Just leave Capitalism. Gespräch zum Jahresausklang

Stefan: Der Titel des Gesprächs entstammt einem Screenshot von einem echten Posting, das darauf hinausläuft, dass diejenigen, denen es im Kapitalismus nicht passt, halt abhauen sollen. Also im Grunde ein „Wenn es dir nicht passt, geh halt nach Nordkorea.“ Zum Jahresende könnten wir endlich den Kapitalismus verlassen, vielleicht nicht nach Nordkorea, sondern nach Uruguay, oder wie siehst du das?

Ela: Und wie denkst du, dass wir das hinbekommen? Spazieren wir einfach raus? Ziehen wir in den Wald? Gehen wir Walden? Lassen wir uns von einem Bären fressen?

Stefan: Der Autor von Walden, Henry David Thoreau, schreibt: „Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“ Er war der Sohn eines Bleistiftfabrikanten und lernte den Dichter Ralph Waldo Emerson kennen. Er hat dann in dessen Haus einen Urlaub von der Welt gemacht. Offenbar konnte er es sich leisten nur 6 Wochen im Jahr zu arbeiten. Wahrscheinlich am Oktoberfest.

Aus dem Kapitalismus kann man mit noch so viel Urlaub nicht aussteigen. Das wäre nur möglich, wenn wir alle Millionäre werden, oder keiner mehr arbeiten müsste. Die Simulation des Ausstiegs aus der Arbeitswelt gelingt manchmal vorübergehend und teilweise, wenn man einen schönen Tag am See verbringt. Aber wer keinen See hat ist schon mit weniger zufrieden. Drogen zum Beispiel. Die können das Aussteigen sehr gut simulieren.

Ela: Der Einstieg danach ist dann aber besonders mühsam und die kapitalistische Realität erscheint noch unerträglicher. Was ja auch die Rückfallstatistiken bei härteren Drogen bestätigen. Aber das ist ja nicht die einzige Art, wie die Menschen versuchen dem Alltag zu entfliehen. Um auf den Bären zurückzukommen: Manche Methoden können auf ihre Mitmenschen verheerende Auswirkungen haben.

Stefan: In der Zeitung steht es wurde ein „Vergewaltigungsnetzwerk“ auf Telegram aufgedeckt. Dabei wurde in einer Online-Recherche systematische sexuelle Gewalt an bewusstlosen Frauen belegt. In dutzenden Telegram-Gruppen haben sich Nutzer offen darüber ausgetauscht, wie sie Frauen betäuben und sexuell missbrauchen können. Sie ist jetzt sturzbesoffen und auf ein paar Schlafmedis. Ich sollte hoffentlich bald ein bisschen Spaß haben‘“, schreibt ein Nutzer in einer Gruppe. Andere Mitglieder reagieren mit Begeisterung und fordern weitere Details, wie aus der Doku des Reportageformats Strg_F des Norddeutschen Rundfunks hervorgeht. Teilweise werden Frauen in Echtzeit vor Publikum vergewaltigt.“ In Frankreich hat ein gewisser Dominique Pelicot seine Frau Gisèle fast zehn Jahre lang immer wieder mit Medikamenten betäubt, missbraucht und von Dutzenden Fremden vergewaltigen lassen. Er hat jetzt nur 20 Jahre Haft dafür kassiert. Seine Freilassung erlebt er hoffentlich nicht mehr.

Ela: Andererseits finde ich, dass es schon ein Fortschritt ist, dass im Fall Pelicot tatsächlich alle 51 Angeklagten, alle Vergewaltiger also die man ausfindig machen konnte (obwohl von bis zu 90 Tätern ausgegangen wird), verurteilt wurden. Egal wie sehr sie versuchten sich selbst als Opfer darzustellen. Es ist ja bezeichnend, wie diese Männer ihre Taten herunterspielten. Sie seien naiv gewesen, hätten sich nicht „Nein“ sagen getraut, hätten nicht gewusst, was Einverständnis bedeute, hatten angenommen, es reiche, wenn der Ehemann sein Einverständnis im Namen der Frau gebe. In vielen Fällen wurden die schreckliche Kindheit und andere traumatische Erfahrungen als Vorwand genutzt, um Gisèle Pelicot Gewalt anzutun. Die meisten behaupteten sie seien von Dominique Pelicot manipuliert oder gar selbst unter Drogen gesetzt worden, um keine Verantwortung für ihre Taten übernehmen zu müssen. Doch selbst das Schnarchen von Gisèle konnte sie nicht davon abhalten sich an ihr zu vergehen. Einer der Täter machte sich in seiner Aussage gar Sorgen: „Wenn niemand mehr jemandem vertraut, werden wir am Ende um eine schriftliche Genehmigung auf einem Stück Papier bitten müssen.“ Ein Talking-Point den man in Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen immer wieder gerne aus dem Ärmel zaubert.

Dass das Opfer medial auf solche positive Resonanz gestoßen ist, ist auch eher eine Seltenheit. Ich befürchte daher, dass es sich bei dem Fall in all seiner Extremität und dem gesellschaftlichen Umgang damit um eine Ausnahme handelt. Wir sehen nun was ginge, wenn man wollte. Das wird sich aber wahrscheinlich nicht besonders auf die gesellschaftliche und strafrechtliche Be- und Verurteilung von zukünftigen Vergewaltigungen auswirken. Immerhin ist die Beweislage nur selten so klar und eindeutig wie in diesem Fall. Gisèle Pelicot konnte sich erwiesenermaßen nicht wehren. Dominique Pelicot hatte die Taten alle sorgfältig auf seinem Laptop archiviert und diese auch von Beginn an nicht abgestritten.

Wenn wir uns jetzt die Recherche von Strg_F ansehen, sieht das Bild schon wieder weniger erfreulich aus. So haben sich im Schatten von sozialen Medien ganze Netzwerke für potenzielle Vergewaltiger gebildet. Man schickt sich Links für Betäubungsmöglichkeiten und erteilt sich Tipps. Die Strafverfolgungsbehörden sind dem kaum gewachsen. So berichtet Strg_F in Deutschland seien Übergriffe auf Bewusstlose zwar strafbar, jedoch könne man gegen das Verbreiten von Videos nichts unternehmen, da dies nicht unter die Strafbarkeit falle. Verbrechen wie jene an Pelicot und anderen Frauen sind aber nur in einem gesellschaftlichen Klima möglich das Täter schützt und Opfer die Bürde auferlegt mit den Konsequenzen umzugehen. Dabei wäre es erst einmal wichtig, wenn, so wie Gisèle Pelicot richtig anmerkte, die Scham die Seite wechseln würde und obwohl man sich auch Gedanken machen könnte, ob die Tatsache, dass so viele Männer sich in diesem Zusammenhang schuldig gemacht haben, eventuell etwas über unsere Gesellschaft und ihre Strukturen aussagt und darüber, welche Konsequenzen Straftaten wie diese haben.

Stefan: Die Möglichkeiten zur Betäubung sind in den letzten Jahren in unserer pharmakologisierten Arbeitswelt stark angestiegen. Es kommt zu einer neuen Vielfalt der Methoden zur Opferbetäubung. „Toxikologen wie Volker Auwärter vom Universitätsklinikum Freiburg warnen vor neuartigen K.-o.-Mitteln, die als harmlose Haarpflegeprodukte oder Mittel zur Entfernung von Wimpernkleber beworben und legal erworben werden können. Die untersuchten Substanzen enthalten eine gefährliche Mischung aus Tiernarkosemitteln, Designer-Benzodiazepinen und Medikamenten, die Erbrechen verhindern sollen. Viele Bestandteile sind in Standardtests nicht nachweisbar. Wie gefährlich derartige Mittel sind, wird vielen in den Telegram-Gruppen erst klar, wenn es zu spät ist. Immer wieder berichten die Mitglieder davon, dass ihre Opfer deutlich länger als geplant geschlafen oder gar Probleme beim Atmen gehabt hätten.“

Ela: Aber auch Alkohol wird ja in vielen Fällen dazu genutzt Frauen und ihre Abwehr außer Kraft zu setzen. In diesem Fall fällt es den Staatsanwälten dieser Welt oft besonders leicht, den Opfern die an ihnen begangenen Straftaten zum Vorwurf zu machen. Eine Tatsache ist allerdings, dass Männern, welche sich an Frauen vergehen, dies oft auch aus einem Strafbedürfnis heraus tun. Vergewaltigung kann sich also auch gegen vermeintliches Fehlverhalten von Frauen richten – wenn diese beispielsweise nicht ihrer zugeteilten Rolle entsprechen – für das sie bestraft werden müssen, oder gar als pauschale Strafe für die Frau an sich. In diesem Fall zeigt sich dann eindeutig, dass Vergewaltigung auch ein mächtiges Instrument darstellt, den Kapitalismus und die gesellschaftlichen Konventionen durchzusetzen.

Stefan: Ein Grund mehr den Kapitalismus echt zu verlassen. Wer sehr eindrucksvoll den Kapitalismus in den Privatkonkurs verlassen hat, war René Benko. Mittlerweile mein Lieblingsunternehmer, weil er den Kern des erfolgreichen Unternehmertums bloßgelegt hat: „Mafiöse Methoden“, wie der Spiegel schreibt. (Der Spiegel Nr. 50, 07.12.2024) Gegen Benko, „den mutmaßlichen Kopf der Bande“, den Capo, ermittelt jetzt in Italien die Mafiabekämpfung, wegen Verdachts auf kriminelle Vereinigung und den Vorwürfen der Bestechung, Manipulation, Korruption und des Betrugs.

Ela: Auch ein schönes Hobby. Dass der Name Benko für guten Geschmack steht, zeigt sich ja auch an seinen Bauprojekten. Zuerst hat er ja noch das alte Leiner-Gebäude auf der Mariahilferstraße, sowie das Schlosshotel Igls bei Innsbruck niedergerissen, denn Denkmalschutz ist in Österreich eher eine Verhandlungssache. Das Signa-Kaufhaus „Lamarr“ wurde ja inzwischen verkauft. Die Benko-Villa in Tirol ist im Besitz der Wiener Schlosshotel Igls Betriebs GmbH & Co KG, die zur Laura-Privatstiftung der Benkos gehört, an die die Mutter 235.000 Euro Miete zahlt, damit Rene weiterhin gratis dort wohnen darf. Keep it in the family sozusagen.

Stefan: Ein Grund den Kapitalismus zu verlassen wäre, dass wir zunehmend nicht nur ausgebeutet werden, sondern auch in Europa immer öfter, Opfer von extremistischer Gewalt werden. Das sich also die Gewalt, von der Peripherie, wo sie, auch aufgrund westlicher Beteiligung nicht enden kann, ins Zentrum verschiebt. Staatsversagen traue ich mich das nicht zu nennen, solange die Kapitalakkumulation ungestört weitergeht. Vorgestern am 19.12.2024 wurde den Opfern des islamistischen Terroranschlags am Breitscheidplatz in Berlin gedacht. 13 Menschen wurden dabei von einem Islamisten ermordet. Kurz davor, am 2. November, jährte sich der islamistische Terroranschlag in Wien, mit vier Toten und 23 Schwerverletzten. In der Nacht vom 20.12.2024 wurde in Magdeburg von einem saudi-arabischen Staatsbürger ein Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt verübt, mit mindestens 2 Toten und über 60 Verletzten. Angeblich war er AfD-Fan, angeblich Ex-Muslim, seine Methode ist dennoch die des islamistischen Terrors und sein Ziel, eben ein Weihnachtsmarkt und keine politische Veranstaltung von Nazis oder extremistischen Muslimen. Beinahe gleichzeitig hat ein politischer Vertreter des österreichischen Islam auf seinem Facebook-Account wortreich und öffentlich die Diskriminierungserfahrungen muslimischer Österreicher angeprangert. Er bezieht sich dabei auf einen Bericht der Europäischen Grundrechte Agentur und beklagt zurecht die dort aufgeführten Missstände, die real sind und zu Ungerechtigkeiten gegenüber Muslimen führen. Aber er sucht die Schuld dafür einseitig beim österreichischen Staat. Seine Vorschläge zu deren Behebung sind sicherlich teilweise legitim und seine Intention zielt auf ein funktionierendes Miteinander. So viel habe ich bisher von seinen Äußerungen wahrgenommen. Er ist ein Vertreter friedlicher Koexistenz und abstrakter demokratischer Werte. Aber der Unterton ist an manchen Stellen durchaus düster, eventuell missverständlich und vielleicht sogar für manche Beobachter bedrohlich, wenn er etwa feststellt: „Populistische Verbotspolitik birgt die Gefahr von ‚self fulfilling prophecies‘.“ Die Zuschreibung an extremistische Muslime, sie seien gewaltbereit, führt zur Gewaltbereitschaft? Die Angst vor islamistischer Gewalt ist schuld an islamistischer Gewalt?

