wird auch einiges ausgelassen. Vor allem wird ausgelassen, dass der Staat in Form von Armee und Gesetzen eine wichtige Rolle dabei gespielt hat diese selbstgenügsamen Individuen am Leben zu erhalten. Mit den Native Americans wurden hunderte Verträge geschlossen, die alle nach und nach gebrochen wurden. Diese Verträge führten immer wieder zu ihrer vorübergehenden Befriedung, bis sich die Siedlerpopulationen so weit erhöht hatten, dass durch Gewalt Fakten geschaffen werden konnten. Einzelne Bundesregierungen setzten dann hohe Belohnungen auf die Tötung von Native Americans aus. Kaliforniens Parlament genehmigte in den Jahren von 1851 bis 1860 1,5 Millionen Dollar für kriegerische Kampagnen gegen die Natives. (Mattioli: 217) Das durch den Gründergeist und den Frontiergedanken erzeugte Leiden ist gigantisch und bis heute nicht aufgearbeitet. Und ich weiß jetzt auch nicht von Initiativen des Silicon Valley da irgendwas anzugehen in die Richtung.

Das Abenteuer an der Frontier, der Goldrausch, die sogenannten „Indianerkriege“. Alles Mythen des so genannten „Wilden Westens“, der im Grunde schon sehr lange ein kapitalistischer Westen war. Die ursprüngliche Voraussetzung für den Aufstieg Kaliforniens war die Auslöschung des Lebens der Native Americans.  Frederick Jackson Turner, wie die meisten akademischen Historiker des 19. Jahrhunderts ein Fan der sozialen Evolutionstheorie, prägte den Frontierbegriff. Bei der Weltausstellung von 1893 in Chicago hat er verkündet, dass der Weg der Siedler nach Westen die amerikanische Entwicklung erklärt. Die sich chaotisch nach einer grausamen Eroberungslogik vollziehende Ausbreitung der USA beinhaltete als Kern die Ausrottung. Für Turner ist diese barbarische Vorbereitung der kapitalistischen Akkumulation eine wirksame militärische Trainingsschule und das Labor des gesamten politischen Systems der USA. Der Binnenkolonialismus ist übrigens keine Erfindung der USA. Das wird die Maoisten und 68er jetzt in ihrem Antiamerikanismus irritieren, aber Russland hat das indigene schamanistische und tribalistische Leben in seinem Osten lange ausgelöscht, bevor Old Shatterhand seine Silberbüchse von Winnetou gestohlen hat.

Aber zugegeben, die USA erprobte damals, um mit den Worten von Aram Mattioli zu sprechen, „ein neues Gesellschaftsmodell, in dem Grund und Boden zu einem gleicherweise begehrten wie handelbaren Gut wurde“ (Aram Mattioli: Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas, 2018: 20).

Würdest du sagen, es ist etwas von dieser Gewalt noch in der kalifornischen Ideologie spürbar? Also ich frage jetzt bewusst nicht danach, ob das vergleichbar ist, das ist es nämlich natürlich keinesfalls. Darum geht’s auch nicht. Aber spürt man ein Echo davon in den Äußerungen der Akteure?

Sophie: Ich könnte nicht sagen, dass noch Gewalt in der Ideologie zu spüren ist, da mir dafür jegliche Beweise oder Anhaltspunkte fehlen würden. Was allerdings bleibt, ist eine gewisse Ignoranz, eine aktive Ausblendung gesellschaftlicher Probleme und wenig Anerkennung der existierenden Diskriminierung, die von vielen Bevölkerungsgruppen und natürlich den Native Americans erfahren wird. Damit meine ich nicht, dass die angesprochenen Akteure, die oft gesellschaftlich libertär eingestellt sind, Diskriminierungen aufgrund von Herkunft oder sexueller Orientierung nicht anerkennen, oder sich nicht auch öffentlich gegen diese Problematiken aussprechen würden, sondern, dass sie die Konsequenzen, die diese Hürden mit sich bringen, nicht mit in ihr Narrativ integrieren. Es gilt: Wer viel arbeitet und klug ist, kann alles schaffen – jeder kann den American Dream leben. Es besteht hier eine gewisse Selbstbeweihräucherung im Sinne von “Ich habe es geschafft, also kann es auch jeder andere schaffen”, in der Silicon-Valley-Brüderschaft, die oftmals ihre eigenen Privilegien nicht sieht oder sehen will und sich zusätzlich auch nicht als verantwortlich empfindet, ihre ökonomische und gesellschaftliche Macht zu nutzen, um diese Missstände zu beheben. Am ehesten könnte man also diese Ignoranz und Ausbeutung der eigenen Privilegien bei simultaner aktiver Ausblendung von Missständen als eine Form von Gewalt sehen.