Ela: Diese ganzen Zirkelschlüsse in diesem Zusammenhang fand ich schon immer interessant. Bei dem Anschlag in Magdeburg finde ich es zudem spannend, dass man so viel Wert auf die sogenannte AfD-Affiliation des Täters legt, während man gleichzeitig allen anderen Schwachsinn, den er auf den sozialen Medien verbreitet hat, geflissentlich ignoriert. So gibt es auch Tweets, wo er sich als Wahhabit bezeichnet und anderes konfuses Zeug, was ja dann wieder gegen die Behauptung stehen würde, es handle sich um einen Ex-Muslim. Also das ist spannend, wie man sich da jetzt auf dieses Bild festgefahren hat und gleichzeitig alles andere ignoriert.

Stefan: Da gibt es übrigens ein interessantes Verdrängungsmuster, beziehungsweise ein journalistisch-politisches Schaukelspiel. Während rechte Politiker und Medien jeden Anschlag sofort unbesehen dem extremistischen Islam zuordnen, was etwa beim Anschlag von Hanau völlig daneben war, tun sich die Linken dabei schwer einzusehen, dass Terroranschläge auch von extremistischen Muslimen verübt werden. Das übliche Muster der Verdrängung ist mehrstufig und beginnt mit: „Es ist zu früh um etwas Konkretes sagen zu können.“ Über: „Wahrscheinlich ein psychisch kranker Einzeltäter.“ Zu: „Wer das thematisiert, hilft der AfD, FPÖ, …“ Umgekehrt sind diese Linken dann bass erstaunt, wenn die Rechten das auch versuchen. Der Spiegel Nr. 52 vom 31.12.2024 dokumentiert dieses Erstaunen und die Empörung, die es auslöst, am Ableismus der AfD. Dass die AfD Menschen mit Behinderungen verabscheut und sich im Umgang mit ihnen wahrscheinlich verschiedener Nazimethoden bedienen würde, wenn sie könnte, brauchen wir nicht zu diskutieren. Aber gleichzeitig entsteht eine seltsame Spiegelung des Verdrängungsmusters, wenn ein AfD-Mann über den Terroranschlag von Hanau spricht. Der Spiegel schreibt: „2020 verharmloste der innenpolitische Sprecher der AfD, Gottfried Curio, die rechtsextremen Motive des Attentäters von Hanau, nannte ihn einen ‚Irren‘ und ‚verrückt‘, sagte, er habe nicht zu den ‚geistig gesunden‘ gehört.“ Eine Frechheit sondergleichen, wie kann nur ein Gewalttäter, der so brutal vorgeht und damit ein politisches Ziel verfolgt und sich dazu auch noch öffentlich oder in einem Manifest äußert als psychisch krank bezeichnet werden? Das geht natürlich nicht. Oder geht es doch und kommt es nur darauf an in wessen Interesse das geschieht? Jedenfalls haben diese Verharmlosungsversuche von links und rechts etwas gemeinsam mit den Verharmlosungsversuchen aller Populisten, wenn es darum geht die Gewalt der eigenen irregulären Klientel medial zu kaschieren.

Ela: Bei den Opfern solcher Anschläge kommen ähnliche Mechanismen ins Spiel. Wenn es die betrifft, die falschen politischen Affiliationen haben oder sonst wie der falschen Gruppe angehören, dann wird ihnen ja auch gern eine „übertriebene“ Reaktion auf ihre Traumata vorgeworfen. Ich erinnere mich da an Jesse Hughes von den Eagles of Death Metal, die während des Anschlages im Bataclan ein Konzert spielten. In einem Stern-Artikel wird Jesse Hughes in einem Satz zur Last gelegt er sei „für die amerikanische Waffenlobby, für Donald Trump, Anti-Obama, für Kriegseinsätze und gegen das Recht der Frau auf Abtreibung.“ Dass er nun einmal während eines der größten jüngeren Attentate in Frankreich auf der Bühne stand, bei dem 89 Menschen getötet wurden, kann natürlich die „übertriebene“ politische Entwicklung des Musikers nicht erklären. Dass sich da eventuell eine kleine Phobie im Zusammenhang mit dem Islam entwickeln könnte … Dem Team von Charlie Hebdo wurde auch regelmäßig Rassismus vorgeworfen, selbst noch nachdem es teilweise schon dahingemetzelt worden war.

Das ist jetzt eine freie Assoziation, aber passt nochmal kurz zu unserem vorigen Thema, weil es mich auch an dem Umgang mit den jungen Frauen erinnert, die im englischen Rotherham einem Kindesmissbrauchsring zum Opfer fielen. 1.400 Mädchen ab ca. 11 Jahren wurden dort zwischen 1997 und 2013 von Männern mit großteils pakistanischem Hintergrund entführt, sexuell missbraucht und „gehandelt“. Ähnliches passierte in Rochdale zwischen 2008 und 2010 und in Telford seit den 1980ern. In Rotherham äußerten sich „mehrere befragte() Ratsmitglieder“ man müsse vorsichtig sein, damit nicht „durch das Aufgreifen dieser Themen rassistische() Ansichten“ verbreitet würden, die „extremistische politische Gruppen anziehen und den Zusammenhalt der Gemeinschaft gefährden könnte(n)“. Ein Report der Independent Inquiry into Child Sexual Abuse hatte offengelegt, dass man mit einem „weitverbreitete(n) Versäumnis“ konfrontiert sei, „die ethnische Herkunft von Tätern und Opfern“ zu erfassen. Gleichzeitig wurden die Opfer dieser Gangs „während der Vergewaltigung mit üblen rassistischen Namen wie ‚weißer Abschaum‘ und ‚Kaffirmädchen‘ beschimpft“, während sie von den Behörden nicht ernst genommen wurden, weil sie als „Mädchen mit Problemen“ galten, die “durch ihr eigenes Verhalten selbst schuld“ trugen.

Stefan: Diese widerlichen Vorkommnisse werden sich in dieser extremen Form hoffentlich nicht mehr wiederholen können. Aber es kann schon Probleme mit sich bringen auf solche Dinge überhaupt hinzuweisen. Der Islampopulismus österreichischer Prägung hat mit solchen Vorkommnissen nichts am Hut. Die Vertreter, die ich bisher am Schirm habe, würden solche Vorkommnisse niemals verharmlosen. Aber beim Terrordiskurs sieht die Sache etwas anders aus. Hier hat sich der Islampopulismus ganz auf den Ton der hiesigen Debatten zu Magdeburg eingestellt. Linkspopulistisch werden Menschenrechte eingeklagt, und an den Minderheitenschutz appelliert, („Was heute die eine Minderheit trifft, könnte morgen eine andere zur Zielscheibe machen, wenn verfassungsmäßige Standards ausgehöhlt würden.“) sowie auf strukturelle Ungleichheiten verwiesen, ohne darauf einzugehen, wie diese nachhaltig behoben werden könnten. Denn die strukturelle Ungleichheit ist dem Kapitalverhältnis inhärent. Aber dieses wird durch die Gläubigen ja nicht in Frage gestellt, sondern nur dessen (neo-?)liberale Ausprägung. Die konkreten Vorschläge versanden in den Grabenkämpfen hiesiger Politik. Statt der Islamkommission der einen Partei, soll die Islamkommission der anderen Partei unter einem anderen Namen unwirksame Maßnahmen vorschlagen, die dann ohnehin nur so umgesetzt werden, dass niemand etwas davon hat. Stets wird im Rahmen der Verfassung argumentiert, aber zugleich durch ständiges Zuzwinkern und raunende Zwischenbotschaften, der Anteil der eigenen Klientel angesprochen, der dafür empfänglich ist – Stichwort Dogwhistling Politik. Die Zwischenbotschaften richten sich in FPÖ-Manier an die härtere Klientel, die den Populismus und den „Jargon der Demokratie“ (Gerhard Scheit) für die Durchsetzung ihrer eigentlichen Ziele in Kauf, aber nicht (mehr) ernst nimmt. Diese Klientel besteht aus ultrakonservativen, reaktionären, extremistischen und faschistischen Kräften und deren irregulären Einheiten. Von diesen Einheiten ist im Islampopulismus oft abstrakt die Rede. Wenn daran erinnert wird, dass Diskriminierung zu einer Reaktion führen kann. Es sind die wütenden Männer, die in Paris die Banlieues berüchtigt gemacht haben, die zu allem bereit sind, und auf das richtige Zuzwinkern lokale Bürgerkriege beginnen können. Aber auch die Einzeltäter und Terrorzellen gehören dazu. Sie sorgen dafür, das unliebsame Kritiker mundtot oder ganz tot gemacht werden, sobald die Aufmerksamkeit durch einen Islampopulisten auf sie gelenkt wurde. Diese sehr konkrete Bedrohung wird, wider besseren Wissens, von den Islampopulisten und ihren, meist links angestrichenen, Verbündeten (Islamo-Gauchisme), stets kleingeredet, die sich häufenden gewalttätigen Übergriffe werden in manipulierten Statistiken verschleiert und ständig wird das Thema gewechselt. Das läuft dann so ab, dass man bei einem konkreten Anschlag in Europa beginnt und in einem Konflikt in einem fernen Land endet, mit dem weder die Toten des Anschlags, noch deren Mörder jemals etwas zu tun hatten. Die Diskussion dazu kann man sich so vorstellen wie den Anschlag in München am 5. September 2024. Es war ein Angriff auf das israelische Generalkonsulat, der in einem Schusswechsel zwischen einem 18-jährigen Österreicher bosnischer Abstammung und Polizisten am Karolinenplatz in der Nähe des israelischen Generalkonsulats und des NS-Dokumentationszentrums endete.

Diskriminierungserfahrungen werden natürlich zurecht beklagt! Menschen mit „ausländisch klingenden“ Namen haben Nachteile bei der Wohnungssuche und auf dem Arbeitsmarkt und auch im beruflichen Leben haben sie die Erfahrung des Alltagsrassismus. Dieser kann auch bezogen auf islamische Kleidung auftreten und durchaus mit Gewalt verbunden sein. Es muss aber hinzugefügt werden, dass die von der Europäischen Grundrechte Agentur (https://fra.europa.eu/de/news/2024/muslime-europa-zunehmend-opfer-von-rassismus-und-diskriminierung) ermittelten Daten auf Umfragen und persönlichen Meinungen („face-to-face interviews and an online questionnaire“) basieren und nicht auf konkreten dokumentierten oder behördlich aktenkundigen Vorfällen. Das ist übrigens auch in Deutschland bei manchen Landesmeldestellen gegen Diskriminierung so. In NRW startet 2025 die „Meldestelle zu antimuslimischem Rassismus“ und fordert dazu auf „Fälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze zu melden“. Das bedeutet es geht bewusst darum auch das Gefühl der Menschen zu dokumentieren. Da werden dann vielfach persönliche Eindrücke, persönliche Missverständnisse und Enttäuschungen und persönliches Ressentiment in die Dokumentation einfließen, die dann einen gesellschaftlichen Tatbestand erahnen lassen. Das wiederum erzeugt eine Verstärkungsschleife, aus der heraus die Islampopulisten immer wieder auf die Opferrolle von Muslimen hinweisen können. Daraus kann eine Abwärtsspirale entstehen, denn natürlich können ständige Negativnachrichten das Gefühl der Diskriminierung noch verstärken und die innere Haltung gegenüber der als diskriminierend wahrgenommenen Gesellschaft verhärten. Oder mit den Worten Hans Rauschers im heutigen Standard 31.12.2024: „Pessimisten wählen rechtspopulistische bis rechtsextremistische Parteien. Das ist ein ehernes Gesetz der Politik. Abgesichert durch zig Umfragen, Erhebungen und soziokulturellen Studien.“ Wenn sich alle unwohl fühlen, profitieren davon die Konservativen, die Reaktionären, die Faschisten und natürlich die Islampopulisten.

Schlimm genug, wenn sich Muslime in der Gesellschaft nicht wohlfühlen, daran sollte sich schleunigst etwas ändern und es ist sicherlich an der Zeit, dass alle gemeinsam in funktionierenden Gremien zusammenkommen, mehr Räume für die Begegnung geschaffen werden und alle auf Augenhöhe und mit gleich lauter Stimme miteinander sprechen. Aber es muss auch kritische Bewusstsein dafür entstehen, dass die Gründe für die wahrgenommene Diskriminierung nicht nur bei strukturellem und individuellem Rassismus und ständigen Verfehlungen autochthoner Österreicher liegen, sondern auch bei den muslimischen Extremisten, der von ihnen mittlerweile regelmäßig verübten Gewalt und den empörenden Stellungnahmen der Islampopulisten dazu.

Murat Kayman, Mitbegründer der Alhambra-Gesellschaft, eines Vereins europäischer Musliminnen und Muslime, der von 2014 bis 2017 Jurist des muslimischen Verbandes Ditib in Köln war, warnt vor einer so einseitigen Darstellung der Verhältnisse. „Selbst wenn es ab morgen gar keinen Generalverdacht gegen Muslime mehr gäbe, wenn es nicht einen einzigen muslimfeindlichen Vorfall oder irgendwie antimuslimische Diskriminierung mehr gäbe, würde dennoch das Problem des islamistischen Extremismus unverändert fortbestehen. […] Denn islamistische Gewalt wird durch ihre Propagandisten als ‚legitimer Widerstand‘ gegen eine Muslimen gegenüber feindlich gesinnte Welt beworben. Mit dieser ‚Rechtfertigung‘ legitimieren sie eine totalitäre, freiheitsfeindliche, menschenverachtende Ideologie. […] Wer der fortschreitenden gesellschaftlichen Spaltung etwas entgegensetzen will, muss diese aus religiösen Überlegenheitsvorstellungen heraus vollzogene Selbstentfremdung muslimischer Organisationen hinterfragen.“ (Der Standard 14./15. September 2024: Muslime sollten sich unbequemen Debatten stellen, 38.)

Im Der Spiegel wird er noch deutlicher: „Vor dem Hintergrund der explodierenden Züge und Busse in Spanien und London, der ermordeten Satiriker, Lehrer, Passanten, Café- und Konzertbesucher in Frankreich, der überfahrenen Weihnachtsmarktbesucher in Berlin, der Opfer der Terroranschläge weltweit mussten die muslimische Verdrängung, dieses apathische Kopfschütteln muslimischer Vertreter und ihre immer phrasenhafter wirkende Verurteilungen irgendwann unglaubwürdig wirken.“ (Der Spiegel Chronik 2024, 106.)

Kayman hat auch ein Buch über dieses Thema geschrieben. Mal sehen, wie lange er sein Leben in Frieden fortsetzen kann, oder ob ihn das Schicksal Ayan Hirsi Alis und der dutzenden Religions- und Faschismuskritiker ereilt, die unter ständiger Todesdrohung leben müssen. Verfolgt von den verfolgenden Unschuldigen, die angeblich durch „populistische Verbotspolitik“ zu „self fulfilling prophecies“ des Gemetzels gemacht werden.

Extremistische Gewalt aller Couleur scheint fixer Bestandteil, oder wie der Londoner Bürgermeister einst nach einem islamistischen Anschlag sagte, „part and parcel[1], des zukünftigen Zusammenlebens in Europa zu sein. Damit sollten wir uns nicht abfinden. Man kann den Kapitalismus nicht verlassen, aber man kann mit aller Kraft daran erinnern, dass ein „Minimum an Freiheit“ (Franz Neumann), nämlich Freiheit von terroristischer Gewalt, eine Grundbedingung sein muss, um diese ganze Scheiße zumindest stoisch und ironisch ertragen zu können.


[1] https://www.london.gov.uk/who-we-are/what-london-assembly-does/questions-mayor/find-an-answer/terror-attacks

Halbwertszeit in London

Auf Einladung von der Queen Mary University of London durfte ich für das Insitut für Modern Languages and Cultures unser neues Buch „Gespräche gegen die Wirklichkeit“ vorstellen. Danke nochmal an Ana Ilic, die das möglich gemacht hat, die sich rührend um mich gekümmert hat und mit mir den langen Marsch nach Highgate angetreten ist, was ein wunderbarer Ausflug war.

Das die Wirklichkeit sich überaus effizient gegen ihre Kritiker zu verteidigen weiß, lernten wir 10 Minuten vor Veranstaltungsbeginn, als uns klar wurde, dass die Ankündigung des Vortrags aufgrund eines Übertragungsfehlers „Gespräche ÜBER die Wirklichkeit“ lautete. Well played Wirklichkeit, well played.

Ich habe mein Textmanuskript hier abgebildet. Die Profs vor Ort waren sehr freundlich mit mir und ich hatte Ana als Hilfe bei der Diskussion. Aber mir ist bewusst, dass mein Englisch nicht the yellow from the egg ist.

Conversations against reality

The scary space of consumption

Please don´t be too strict, when judging my English skills. I am a native german speaker. More precisely, to quote a famous singer/songwriter from my country who had some problems with cocaine, but gave Austria its unofficial hymn, that you hear when you land on an Austrian Airways machine: “I am from Austria.” So …

A few years ago, Mark Fisher, who sadly sadly passed away in 2017, described the sentiment of our everyday life as the “call center experience”.

That we are all consumers is a common statement, but that the space of consumption is the opposite of a space full of possibilities is an oppressive experience. In reality, the consumption sphere is actually very limited. Everyone experiences the limits of product availability, and the customer service at some point. And then we get to experience the complete absence of attributable responsibility, the complete lack of ways out of the dead ends and the total lack of prospects in an endless loop, when it comes to the simplest problems.

For Fisher, this scary experience is the “systematic consequence” of capitalist logic. The exploitation of value, driven by the laws of accumulation, means that production is not carried out in order to satisfy our needs, but rather within the framework of a calculation that is as alien to human sentiment as a nation of alien conquerors. The world is arranged in such a way that the economic surrogates of variety and richness can only be obtained at the price of programming consumers to allow simplicity to be sold as diversity to them.

It sounds like a dystopia, when Fisher writes that at the edge of the consumer sphere a “world without memory, in which cause and effect are unfathomably connected, in which it is a miracle if anything ever happens where you lose hope of ever finding a solution to your own concerns” awaits us. It sounds dystopian when he describes a system that appears to us to be impersonal, abstractly fragmented and unavoidable and at the same time gives us the impression of being absolutely efficient and almost infallible. Everything can be bought, everything has its price, everything is always available, everything runs legally and yet is always dangerously close to complete collapse: your own! Not that of the system, because the system lives off the exploitation of individuals until their collapse. Division of labour, professional roles and abstract management has led to the exchangeability of everyone. The best worker can be replaced sooner or later, by a surrogate fulfilling its role in the interest of exploitation.

Anyone searching for an undelivered package will end up in the labyrinth of the capital and experience the exchangeability from the customer side who shares the same fate. Since in most cases a missing package remains missing, even if the supplier admits to having messed the delivery up himself, the effort required to find it is too great. It will be replaced with another identical product. For free, if you are lucky. At your own expense, if the seller isn’t also exploited by Amazon. A look behind the facade of consumption and into the delivery processes, the cost-cutting constraints of customer service and the entanglements of the supply system leads into a dark tunnel. The dullness of conditions results from the constraints of daily repeating routines. The daily labour, that is forced on the individual, takes up the resources that would be necessary for creative development, and is instead spent on recreation, in order to maintain everyday working life. We have to stay in the most uncomfortable positions for years, because we are too tired to think about how we can change our posture. Call center experience means: We sit on hold, because we have no other choice.

Capitalist Realism

Mark Fisher calls the design of this mousetrap “capitalist realism”: “It’s easier to imagine the end of the world than the end of capitalism”. He illustrates this by taking the example of Kurt Cobain and his band Nirvana.

“Cobain knew that he was just another piece of spectacle, that nothing runs better on MTV than a protest against MTV; knew that his every move was a cliché scripted in advance, knew that even realizing it is a cliché.” It’s the cultural industry stupid!

This can also be applied to (academic) social criticism: “As long as we believe that capitalism is bad, we are free to continue to participate in capitalist exchange.”

Markus Metz and Georg Seeßlen go even further: they see a capitalist surrealism. Not in contrast to Mark Fisher, but in a hidden reference to him. Surrealism as a form of enhancement: “Neoliberalism not only produces economic crises, wars and financial market crashes – it also changes the cultural and political order. Capitalist surrealism arises when watching a capitalist-realist who finds the system reasonable and sees critics of the system as romantics; who scoffs at ‘do-gooders’ but is also happy to donate when a pop star calls to save the rainforest.”

They write: “The narrative style of capitalist surrealism is ‘noir’. Like the hardboiled crime novel or film noir, it is about autonomous, sarcastic and injured people in an irredeemable world, in a world that, more precisely, can only be hell. This is also completely clear to the individual representative of capitalist surrealism: that he is not in a paradise, not even in the vale of tears of a worldly reality (the delayed reward), but quite directly and literally in hell. And if capitalism is not nature but hell, opposition and alternatives become no less obsolete. The number of those who have freed themselves from hell is very, very limited. The image of hell for capitalism is therefore almost more compelling than the image of ‘nature’. If we are all in hell, it is not wrong to make pacts with the devils”.

Consequentially Metz and Seeßlen claim a relationship between financial management and pop culture. The new realism is based on identification with capitalism. The new surrealism maintains this relationship through aesthetics, as the ultimate legitimation. Capitalism in its current form stays alive, because it makes itself “nonsensical, invisible and untouchable” as financial capital and “ubiquitous, iconic and endlessly approachable” as an aesthetic event. Iconography of the brands, the TechBillionairs, the designer fashion, the fitness and diet trends …

How to break free?

Answers to this plight could be found, but they cannot be limited to further academic publications or capricious technical discussions. In everyday life we ​​are already surrounded by the constraints of necessity, and the endless production of expert knowledge only reproduces this compulsory structure in the form of ever new prisons of text and knowledge. The idea comes to mind that we are constantly being taken by the hand by the narratives of instrumental action. Under the conditions of traditional reproduction of knowledge, any attempt to escape is pointless.

However, if we do come to the conclusion that an outbreak is necessary, then it would have to take a completely new form. Politically, as mole work, the silent collection of accusations against the system of exploitation and the spreading of rumors about possible escape routes. The italian anarchist Johannes Agnoli speaks of self-knowledge and self-organization of the “negative potential”. Those excluded and exploited by the system should start conversations about their struggles and through this exchange organize not only resistance, but alliances to counter the monopolies of coercion on the side of capitalist structures.

This new form is actually derived from a very old form. Not only is “negative societal potential” a term prominently used by Hegel. The subversive tactics of conversation itself stand at the beginning of resistant thinking. The work of the art of dialogue is a means of the weak against domination, because it makes the speakers recognizable. After an open dialogue there are no more excuses, no ideological subterfuges. But this is not about a discourse free of coercion or about deliberation. Habermas‘ discourse ethics is a violation of open dialogue, of the art of conversation, which by nature cannot follow any ethics, other than the production of critical knowledge about domination and coercion.

This form of conversation has a long philosophical tradition and an equally long history of its oppression by governments. Plato’s dialogues create an opportunity to identify with Socrates‘ ideas. They are designed to help people think for themselves. The Socratic tradition asks about what is supposedly self-evident and encourages us to question it. Looking under the surface of reality reveals the immune system of the ideologies of power. Socrates is ready to die for his dialogical defiance of the authorities and ends his life with poison. Not very much unlike Mark Fisher who ended his life, in the face of an unresponding system, that negated effective help for a critical mind with crippling depression.

Another example is Oscar Wilde. He died subsequently to his imprisonment after a juridical fight with a nobleman. Not because he questioned the connection between social reality and aesthetic construction in his dialogues “The Decay of Lies” and “The Critic as Artist,” but because he, a homosexual, violated the rules of a reactionary society.

The still living filmmaker Alexander Kluge has had a multitude of conversations with countless partners, that can be used as resources to start your own critical thinking. At 92 he is still present in film and TV today and assists the mole work of self-knowledge and self-organization. He even made a a film about Capital: “News from ideological antiquity”, and the financial crisis: “fruits of trust”. Both films consist of plenty critically rich conversations to mobilize the viewers fantasy against the forces of realism.

A book as a conversation

In this book series we view conversation as a method of criticism, developed through free association and as an aesthetic resistance to the reproduction of culture and knowledge. Our conversations are criticism of dominant realist ideology, and political intervention against the conditions of cultural reproduction. Our book contains conversations, and at the same time, following the motto of Jorge Louis Borges: “Reading is thinking with another’s brain”, is a conversation with the reader.

In the introduction we treat the political economy of social power relations and the related political morale, which has now become a purely aesthetic and identitarian moralism. A moralism that immunizes itself through economic facts.

The conversations we gathered afterwards deal with work, the cultural industry and sexual practice and identity. In it we attempt to work out the exploitation of value and the self-utilization of individuals, and to pick them apart through dialogue, by pointing out that this constellation of work, the cultural industry and sex does not serve to satisfy the needs of individuals, but rather serves the exploitational interests of capital. Parallel to capitalist realism, the lazy magic of identitarian socialization is a cage for the integration of individuals into the “Kapitalverhältnis”. They are not meant to receive what they need to make their lives fulfilling and satisfying, they should rather satisfy the system and live for the interests of their identity. They should follow the label of their existence, as workers, consumers and people with certain sexual preferences, throughout their lives and function in these roles. Furthermore, they should keep their mouths shut and certainly not think for themselves.

Work serves as a tyrannical machine to prevent self-development, self-perception and self-determination. A diffusion mechanism for dispersion and distraction, similar to the culture industry, which has to serve as a “Haupt- und Staatsaktion” to demobilize creative energies. The package of measures to maintain the “Kapitalverhältnis” is closed by sexual racketeering, that depends on the methods of categorizing, clarifying, measuring and constantly discussing sexuality in empty phrases, academic lectures and NOT dialogues, advances the trivialization of sexual relationships and at the same time normalizes the outrage of reactionary rackets against free sexuality.

We counter this with a production of imagination and knowledge that is deliberately excessive. An unsystematic collection of resources for free use. To create an incentive system to think for yourself. To build on the countless topics we raise and get an impression of what it feels like to think with someone else’s brain. Our book is an offer for the creative use of one’s own knowledge in order to identify coercion and to learn to understand and dismantle it from one’s own perspective. A reading for a long winter. Until when? We don’t know.




Antisemitismus nach dem 7. Oktober – ein Gespräch mit Alex Gruber

Stefan: Am 7. Oktober 2023 hat die Hamas einen grausamen Terrorangriff auf Israel verübt. Im Anschluss daran ist es an deutschen Universitäten zu Pro-Hamas Kundgebungen gekommen. Die Teilnehmer_innen empfanden den generalstabmäßig geplanten Überfall auf wehrlose Menschen unter Beteiligung völlig enthemmter Zivilisten als eine legitime Form des Protestes gegen israelische Politik. Darüber hinaus scheint es so, dass viele der Pro-Hamas-Aktivist_innen in Europa lebende Juden als legitime Ziele ihres Hasses sehen; sie in Form von Sippenhaft für die Ereignisse im Nahen Osten verantwortlich machen. Es kam zu unzähligen Übergriffen. Der jüdische Student Lahav Shapira wurde ins Krankenhaus geprügelt. Eine Woche nach dem Angriff auf Shapira warfen Aktivisten dem Präsidenten der FU Berlin vor, seine „nichtarischen“ Studierenden nicht zu beschützen. Gemeint waren damit aber nicht die angegriffenen jüdischen Student_innen. Warum fällt dieser Wahn gerade auf den Unis auf so fruchtbaren Boden?

Ela: Ich habe das Gefühl, dass die Dead Kennedys 1980 mit „Holiday in Cambodia“ schon alles gesagt haben, was diese Fetischisierung von totalitären Regimen und Ideologien durch sogenannte linke „Intellektuelle“ und Student_innen anbelangt. Im Fall des Krieges in Gaza kommt dann halt noch erschwerend hinzu, dass es sich bei einer der Parteien in dem Konflikt um Israel handelt und die westliche Linke ja bereits in den 1960ern ihre Liebe zu „Freiheitskämpfern“ wie Leila Khaled entdeckt hat. Das hat inzwischen schon eine Tradition sozusagen, genauso wie Antisemitismus eine Tradition hat. Nur dass man heute halt so tut, als habe das nichts mit Antisemitismus zu tun, schließlich greife man ja „nur“ Zionisten an. Und das sei ja legitim. Nur war bekanntlich schon in der UdSSR der Schmäh beliebt, Juden ihren angeblichen Zionismus zum Vorwurf zu machen und sie der Verschwörung zu bezichtigen, um sich den eigenen Antisemitismus nicht eingestehen zu müssen.

Alex: Es ist eines der größten – interessierten – Missverständnisse, dass Antisemitismus etwas mit Bildung zu tun habe, genauer: dass Bildung vor Antisemitismus „schütze“ bzw. der Antisemitismus mit dem Grad der Bildung abnehme. Sieht man sich die Geschichte des modernen Judenhasses an, könnte man fast das Gegenteil annehmen. Der Antisemitismus war immer sehr stark an den Universitäten und in den akademischen Eliten, im – nicht nur – burschenschaftlich-studentischen Milieu verbreitet. Man denke nur an den Berliner Antisemitismusstreit von 1879 bis 1881 oder die antisemitischen Auseinandersetzungen an den Universitäten in den 1920er-Jahren. Der Antisemitismus versteht sich selbst als Gesellschafts- und Systemkritik; und Intellektuelle, die quasi ihrer Profession wegen damit beschäftigt sind, sich auf Sinnsuche in einer von Herrschaft charakterisierten Gesellschaft zu begeben, fühlen sich offensichtlich von der unangepasst und rebellisch auftretenden Dimension der antisemitischen Welterklärung angesprochen – die allerdings, eine konformistische, eine autoritäre Rebellion ist.

Dass der Antisemitismus heute an den Universitäten wieder so ein Comeback erlebt, und das besonders in den sich selbst als progressiv verstehenden Disziplinen und unter den sich als im weitesten Sinne links und kritisch verstehenden Studenten, hat auch etwas mit der Transformation des Judenhasses nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus und der militärischen Beendigung seines Vernichtungsprojekts zu tun. Einer der ersten, die das prägnant beschrieben haben, war Jean Améry mit seiner Rede vom „ehrbaren Antisemitismus“. Einerseits ist das nichts Neues, denn der Antisemitismus hat immer schon Wandlungen erfahren; andererseits ist das Neue, dass der Antisemitismus im Namen der Menschenrechte, des Antinationalismus, Antikolonialismus und anderer progressiver Bewegungen auftritt. So gilt als eine der Lehren aus dem Nationalsozialismus zum Beispiel, dass der Nationalismus überholt sei, zu Gewalt und Leid führe und deswegen überwunden werden müsse. Und im Namen dieses Anti- oder besser Post-Nationalismus wird den Juden, die heute in der Chiffre der „Zionisten“ angegriffen werden, dann vorgeworfen, sie hätten diese Lehre aus dem Nationalsozialismus nicht gezogen. Vielmehr hätten sie just zu dem Zeitpunkt, an dem die Welt das Übel des Nationalismus zu spüren bekommen, es darauffolgend erkannt und auf seine Überwindung gesetzt hätte, den Nationalismus für sich entdeckt. Das ist einer der Hauptvorwürfe gegen Israel heute: dass es atavistisch und anachronistisch sei, quasi das Überbleibsel wie paradigmatische Beispiel einer auf Nationalismus, Suprematismus und (Siedler-) Kolonialismus setzenden Welt; dass es statt der allgemeinen und universellen Menschenrechte auf partikulare (Staatsbürger-)Rechte setze und schon deswegen rassistisch sei.

Wenn man sich ein wenig in der Geschichte des Antisemitismus auskennt, erkennt man, dass auch diese Figur nicht neu ist. Schon zu Zeiten der europäischen Aufklärung wurde den Juden von Aufklärern vorgeworfen, „verstockt“ zu sein und an ihrem alten religiösen, jüdischen und damit partikularen Gesetz zu hängen, statt sich den universalen Forderungen der Vernunft und des Fortschritts anzuschließen. Eine ganz ähnliche Figur lässt sich heute beobachten: Da wird den Juden, die Israel nicht ablehnen, vorgehalten, „verstockt“ am Prinzip des Nationalstaats festzuhalten und sich partikularen Schutz und Sicherheit von ihm zu erwarten, anstatt sich den postnationalen Vorstellungen und Versprechungen eines universalen Weltbürgerrechts oder ähnlichem anzuschließen. Dieser „Wahn vom Weltsouverän“, wie Gerhard Scheit das so treffend genannt hat, ist allerdings bloße Ideologie: eine regressive Wunschvorstellung, die dem Kapitalverhältnis entspringt. Einerseits stellt sie eine ideologische Verdopplung des Weltmarkts im Politischen dar, die andererseits zugleich den imaginierten Weltsouverän an die Stelle des von Vermittlungen geprägten realen Weltmarktes setzen möchte. Da dies aber nicht möglich ist und es keinen Einheit stiftenden Weltsouverän in der immer schon herrschaftlich in sich gespaltenen Gesellschaft des Kapitals geben kann, deswegen kann die ersehnte Einheit nur negativ hergestellt werden: indem ein Störenfried ausgemacht wird, der der schönen neuen Weltordnung im Wege stehen soll. Die Fahndung nach diesem Störenfried, nach dem bösen Souverän nationaler Macht, der den guten Souverän des (Völker-)Rechts unterminiere, das ist es, was sich im Hass auf Israel und in den Projektionen, mit denen dieser Hass bebildert wird, Ausdruck verleiht.

Stefan: Gerhard Scheits wunderbare Studie über die „Dramaturgie des Antisemitismus“ behandelt das Bedürfnis der Antisemiten den Hass auf Juden ‚spielbar‘ zu machen, wie er schreibt. Dieses „obsessive Bedürfnis, jene, die man verfolgt, vertreibt und ermordet, gleichzeitig mit verteilten Rollen zu spielen“. Es geht um die Inszenierung eines „erfundenen Judentums“, das sich möglichst gut für die Projektion des eigenen Sündenbockbedürfnisses eignet. Haben wir es bei diesen Protestinszenierungen an den Unis nicht auch ein wenig mit solchen Motiven zu tun?

Alex: Ganz definitiv. Ich habe hier etwa Bilder antiisraelischer Studentenproteste vor Augen, ich weiß leider gerade nicht wo genau diese stattgefunden haben, auf jeden Fall aber nach dem 7. Oktober, auf denen zu sehen ist, wie eine als israelische Soldatin verkleidete Aktivistin, auf als Palästinenser kostümierte Aktivisten zugeht, diese nur berührt oder mit einer Art Pulver oder Puder besprüht, und sie sinken theatralisch „tot“ zu Boden: Es ist das alte Bild des jüdischen Giftmischers oder Brunnenvergifters, das hier aktualisiert auf die israelischen Streitkräfte projiziert wird. Wie oben schon kurz angesprochen: Der Hass muss und will bebildert werden, das abstrakte Gefühl allein scheint nicht auszureichen, weil es noch nicht unmittelbar genug ist. Daraus speist sich der Konkretionswahn des Antisemitismus, der Vermittlung und – psychoanalytisch gesprochen – Symbolisierung nicht kennen möchte: Das Gefühl und das Bild muss unmittelbar mit der Person verschmolzen werden, damit – in einem nächsten Schritt – zusammen mit der Person auch das Bild und das Gefühl aus der Welt geschafft, vernichtet werden kann. Till Gathmann hat in der demnächst erscheinenden Ausgabe der sans phrase einen sehr instruktiven Artikel über diese Funktion des Bildes für den Antisemitismus – auch nach dem 7. Oktober – geschrieben.

Ela: Man könnte den Antisemitismus als eines der ältesten Memes der Menschheitsgeschichte bezeichnen. Er ist so sehr in die Menschen und die Geschichten, die sie sich von der Welt erzählen, eingeschrieben, dass die Aktualisierung und Projektion auf die gegenwertigen Umstände ganz einfach „passiert“. Es ist ein manichäisches Weltbild, das sich da offenbart, und das wird momentan gerade von den Leuten zur Schau gestellt, die sonst immer die Meinung vertreten, man müsse alles „differenziert betrachten“. Und dann greifen sie eben gerne auf die altbekannten (Feind-) Bilder zurück, die sich über die Jahrhunderte schon bewährt haben, das hat dann fast etwas Beruhigendes, etwas Heimeliges. Wie Gerhard Scheit sagt, das Unheimliche am abstrakt gewordenen, sich selbst vermehrenden Reichtum wird auf das Objekt – die Juden – projiziert. Man schafft es also, das eigene Unbehagen mit der kapitalistischen Realität auszulagern, indem man ihm ein Gesicht verleiht, es zum konkreten, personifizierten Feindbild aufbaut, das man fortan, so glaubt man, vollkommen gerechtfertigt bekämpft, während man in Wahrheit nur seinen inneren Kampf, seine inneren verdrängten Wünsche, auf einen Feind im Außen projiziert. Das hat fast etwas Magisches.

Die wenig überzeugend nachgeschobenen Bekenntnisse durch Aktivist_innen, dass Antisemitismus natürlich überhaupt nicht gut sei und dass man das – neben XYZ – natürlich auch klar ablehne und bekämpfe, kann man ganz gut mit einem Satz von Adorno/Horkheimer zusammenfassen: „Wenn der Bürger schon zugibt, daß der Antisemit im Unrecht ist, so will er wenigstens, daß auch das Opfer schuldig sei.“ (Dialektik der Aufklärung, 203)

Die Personifizierung der Juden mit dem Geld, mit dem Zins, wird auch immer wieder von sogenannten Antizionisten aufgewärmt. 2019 hat z. B. die demokratische Kongressabgeordnete Ilhan Omar angedeutet, dass eine pro-israelische Lobbygruppe sich politischen Support erkaufe. Erst vor kurzem kam es zur Veröffentlichung mehrerer alarmistischer Videos von Influencern in den sozialen Medien, angesichts des Angriffs Israels auf die Pager von Hisbollah-Mitgliedern im Libanon, bei dem die Geräte explodierten und Menschen töteten, bzw. verletzten.

In einem der Videos behauptet eine junge Frau, Israel habe Zugriff auf die „Geräte von Zivilisten“, es sei schlimmer als jede Episode von Black Mirror: „Dieses Land ist so stark finanziert, dass es die (…) fortschrittlichste Kriegsführung der Welt hat (…), dass es in der Lage ist Menschen gezielt mit ihren Geräten anzugreifen, dass es in der Lage ist deren eigenen Geräte als Waffen gegen sie zu verwenden (…) wir hätten Israel nie unterstützen dürfen, das sind Terroristen mit viel Geld“ – dass Regime wie der Iran viel Geld aufwenden um Hamas oder Hisbollah zu finanzieren, spielt keine Rolle, da die Geldgeber keine Juden sind.

Hier kommt dann natürlich auch wieder die gute alte Legende von der jüdischen Barbarei und Grausamkeit zur Anwendung: Israel verwende Captcha (Completely Automated Public Turing Test to Tell Computers and Humans Apart), also jene Technologie, die von Computern verwendet wird, um Menschen und Computer auseinanderzuhalten, um gezielt Zivilisten anzugreifen. Das erinnert an die Memes über „jüdische Space Laser“: Die amerikanische Kongressabgeordnete Marjorie Taylor Greene hatte 2018 in den sozialen Medien die Vermutung aufgestellt, die Waldbrände in Kalifornien seien durch „jüdische Weltall-Laser“ ausgelöst worden. Auch Behauptungen im Zusammenhang mit Technologie und dem Einsatz von Tieren durch das israelische Militär sind immer wieder im Umlauf. Sämtliche Vogelarten in und um Israel wurden inzwischen schon bezichtigt, als israelische Spione zu arbeiten. Als 2010 in Ägypten mehrere Haiangriffe verzeichnet wurden, behauptete man israelische Agenten hätten die Haie mithilfe von GPS an die Küste gelockt. Seit ca. 2015 wird die Behauptung verbreitet, das israelische Militär verwende Delphine für Spionagetätigkeiten, und der Iran hat 2007 vierzehn Eichhörnchen festgenommen, denen ebenso Spionage für Israel vorgeworfen wurde.

Auch die seit jeher beliebte antisemitische Ritualmordlegende hüllt sich in moderne Gewänder und feiert mit „Kindermörder Israel“ und der Parole, jede 10 Minuten sterbe in Gaza ein Kind, die die WHO verbreitete – im Zweifelsfalls bitte ich darum, die Rechnung selbst anzustellen –, sowie in der seit 2009 immer wieder verbreiteten Behauptung, die IDF entnähmen Zivilist_innen die Organe, bevor man sie töte, um damit zu handeln.

Stefan: In dem von dir mitgestalteten Sammelband „Gegenaufklärung“ erarbeitet ihr eine Kritik der postmodernen akademischen Philosophie, die „nicht nur eine philosophische Strömung, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Tendenz“ ist. Sie ist „sowohl Reflex der objektiven Unbrauchbarkeit der Welt unter den Verhältnissen spätkapitalistischer Vergesellschaftung als auch der Versuch einer Sinnstiftung ebendieser Verhältnisse“. Im Frühling hat sich ja Judith Butler wieder zum Terroranschlag vom 7. Oktober geäußert.

Alex: Der Poststrukturalismus ist auf eine Art eine ideologische Reaktion auf die Verhältnisse, wie ich es oben beschrieben habe. Auch er geht gegen die Vermittlung an und will in Anschluss an Heidegger, auf den sich fast alle namhaften Poststrukturalisten unmittelbar beziehen, an die Stelle der Vermittlung ein erstes Prinzip – sei es der Mangel, die Differenz, die Kontingenz, die Spaltung oder die Lücke –setzen, das als eine Art treibende Kraft alles aus sich heraus entlässt. Allerdings behaupten auch die Poststrukturalisten aus Heideggers Nationalsozialismus gelernt zu haben, sodass sie erklären, über die Metaphysik positiver Prinzipien hinaus zu sein – ganz ähnlich wie der Postnationalismus behauptet, über den Nationalismus hinaus zu sein und doch nur ein ideologischer Widerschein dessen ist, der die Souveränität einfach auf eine ganz allgemeine und universelle Ebene gehoben sehen will. Dass dieses erste Prinzip „vor-ursprünglich“ oder abwesend sei, ändert eben nicht das Geringste daran, dass es als erstes Prinzip fungiert. Das ist es, was wir in unserem Sammelband an einigen prominenten poststrukturalistischen Denkern zeigen; das ist es, was ich in der sans phrase an der neopaulinischen Wendung hin zu einem abstrakten Universalismus bei Alain Badiou oder auch Achille Mbembe illustriert habe – und das ist es auch, wodurch der Antisemitismus der meisten dieser Denker vermittelt ist.

Ähnlich wie der „Wahn vom Weltsouverän“ lässt sich der – wie man das vielleicht in Anlehnung nennen könnte – „Wahn von der An-Arché“ oder der „Wahn von der Vor-Ursprünglichkeit“ nur regressiv realisieren: indem man sich an all dem schadhaft hält, was an die Widersprüche der eigenen Denkform, die man nicht reflektieren, sondern denen man handstreichartig entkommen möchte, erinnert. Und wenig überraschend landet diese Bewusstseinsform dann letztlich auch beim absoluten Feind: dem jüdischen Staat, der überwunden und dekonstruiert werden müsste, um die schöne neue Welt der Kontingenzen und Differenzen zu verwirklichen. Das treibt nicht nur Judith Butler an, sondern die meisten dieser Denker, wie man an Büchern wie „Deconstructing Zionism“ sehen kann, deren Autorenliste sich wie ein Who-is-Who des aktuellen Poststrukturalismus liest und in dem Israel mit der Metaphysik (der Präsenz) gleichgesetzt wird, die dekonstruiert und überwunden werden müsse, um den herrschaftlichen Verstrickungen der Moderne zu entkommen.

Ela: Judith Butler hat ja in ihrer Rede für BDS 2013 ebendiese Punkte angesprochen (Judith Butler’s Remarks to Brooklyn College on BDS | The Nation), die Israel erfüllen müsste, diese „schöne neue Welt“ zu verwirklichen. Und ein besonderer Dorn im Auge dürfte eben das israelische Rückkehrgesetz sein, das zwar „Juden aus allen Teilen der Welt auf Antrag“ einwandern lässt, „während dieses Recht den Palästinensern verweigert wird, die 1948 oder später durch illegale Siedlungen und neu gezogene Grenzen gewaltsam ihrer Heimat beraubt wurden“. Folglich sieht Butler als weiteren kritischen Punkt die Tatsache, dass jene „die die Staatsbürgerschaft anstreben, sich zu Israel als jüdisch und demokratisch bekennen, wodurch die nichtjüdische Bevölkerung erneut ausgegrenzt und die gesamte Bevölkerung an eine bestimmte und umstrittene, wenn nicht gar widersprüchliche Version der Demokratie gebunden wird“. Wenn man also Israel seines jüdischen Charakters beraubte, wäre es denkbar für Butler Israel anzuerkennen. Zudem stellt sich die Frage, warum gerade die Identität Israels als jüdischer Staat ein solches Problem darstellt, während die demokratische Identität sämtlicher sonstwie religiös begründeter Staaten anzuzweifeln Butler kaum in den Sinn käme.

Warum der jüdische Charakter des israelischen Staates für die Juden weltweit aber von größter Bedeutung sein könnte, hat bereits Jean Améry in seinen Texten über den „neuen Antisemitismus“ herausgearbeitet: Demnach sei Israel jener Staat, der den Juden der Welt zumindest „virtuelles Asyl“ (Der neue Antisemitismus, 91) sei, denn seit es Israel gebe, wissen diese „dass, wenn immer es ihm [Anm.: dem Juden], wo immer, an den Kragen ginge, ein Fleck Erde da ist, der ihn aufnähme, unter allen Umständen. Er weiß, dass er solange Israel besteht, nicht noch einmal unter schweigsamer Zustimmung der ungastlichen Wirtsvölker, günstigenfalls unteren deren unverbindlichem Bedauern, in den Feuerofen gesteckt werden kann.“ (68) Im weiteren Verlauf der Rede wird einem dann aber klar, dass es Butler gar nicht so sehr um eine tatsächlich ernsthafte Auseinandersetzung mit den Positionen der „anderen“ Seite geht, sondern vielmehr um die immergleiche Verbreitung sogenannter „Fakten“, wie zum Beispiel dem von Butler behaupteten Ausschluss von Palästinenser_innen vom Militärdienst in Israel, der dazu führe, dass diese auch vom „Zugang zu Wohnraum und Bildung“ ausgeschlossen seien. Dass in Israel lebende Araber_innen in Israel mitnichten vom Militärdienst ausgeschlossen sind, sondern vielmehr im Gegensatz zu Juden nicht dazu verpflichtet sind, dass diese Nichtverpflichtung auch für alle anderen nichtjüdischen Einwohner_innen Israels, sowie ultraorthodoxe Jüd_innen gilt, denen jedoch ein freiwilliger Dienst in der Armee offensteht, so genau ist Butler nicht, liefe das doch ihrer Botschaft zuwider. Schon allein der Aufmacher der Rede ist ein Witz, denn da freut man sich, dass das Brooklyn College die BDS-Veranstaltung, trotz einer versuchten „Kampagne sie zum Schweigen zu bringen“ ermöglicht habe, und damit das „Prinzip der akademischen Freiheit“ hochhalte, das wohl für israelische Akademiker_innen nicht zu gelten scheint, wenn man sich BDS-Kampagnen ansieht und deren notorische Versuche Israelis von Campussen fernzuhalten.

Stefan: Es scheint so, als hätten die, die sonst wegen nichts ein Unrechtsbewusstsein haben, dann bei den Juden umso mehr ein Unrechtsbedürfnis. Jeffrey Herf hat 2016 ein Buch über „Undeclared Wars with Israel“ geschrieben. Also eine Geschichte des ostdeutschen Regimes und der westdeutschen Linken im Umgang mit Israel in den Jahren von 1967 bis 1989. Darin dokumentiert er unter anderem die unzähligen Waffenlieferungen der STASI und des ostdeutschen Verteidigungsministeriums für die PLO. Eine Antisemitismusinterpretation derer sich Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung annehmen, sieht den Antisemitismus als politisches Ventil: Unterdrückte Schichten erhalten erlaubte Objekte der Aggression. Das passt auf den akademischen Antisemitismus nicht. Sie ergänzen, die antisemitische Reaktionsweise sei eng mit Formen der faschistischen Kollektivbildung verbunden und ohne diese und das Kapitalverhältnis nicht denkbar. Fehlt den akademischen Antisemiten „schlicht“ ein Begriff vom Kapital?

Alex: Ja, aber nicht in dem Sinne, dass man ihnen den nur präsentieren müsste, und dann würden sie schon von ihrem Antisemitismus lassen, weil sie ja irgendwo doch das Richtige wollen: eine Welt ohne Herrschaft. Das ist so ein Moment, das auch im – mittlerweile außer Mode gekommenen – Begriff vom „verkürzten Antikapitalismus“ mitschwingt, dass man den nur um einen Begriff vom Kapital „verlängern“ müsste. Den akademischen Antisemiten geht es gar nicht um Kritik und Abschaffung der Herrschaft. Vielmehr wollen sie sich selbst oder das Prinzip, das sie als Souverän projizieren, an die Stelle des Kapitals und seiner Vermittlungen setzen – und behaupten dann, dieses herrschaftliche Gebaren sei die Abschaffung der Herrschaft. Auch hier besteht wieder eine Parallele zur Aufklärung, in deren politischen Theorien ja auch behauptet wurde, wenn alle herrschten, herrsche niemand und die Herrschaft sei abgeschafft. Dass das offensichtlicher Widersinn ist, wird dadurch gelöst, dass alle negativen Seiten des Souveräns, als der man sich selbst setzen möchte, von diesem Souverän abgespalten und auf den jüdischen Staat projiziert werden, der solcherart zum ultimativ Bösen schlechthin mutiert, von dessen Überwindung das Wohl und Wehe der Menschheit abhänge: „Palestine will set us free“, rufen die Aktivisten, deren Antisemitismus, so gesehen, nicht Ausfluss ihrer Herrschaftskritik, sondern ihres gegen das Bestehende aufbegehrenden Wunsches und Drangs nach unmittelbarer Herrschaft ist. Erneut zeigt sich hier der Charakter der konformistischen oder autoritären Rebellion, von der ich eingangs gesprochen habe.

Stefan: Detlev Claussen hat über die „gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus“ gearbeitet und versucht die Erkenntnisse aus der Dialektik der Aufklärung auf ein neues Fundament zu stellen. Ein Schlüsselsatz für die heutige Situation darin ist: „Die antisemitische Apologie gilt nicht der Gesellschaft, sondern der eigenen Gewalttätigkeit. Exakt trifft dies auf den nach dem 11. September vermehrt von Islamisten propagierten Antisemitismus zu, der keineswegs neu ist. Der Bezug auf Israel und die Juden ist vollkommen willkürlich, um ubiquitär Anschlagsziele und die Maßlosigkeit der eigenen Gewalt zu legitimieren.“

Ela: Ich finde dieser Wille zur Herrschaft zeigt sich auch gut im Versuch von BDS-Aktivist_innen bzw. Free-Palestine-Aktivist_innen, in den sozialen Medien den Diskurs zu dominieren, und Künstler_innen und Medienschaffende online zur Positionierung zu zwingen, indem man diese permanent mit Positionierungswünschen und -drohungen zumüllt. BDS hat ja schon immer – mehr oder weniger erfolgreich – versucht, mit Druck, Drohungen, Belästigung und Zwang die Leute dazu zu bringen, sich zu fügen und seine Message zu verbreiten. Da werden einfach Kommentarspalten unter sämtlichen Videos zugespamt, die nicht einmal annähernd etwas mit Israel oder dem Gazastreifen – teilweise ja noch nicht einmal etwas mit Politik – zu tun haben, bis die Betroffenen sich endlich dazu durchringen, „halt zumindest irgendwas“ zum Konflikt zu sagen. Virtue Signaling ist die harte Währung in diesem Konflikt, das rote Dreieck und die Wassermelone sind ihre Erkennungszeichen. Künstler_innen und Medienschaffende, die sich dem verweigern, die sich nicht dazu zwingen lassen Stellung zu beziehen, die sich nicht davon abhalten lassen in Israel aufzutreten, wird „Genozid-Artwashing“ vorgeworfen bzw. ihnen unterstellt – und das scheint ja derzeit die schlimmste aller Beleidigungen zu sein – „Zionisten“ zu sein.

Stefan: Mit dem Sieg über den nationalsozialistischen Antisemitismus sehen Adorno und Horkheimer das Aufkommen eines völkerrechtlich verbrämten Neo-Antisemitismus. Die Begriffe Ticketmentalität und progressives Ticket kommen in den Fokus. Adorno benutzt die Formulierung, den Neo-Antisemitismus zeichne „psychologischer Totalitarismus“ aus, in dem mit dem Verschwinden des manifesten Antisemitismus zugleich die Hemmungen fallen, die antisemitischen Phantasien zu zügeln.

Ela: Diese Ticketmentalität zeigt sich auch in den Studentenprotesten pro Palästina. Konsequenterweise müssten sogenannte progressive Kräfte doch auch in diesem Fall progressive Kräfte unterstützen. Israel ist bekannt für seine progressive Politik, wenn es um LGBTQ-Rechte geht etc. Aber wir wissen, als ordentlicher Linker ist man einfach nicht Pro-Israel. Deswegen hat man eigens für Israel den Begriff des „Pinkwashing“ erfunden. Und deswegen kauft man meistens mit der Position Pro-Palästina auch die Position Pro-Freiheitskämpfer und akzeptiert, dass diese Freiheitskämpfer dann eben nicht für LGBTQ-Rechte einstehen, sondern eher für das Gegenteil. Und natürlich nimmt man mit dem Ticket dann auch den mehr oder weniger offenen Antisemitismus in Kauf, den diese Freiheitskämpfer und ihre Anhänger gern vom Stapel lassen und schreit sich in Rage und verbreitet noch die krudesten Verschwörungstheorien über Israel. Am Ende richtet sich die Wut gegen all jene, die anderer Meinung sind und damit nicht zur „Gemeinschaft der Rechtschaffenen“ gehören. Am Ende „verwandelt der sich ausbreitende Verlust der Erfahrung auch die Anhänger des progressiven Tickets (…) in Feinde der Differenz“. (Dialektik der Aufklärung, 216)

Stefan: Die KPÖ hat sich ja auch hervorgetan wieder mal. Die Publikationen auf der offiziellen Homepage sind ja sehr gemäßigt im Vergleich zu den persönlichen Wortmeldungen ihrer Mitglieder, die als erste Reaktionen zum Terroranschlag der Hamas gekommen sind. Offiziell ist man gegen Krieg und für Abrüstung, also gegen die „Kriegslogik“. Dass zur Kriegslogik dazugehört, dass man ohne militärische Mittel sich gegen diese nicht zur Wehr setzen kann, wird dabei unterschlagen. Darüber hinaus sind die wütenden Stellungnahmen gegen Putin bei seinem imperialistischen Angriffskrieg gegen die Ukraine weitgehend ausgeblieben. Da stand stets die „Komplexität der Situation“, die „Provokation durch die NATO Erweiterung“ und der diffuse Wunsch nach „aktivem friedenspolitischen Engagement“ im Vordergrund. Bei Israel war der Ton von Anfang an viel schärfer. Man könnte zusammenfassend sagen, die KPÖ ist gegen Angriffskriege, außer Genosse Putin führt sie durch. Vielleicht liegt es aber auch am neu entdeckten Antiimperialismus in der KPÖ. Der ja mit der postmodernen Philosophie wieder starken Auftrieb erhalten hat.

Alex: Ich glaube nicht, dass bei der Einschätzung des Ukraine-Kriegs durch die KPÖ „die Komplexität der Verhältnisse“ im Vordergrund stand. Um Komplexität ging es doch gerade nicht in den schablonenhaften und gehaltlosen Phrasen von einer angeblichen „Provokation durch die NATO-Erweiterung“ oder ähnlichem. Stattessen hat da der alte, noch aus Sowjetzeiten stammende prorussische, Reflex eigesetzt – der über weite Strecken einfach ein antiwestlicher ist. Daran anschließend glaube ich auch nicht, dass diese Leute den Antisemitismus auf einem Ticket in Kauf nehmen; dieser ist vielmehr Ausdruck ihres eigenen Weltbilds und der Art und Weise, wie sie sich einen Reim auf das gesellschaftliche Rätsel des Kapitals und seines Souveräns machen. Es ist der alte Antiimperialismus, der modernisiert und in neue, postmoderne oder postkoloniale Gewänder gekleidet fröhliche Urständ feiert. Mit ML-Rhetorik lockt man heute kaum noch einen Hund mehr hinter dem Ofen hervor, und auch wenn Leute wie Willy Langthaler oder Michael Pröbsting mit dem 7. Oktober ihren zweiten oder vielleicht sogar schon dritten Frühling erlebt haben, sind sie auf eine Art doch Auslaufmodelle, was man nicht zuletzt daran merkt, dass auch sie ohne den postmodernen oder postkolonialen Jargon nicht mehr auskommen.

Interessant ist aber, wenn man etwa Judith Butler hernimmt, wie sehr all diesem Jargon und dieser Phraseologie zum Trotz, das zugrundeliegende Weltbild sich letztlich auf ganz ordinären Antiimperialismus reduziert. Sexualität als Herrschaftspraxis übe letztlich nur der Westen aus. Die Burka, die der islamistischen Geschlechtersegregation der Taliban Ausdruck verleiht, stellt für sie hingegen eine „Übung in Bescheidenheit und Stolz“ dar, mit der die Frauen, die sie tragen, nicht nur einen Zusammenhang mit ihrer Familie und Kultur präsentieren sollen, sondern mit der sie vor allem ihrem Widerstand gegen die westliche Hegemonie und deren Sexualitätsdispositive Ausdruck verliehen. Die Attentäter von 9/11 sollen die USA „affiziert“ und ihnen eine Lektion in Sachen „vor-ontologischem“ Gefährdet-Sein und unaufhebbarer Verletzbarkeit des Lebens erteilt haben. Dieses Gesprächsangebot hätten die USA jedoch im Namen von Sicherheit und Souveränität ausgeschlagen, im Namen einer uneinlösbaren Illusion, der nur durch die Vernichtung der angeblichen Gefährder Genüge getan werden könne: der War on Terror erweise sich so als antiislamischer Krieg gegen die mittels des Begriffs Terrorismus aus der Menschheit Ausgeschlossenen. Ganz ähnliche Vorwürfe macht Butler auch den Israelis, die sich und ihre Sicherheit über alles stellten, was nur gelinge, wenn sie ein Mauer um sich zögen, um die Anderen draußen zu halten und sie als Personifizierung des – prinzipiell unaufhebbaren – Gefährdet-Seins unterjochen, verfolgen und vernichten.

Insofern gibt es dann doch einen Unterschied des postmodernen zum klassisch marxistisch-leninistischen Antiimperialismus. Während letzter noch ebenso hehre wie hohle Phrasen von Befreiung mit sich herumschleppte, ist ersterer von einem zutiefst resignativen Zug geprägt, der aber zugleich herrisch auftrumpft. Die allgemeine Misere wird verallgemeinert und als „vor-ontologischer“ Zustand der Verletzlichkeit und des Ausgeliefertseins präsentiert, dem man sich zu fügen und in den man sich einzufühlen habe. Mit aller Wut und allem Hass wird hingegen derjenige verfolgt, der sich diesem verallgemeinerten Opferzustand nicht fügen möchte: wenig überraschend, dass diesen Denkern und Denkerinnen der Zionismus, der sich die Überwindung der jüdischen Opferrolle im Bestehenden zum Ziel gesetzt hat, als absoluter Feind ins Fadenkreuz gerät.

Ela: Dara Horn schreibt in „People love Dead Jews“, dass Juden nur interessant sind, wenn ihr Tod einen „klaren Zweck“ erfüllt, nämlich jenen, „uns etwas zu lehren“. Juden sind damit nur in ihrer Funktion als Metapher von Bedeutung, wenn man an ihrem Beispiel aufzeigen kann, was passieren könnte, wenn man z. B. eine Gruppe von Menschen ausgrenzt, wohin dieses und jenes letztendlich führen könnte, als einprägsames Beispiel, als „Dienst an der Menschheit“.

Man wirft aber absurderweise den Israelis vor, dass sie sich diesmal nicht ohne Widerstand ihrer Auslöschung ergeben, dass sie nicht einfach „leise sterben“, um dann wieder posthum betrauert werden zu können. Die Diskussion um Sicherheitsmaßnahmen, die Diskussion um die Mauer ist ja vollkommen absurd, wenn man sich bewusst macht, wie viele Terroranschläge es in Israel allein im Jahr des Beginns des Mauerbaus, 2002, gegeben hat. Das waren um die 20 Anschläge. Das waren Bombenanschläge, das waren Messerattacken, das waren Raketenbeschüsse. Wenn man sich die Liste der Terroranschläge in Israel ansieht, erkennt man außerdem, dass es seit 1953 kaum ein Jahr gab, in dem keine Anschläge passierten. Dieses Jahr waren es ja bereits 8 Angriffe, wenn man von den Raketen absieht, die täglich reingeschossen werden. Das öffentliche Interesse am vergangenen Leid von Juden lässt sich eben nicht in gegenwärtigen Respekt für lebendige Juden übersetzen.

Dara Horn formuliert lapidar: „Juden sind Menschen, die aus moralischen und erzieherischen Gründen eigentlich tot sein sollten.“

Gespräche gegen die Wirklichkeit

Liebe Leute,

unser drittes Buch der Reihe halbwertszeit ist fertig. „Gespräche gegen die Wirklichkeit“ kann ab jetzt beim Verlag oder in der Buchhandlung eures Vertrauens bestellt werden. Und diesmal würden wir euch auch darum bitten uns dadurch zu unterstützen, dass ihr ein Exemplar kauft. Auch wenn ihr uns bisher nur von unserem Blog https://halbwertszeit.at/ kennt.

Das aktuelle Buch beinhaltet über 200 Seiten Gespräche (für wohlfeile 12 Euro!) über Zeus und Soyboys, über den Wahnsinn der Leistungsgesellschaft und den Arbeitswahn, aber auch über romantische Computerspiele und den Ekel den die deutsche Kolonialliteratur bei uns hervorruft. Es wird über Arno Schmidts Karl May Interpretation ebenso gesprochen, wie über Autofahren in Wien. Und natürlich findet sich auch die Fortsetzung unseres Gesprächs „Gegen Ladybrains und Schminkischminki“ darin.

Der Link zum Verlag ist hier:

Es gibt auch noch einige Restposten von den ersten beiden Bänden.

Wir würden uns sehr über eure Unterstützung freuen!

Vielen Dank!

Ela und Stefan

Femizide bekämpfen, aber nicht unbedingt für Frauen …

Der von uns hochgeschätzte Verbrecher Verlag bringt jedes Jahr ein Spektrum interessanter und lesenswerter Bücher heraus und macht mit der darin aufgefundenen Bandbreite an kritischer Literatur immer wieder Lust darauf mehr aus dem Sortiment zu lesen. Wir haben uns für einen Titel entschieden, der, nach unserer intensiven Beschäftigung mit dem Thema der gesellschaftlichen Gewalt gegen Frauen, hier nachzulesen, klang wie die ins Buch gebrachte Synopsis unserer Arbeit. Spoiler: Es geht um Femizide.

Der Begriff des Femizids

„Femi[ni]zide. Kollektiv patriarchale Gewalt bekämpfen“ ist das Werk eines „Autor*innenkollektivs“, das sich BIWI KEFEMPOM nennt. Diese Abkürzung bedeutet „Bis wir keinen einzigen Femi(ni)zid mehr politisieren müssen“. Die Autorinnen, die sich im Buch dann trotz kollektiven Umschlagsnamens, namentlich und mit Biographie vorstellen, befassen sich intensiv mit dem Begriff des Femi(ni)zids und zeichnen die Entstehung einer Bewegung nach, die sich gegen die durch ihn zum Ausdruck gebrachte Gewalt gegen Frauen in Stellung bringt. Dabei werden besonders die politischen Strategien zur Politisierung von Femi(ni)ziden ins Auge gefasst und die politische Praxis der Protestformen, die darin zur Anwendung kommen, dargestellt. An diesen Stellen glänzt das Buch durch detailreiche zeithistorische Abbildung und die genaue Erfassung politischer Zusammenhänge, die zugleich als Inspirationsquelle für neue Bewegungen verstanden werden können. Hier entsteht die Möglichkeit aus einem Text heraus eine Praxis zu imaginieren, in der politische Organisation und Widerstand möglich sind. Es geht um die Anleitung zu feministischen Raumnahmen die zur Begegnung, Vernetzung und Politisierung genutzt werden können, die die Trennung von privat und öffentlich durchkreuzen und Vereinzelung und Ohnmacht entgegenwirken können. (vgl. 127f.) Der Kampf gegen die patriarchalischen Gewaltstrukturen soll bewusst zwischen aktiver Verteidigung „Frauenpatrouille“ und künstlerischer Aneignung „Straßentheater“ stattfinden. (vgl. 136) Zur Erforschung der Grundlagen der herrschenden Gewaltverhältnisse sollen feministische Genealogien entwickelt werden, die die historischen Verläufe der Gewaltentwicklung explizit machen und die Erarbeitung einer feministischen Geschichtsschreibung ermöglichen. (vgl. 23f) Diese soll eine Identifizierung und Infragestellung von rechtfertigenden Narrativen misogyner Gewalt durch patriarchale Institutionen ermöglichen. (vgl. 27)

Wir sind mit dem Ziel dieses Buches solidarisch. Besonders die letzten Sätze im vorigen Absatz könnten das Motto unseres momentanen Projekts einer feministischen Geschichte Österreichs sein. Die Aufklärung über patriarchale Gewaltverhältnisse und die Erarbeitung von Begriffen zu ihrer Kritik steht auch im Zentrum unserer publizistischen Tätigkeit. Darüber hinaus sehen wir auch den Sinn einer interventionistischen Textproduktion, die einen Anspruch über das Erteilen von guten Ratschlägen hinaus erhebt. Brauchbare Interventionen wecken Gefühle, indem sie den Gewaltverhältnissen durch die explizite Darstellung der konkreten Gewalt die Maske herunterreißen. Die Sprache der Verhältnisse ist die Sprache der Gewalt. An diesem Faktum kommt kein interventionistischer Text vorbei. Es ist daher nahezu unmöglich einen interventionistischen Text zu verfassen, der gleichzeitig nach akademischen Maßgaben und mit Rücksicht auf individuelle Befindlichkeiten operiert. An dieser Stelle beginnen unsere Probleme mit diesem Text.

Gesellschaftliche Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit Femiziden

Für die Autorinnen soll es konsequenterweise „kein akademisches Privileg, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit“ (21) sein, sich mit Femi(ni)ziden auseinanderzusetzen. Gleichzeitig geht es in dem Buch merkbar von Anfang an nicht in erster Linie um patriarchale Gewalt gegen Frauen, sondern um ein allgemeines und in seiner Beschreibung oft diffuses Gewaltproblem gegen, durch akademisches Vokabular erfasste, Opfergruppen. Zusammengefasst unter dem sperrigen Begriff FLINTA erweitert sich der Bedrohungshorizont von „Frauen“ etwa auch auf „Lesben“. Und es stellt sich zum ersten und nicht zum letzten Mal in diesem Buch die Frage, ob das ganz ernst gemeint sein kann? Sind Lesben keine Frauen? Aber gleich danach wird klar, worum es wirklich geht. Und zwar um die akademischen Privilegien von „inter, nicht-binären, trans oder agender Personen“ (ebda.).

Der, im ersten Halbsatz des ersten Kapitels dankenswerterweise kritisierte akademische Jargon wird im zweiten Halbsatz zur Hilfe genommen, um die Position der Frauen in dem Buch über Gewalt gegen Frauen zu relativieren. Denn nun geht es nicht mehr um das Faktum, dass Frauen unter männlicher Gewalt zu leiden haben, sondern um „die traurige Tatsache, dass FLINTAs tagtäglich ermordet werden“. Es geht also um ein ganzes Spektrum an von Gewalt betroffenen Gruppen, von denen einige auch männlich gelesen werden können und es geht auch nicht mehr eindeutig um männliche Gewaltstrukturen und das Patriarchat, sondern um „die strukturellen und kontextspezifischen Bedingungen, die Femi(ni)zide ermöglichen“. Und wir dachten das zumindest wäre schon geklärt. Aber die akademischen Peergroups fordern ihre Opfer an Klarheit und deshalb wird selbst dieser akademisch verklausulierte Minimalkompromiss noch einmal aufgeweicht zugunsten der Relativierung im dritten Satz, dass es um „feminisierte und/oder rassifizierte Menschen“ gehen soll. Drei Sätze, die das Programm des Buches gut beschreiben. Wo es im Titel um den Kampf gegen patriarchale Gewalt geht, geht es ab dem Einbezug des Begriffs FLINTA, der bewusst „kein abgeschlossener Begriff“ (13) ist, nicht mehr um Feminismus, sondern um ein allgemeines Kritikprojekt mit „dekolonialer“ Perspektive, in der also auch die Rechte von Männern und die Opfer von Rassismus eine wichtige Rolle spielen.

Feminismus vs. Antirassismus?

Die Ungerechtigkeit des europäischen Asylrechtsregimes ist evident. Wir haben uns an anderer Stelle damit befasst. Feminismus und Antirassismus gehen für uns selbstverständlich Hand in Hand, weil wir ALLE Verhältnisse umgeworfen wissen wollen, in denen Menschen erniedrigte und geknechtete Wesen sind. Also nicht nur die Verhältnisse, die unserem persönlichen akademischen Racket unangenehm sind, sondern wirklich alle. Also auch die rassistischen! Was dabei für uns daher keinerlei Sinn macht, ist das Ausspielen des einen Anliegens gegen das andere. Wenn die Autorinnen etwa gegen Ende des Buches auf die Ambivalenzen von Schutzräumen innerhalb westlicher rechtsstaatlicher Demokratien hinweisen und das ausgerechnet mit dem Hinweis auf häusliche Gewalt gegen Frauen zu illustrieren versuchen. Denn für sie besteht ein Widerspruch zwischen Feminismus und Antirassismus bereits dort, wo „eine Anzeige wegen partnerschaftlicher Gewalt mit der Androhung einer potentiellen Abschiebung des Täters verbunden ist“ (263). Dem schließt sich die Behauptung an, dass sich diese Widersprüche „nicht auflösen“ lassen, sondern nur benenn- und angreifbar seien. Aber wäre nicht eher dafür zu kämpfen, dass auch diejenigen, die potentiell von rassistischer Gewalt betroffen sind, trotzdem nicht mehr Gewalt gegen ihre Frauen ausüben? Eine für Feministinnen wahrscheinlich recht leicht zu beantwortende Frage. Diese Art der aus dem Abstrakten schöpfenden Theoretisierung erweckt den Eindruck, Frauenrechte seien nur relevant, wenn sie nicht mit anderen Rechten oder Ansprüchen kollidieren.

Die Analyse des Rassismus ist ein wertvoller Beitrag zur Kritik von Herrschaftsverhältnissen. Eric Williams bahnbrechende Studie aus den 1940er Jahren „Capitalism and Slavery“ hat den Blick auf den Zusammenhang von rassistischer Gewalt und Kapitalverhältnis erweitert. Cedric J. Robinsons „Black Marxism“, hat die Rolle des Kampfes gegen die rassistischen Tendenzen des Kapitalismus im Rahmen einer Aneignung durch die politische Bewegung eines „Schwarzen Radikalismus“ wirkungsvoll thematisiert. Beides sind Konzepte der Politisierung der Kritik an Rassismus im Kapitalismus. Beide gibt es seit Jahrzehnten, sie müssten nicht begrifflich neu ausgepackt werden. Aber für die Kritik an der Gewalt gegen Frauen braucht man sie am aktuellen Stand der Diskurskräfte eventuell gar nicht. Denn so weit, dass Frauen den Luxus haben durchzuatmen und mal den Nöten von Männern Platz zu machen, sind wir noch nicht.

Darüber hinaus muss man konstatieren, dass nicht alle dekolonialen Perspektiven sich gleichermaßen intensiv mit dem Wohl von Frauen auseinandersetzen. Damit soll nicht gesagt werden, es gäbe keinen antirassistischen Feminismus. Unserer Überzeugung nach ist Feminismus immer auch antirassistisch, oder er ist eben keiner. Aber der Widerstand gegen postkoloniale (westliche) Gewaltstrukturen geht leider oft genug eher mit der Rechtfertigung nicht-westlicher patriarchaler Strukturen einher, als mit deren Kritik. Und so verwundert es dann doch ein wenig, wenn in einem Buch, in dem es doch in allererster Linie um Frauen gehen sollte, diese eigentlich beinahe nur eine Nebenrolle einnehmen.

Frauenmorde und davongekommene Täter

Begrifflich problematisch wird es aber, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass es um „feminisierte und/oder rassifizierte Menschen“ gehen soll. Was im akademischen Jargon zweierlei bedeuten kann: Menschen, die von äußeren Zuschreibungen zu Opfern gemacht werden, oder Menschen, die sich selbst aufgrund bestimmter äußerer Zuschreibungen als Opfer definieren. Der Verdacht, dass es zumindest teilweise auch um zweiteres gehen soll, bestätigt sich auf der nächsten Seite. Hier wird der Begriff „Protokolle der Angst“ erklärt, der im vierten Satz des ersten Kapitels eingeführt wird. Wir erinnern uns auch an den ersten Satz des ersten Kapitels, in dem ablehnend von akademischem Privileg die Rede war und machen uns bewusst, wie umfangreich und diffus dagegen der in den ersten paar Sätzen etablierte akademische Apparat bereits ist. Jedenfalls soll der Begriff der Protokolle der Angst zum Ausdruck bringen, dass „tägliche Erfahrung“ „das Erlernen sozialer Mechanismen“ mit sich bringt und diese dazu führen, dass sich feminisiert wahrnehmende Menschen, also FLINTAs, im Alltag oft Angst empfinden.

Moralisierung von Verhalten und Körpern“

Und wir teilen die Kritik an der „Moralisierung von Verhalten und Körpern“ (22), die hier vorgestellt wird, die in allen Teilen der Welt in großer Hauptsache Frauen betrifft, aber wir müssen dennoch auf die unfreiwillige Komik verweisen, die entsteht, wenn die Autorinnen versuchen aus ihrer Perspektive zu beschreiben, wie (ihnen) „bei jeder unglücklichen Verkettung von Ereignissen […] das Unaussprechliche geschehen [kann]“. Wer durch das Vorwort aufmerksam durchgekommen ist, rechnet hier mit dem Schlimmsten, sicherlich ist das Unaussprechliche, darauf bezogen, dass weltweite massenhaft Frauenmorde geschehen und die Täter viel zu oft damit durchkommen. Dass Frauen entführt und zur Prostitution gezwungen, zwangsverheiratet, genital verstümmelt, zur Zwangsarbeit benutzt, als gratis Haus- und Pflegehilfe milliardenfach ausgebeutet werden, als Kriegstaktik massenvergewaltigt und weibliche Föten wegen Erbregelungen zu hunderttausenden zugunsten eines Sohnes abgetrieben werden. Aber darum geht es an dieser Stelle nicht, unaussprechlich ist vielmehr ein viel niedrigschwelligeres Erleben, das, in der Art wie es hier vorgetragen ist, in Teilen, jedem passieren kann, nicht nur Frauen.

Das Gefühl vermittelt zu bekommen, nichts wert zu sein

„Unsere Körper werden ungewollt berührt; Autoritätspersonen überschreiten ihre Kompetenzen und Grenzen; Äußerungen zwingen uns zur Rechtfertigung; Freund*innen und Bekannte unterstellen etwas, womit wir nicht gerechnet hätten; ein ungutes Gefühl beim Nachhausekommen; das Gefühl vermittelt zu bekommen, nichts wert zu sein; nach der Arbeit; am Ende einer Party oder auf der Straße spricht uns eine Person an; die Blicke bringen uns in unangenehme Situationen – Erfahrungen die unser Leben gefährden können.“ (22)

Es stimmt, was die Autorinnen danach schreiben, die Angst kann zur Gewohnheit werden und ist für Frauen im Alltag immer vorhanden, und sie immer wieder auf unterschiedliche Arten zu thematisieren, ist Teil des publizistischen feministischen Kampfes. Aber wenn es schon ein Übergriff ist, wenn man sich durch Äußerungen anderer zur Rechtfertigung angehalten sieht, dann geht es nicht um Feminismus, sondern um Befindlichkeit.

Aufarbeitung der historischen Gewalt

Trotzdem interessant zu lesen, ist das Buch immer dort, wo es um die Aufarbeitung der historischen Gewalt geht, wo konkret an der Problematik gearbeitet wird. Das Kapitel „Die Politisierung von Femi(ni)ziden von Mexiko bis Argentinien“ beginnt mit der akademischen Klammer, dass die zehntausenden verschwundenen, in die Sklaverei verkauften und wahrscheinlich letztendlich ermordeten Frauen in Mexiko als „als Frauen gelesene Personen“ (35) angesehen werden müssen, was angesichts der sehr wahrscheinlichen prozentuellen absoluten Mehrheit von schlicht Frauen, die dieses Schicksal erleiden müssen, einen unangenehmen Beigeschmack der akademischen Relativierung mit sich bringt. Es ist aber ansonsten informativ und on point.

Das darauffolgende Kapitel über die analytische Perspektive auf das Thema zeigt aber wieder, wie schwer sich die Autorinnen von den rein akademischen Gefolgschaftsdebatten lösen können, die wohl ihre Lebenswelt in erster Linie bestimmen. Denn kaum ist die genealogische Kritik, die Identifizierung von Gewaltverhältnissen und die Infragestellung rechtfertigender misogyner Narrative ein wenig in Schwung gekommen, muss gleich wieder das queere akademische Racket mit theoretischen Relativierungen ruhiggestellt werden. So ist den Autorinnen die Kritik am Patriarchat, die auf den vorigen Seiten beinahe begonnen hätte, so unheimlich, dass sie klarstellen müssen auch eine Kritik an „feministischen Theorien, die ‚Frausein‘ als universell und homogen darstellen“ (54) vornehmen zu wollen. Wobei sie mit der Behauptung arbeiten, solche Theorien würden „unterschiedliche verkörperte Erfahrungen als unterlegen oder unbedeutend präsentieren und unsichtbar machen“ (54). Welche Theorien das genau sind, wird nicht an Primär-Quellen belegt, das wäre auch schwer, sondern nur an der Literatur, die diese imaginierten rein binären feministischen Theorien kritisieren.

„Abgrenzung“ von „der ersten Generation der Kritischen Theorie“

Dem entspricht die, in den Rängen des Postfeminismus Beifall heischende, ansonsten eher dunkel bleibende „Abgrenzung“ von „der ersten Generation der Kritischen Theorie“ (55), die damit, wie schon zu Weiland Heideggers Zeiten, als uncool verfemt wird, ohne, dass dies inhaltlich in irgendeiner Form belegt wird. Denn der Bezug auf die Originalquellen bleibt auf ein zustimmend verwendetes Zitat von Max Horkheimer beschränkt. Der Aufweis des, feministisch betrachtet, unkritischen Charakters der sogenannten Kritischen Theorie wird durch ein indirektes Zitat aus einem Aufsatz von Barbara Umrath von 2018 erledigt, dem zu entnehmen ist, dass „in den älteren Texten […] eine systematische Beschäftigung mit patriarchalen Strukturen und Geschlechterverhältnissen aus[bleibt], oder […] zumeist affirmativ oder abwertend auf ‚Weiblichkeit‘ oder ‚Familie‘ Bezug genommen“ (59) wird. Was mindestens beim Studium der Schlüsselwerke Kritischer Theorie, wie der „Dialektik der Aufklärung“, als überzogen bezeichnet werden kann. Denn gerade dort wird die Gesellschaftskritik auch als Kritik der Geschlechterverhältnisse vorgetragen, in Opposition zum Nationalsozialismus und lange bevor es akademische Mode wurde.

Kritische Theorie und Feminismus

Diesem Vorurteil hätte man durchaus am Stand der Forschung begegnen können und sich mit Karin Stögners und Alexandra Colligs, ein Jahr vor dem Femi(ni)zide-Band erschienenen, Buch „Kritische Theorie und Feminismus“ (Suhrkamp) auseinandersetzen, um zu dem Ergebnis zu kommen: „Wenngleich also Kritische Theorie nicht explizit feministisch genannt werden kann, ist sie doch Impulsgeberin für feministische  Theorien, seien es materialistische, dekonstruktivistischer, normative oder queere und intersektionale Richtungen.“ (Stögner/Colligs 2022: 13)

Das ficht die Autorinnen jedoch nicht an, sie sind auf S. 60 beinahe völlig weggekommen von der Kritik patriarchaler Gewalt, wenden sich der Kritik eines „weißen, bürgerlichen, heteronormativen und cis-orientierten Feminismus“ (60f.) zu und fordern „Feminist*innen“ zur „stets neuen Reflexion“ (61) auf. Was sollten Feminist*innen angesichts patriarchaler Gewaltstrukturen auch Besseres zu tun haben?

Warum diese scheinbar rein akademischen Plänkeleien nicht nur Theoriedünkel und persönliche Präferenzsysteme zum Ausdruck bringen, wird dann auf den nächsten Seiten sichtbar, wenn es um feministische Kampfmöglichkeiten geht. Feministischer Streik liegt in der Luft und „bewegt sich im Spannungsfeld von konkreter verkörperter Erfahrung und struktureller Kritik“ (64). Das Ziel soll aber offenbar nicht in erster Linie das kämpferische Niederringen männlicher Vorherrschaft über die Einteilung von Hausarbeit für Frauen sein, sondern „Begriffe und Konzepte, die innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung als Normen gelten und so diese Gewalt ermöglichen und herstellen“ (65) zu hinterfragen. So weit, so abstrakt.

Normen die Gewalt gegen Frauen ermöglichen

Aber der Clou kommt noch, denn wenn man fragt, was diese Normen sind, die diese Gewalt gegen Frauen ermöglichen, dann erhält man eine Antwort, die ein wenig unbefriedigend ist, wenn man sich auf die zuvor angekündigte „dialektische Einheit von Theorie und Praxis, die sich gegenseitig bedingt, aber nur ‚als Konflikt‘ bestehen kann“ (59) verlassen hat. Denn die Gewaltverhältnisse basieren auf der bürgerlich heteronormativen Familie, dem rassistischen Nationalstaat und der binären Geschlechterordnung (65). Also allem, was bereits den Hippies verhasst war und mithin die klassische Leier von der Autorität. Dass aber die Familie, auch aus sozialarbeiterischer Perspektive, eine wichtige Quelle von Stabilität für die Individuen sein kann, der demokratische Rechtsstaat besonders gegenüber Individualrechten im Allgemeinen und Frauenrechten im Speziellen historisch und aktuell einfach essentiell ist und dass die binäre Geschlechterordnung selbst noch nicht zu Gewalt führen muss, wird hier fern von jeder Dialektik einfach mal unter den Tisch fallen gelassen. Das geht so weit, dass gewaltvoller gesellschaftlicher „Ausnahmezustand“ als „Normalzustand“ imaginiert wird.

Auf der Seite der Gewalt der Kollektive

Das verwundert aber nicht, wird doch bereits im Untertitel des Buches ein Kategorienfehler angekündigt, der sich durch das gesamte Buch zieht: „Kollektiv patriarchale Gewalt bekämpfen“ bedeutet ja, als Kollektiv kämpfen. Aber gesellschaftliche Gewalt, zumal die der Verhältnisse gegen die Individuen, entsteht ja erst durch kollektive Zwänge. Nur im Kollektiv kann ein binäres Geschlechterverhältnis überhaupt existieren und nur durch die Macht kollektiver Verbrüderung, unter Einbezug einiger Frauen, kann die Unterdrückung der Frauen aufrechterhalten werden. Aufgrund dieses Kategorienfehlers sind die Autorinnen immer ein wenig auf der Seite der Gewalt der Kollektive, denen sie die Frauen ja eigentlich entziehen müssten, um deren individuelle Unversehrtheit garantieren zu können. Daher thematisieren sie die Religion, einen der zentralen Faktoren der Unterdrückung und Verfolgung von Frauen und Homosexuellen weltweit, eben nicht an der Stelle ihrer analytischen Perspektive auf die gesellschaftlichen Gewaltstrukturen, sondern an zwei anderen Stellen, wo es weniger um die Rolle der religiösen Zwangskollektive, als um staatlichen und mehrheitsgesellschaftlichen Rassismus geht. (117ff. und 226ff.)

Niemand braucht noch mehr Gewalt gegen Frauen

Darin liegt wiederum eine eigene Wahrheit. Denn natürlich ist die Vorstellung, dass Gewalt gegen Frauen durch den Zuzug von Menschen aus als rückschrittlich geframten Ländern erst importiert wird, sowohl rassistisch als auch blind den Tatsachen männlicher Gewalt gegenüber. Denn natürlich hat auch Österreich eine Jahrtausende andauernde Kultur des Frauenmords, die ungebrochen weiterbesteht und bräuchte diesbezüglich gar keine Importe. Aber das ist dann auch der Punkt: Niemand braucht noch mehr Gewalt gegen Frauen. Und deshalb sollte diese auch nicht indirekt dadurch gerechtfertigt werden, dass man sie aus politischer Korrektheit heraus nicht bespricht.

Abgesehen davon bleibt auch die organisierte kirchliche Gewalt gegen Kinder außen vor. Als wären nicht gerade religiöse Zwangskollektive mittels der Instrumentalisierung des binären Geschlechterverhältnisses zu den mächtigsten Akteuren der Moralisierung des Körpers aufgestiegen. Aber wahrscheinlich würde das zu weit führen …

Verwendung des Begriffs Feminizid

Diese Linie zieht sich im weiteren Verlauf des Buches durch. Es wird Begriffskritik vor die Kritik der Verhältnisse gesetzt. (71) Wir schließen uns der Aussage an, dass das „Spektrum patriarchaler Gewalt […] breit“ (74) ist und eine „zentrale Dimension patriarchaler Gewalt [darin besteht], dass sie nicht beim Namen genannt wird“ (76). Aber uns würde nicht einfallen, daraus die Frage zu basteln, ob durch die Verwendung des Begriffs Feminizid „‚das Feminine‘ essentialisiert und essentialistisch reproduziert wird“ (77). Auch deshalb, weil sich diese Frage nur stellt, wenn sie gegen das Interesse des expliziten Schutzes von Frauen gestellt wird. Denn worauf die Frage am Ende des Abschnitts abzielt, ist natürlich nicht, die Herabwürdigung von Weiblichkeit im Diskurs über Gewalt gegen Frauen anzuklagen, sondern darauf nicht nur patriarchale und misogyne Muster der gesellschaftlichen Gewalt gegen Frauen zu thematisieren (die religiösen Muster bleiben auch hier draußen), sondern um „transfeindliche Muster“ (78) an deren Seite zu stellen. Dieses Muster wird in Form einer mäandernden Sprachübung durch die folgenden Kapitel fortgesetzt. Der Text scheint nicht vom Fleck zu kommen, immer wenn es konkret zu werden scheint, folgt ein neuer Exkurs zur Begriffskritik, bleibt die Präsentation der Materie selbstreferentiell und auf den akademischen Spezialdiskurs bezogen oder hält sich bei Allgemeinplätzen auf, wie dem, dass es bei der Aufrechterhaltung der Gewaltverhältnisse um Macht und Kontrolle geht. (107)

Mit dem Kapitel Protestformen erreicht das Buch, trotz der Umwege, eine sehr lesenswerte Form, in der es endlich um das sprichwörtliche Eingemachte geht. Eine schnörkellose Geschichte politischer Proteste, ihrer Wege und Wirkungen, die in dem Kapitel „Überlegungen zu Zählungen, Begriffen und Benennungen“ mündet, das gefüllt ist mit nützlichen Definitionen und Erläuterungen zum Thema. Also das, was man sich von dem Buch erwartet: Mittel zur Aufklärung und Politisierung der schlechten Verhältnisse, anstatt akademischem Sonderdiskurs mit relativistischen Tendenzen.

Fazit zum Buch

Das Buch ist lesenswert und wird hier ausdrücklich empfohlen. Es gibt nützliche Perspektiven im Umgang mit dem Begriff des Femi(ni)zids und eine Darstellung politischer Aktionsformen, die vermehrt zur Nachahmung anregen sollten.

Aber es bleibt dennoch die bittere Erkenntnis, dass wir im feministischen Kampf, trotz aller erkämpfter gesellschaftlicher Akzeptanz, zusehends allein dastehen. Denn, obwohl es die Intention des Buches ist aufzuklären, wird darin mittels akademisch anschlussfähiger postfeministischer Rhetorik mindestens ebenso viel verdunkelt.

Der Skandal an dieser Rhetorik ist, dass sich Frauen, wenn es um den Mord an ihnen geht, als Betroffene gerade noch mitgemeint fühlen dürfen. Es geht nicht um sie, es geht um alles andere und dann irgendwann auch noch vielleicht um sie. Wenn, so wie die postfeministische Theorie das gerne hätte, davon ausgegangen wird, dass Sprache Realität erzeugt, dann ist das ein unverzeihlicher Lapsus für ein Buch, das sich gegen den Mord an Frauen einsetzen will. Wenn Sprache politisch ist, dann ist die Marginalisierung von Frauen, in einem Text in dem es um die Kritik an der ständigen gesellschaftlich sanktionierten Ermordung von Frauen gehen sollte, ein antifeministisches Projekt.

Suhrkamp hat kein Kontingent

Anfang Jänner 2024 sind gleich zwei Bücher über Antisemitismus in deutschen Verlagen erschienen, deren Gegenüberstellung auch in Anbetracht der „rastlose(n) Selbstzerstörung der Aufklärung“, mit der wir uns täglich konfrontiert sehen, notwendig ist. Es handelt sich dabei um Texte, die bereits in den 1960ern bzw. 1970ern entstanden sind, und die wohl auch deshalb gerade prädestiniert sind, ihre Aktualität an der unerträglichen Gegenwart messen zu lassen. Es geht um Theodor W. Adornos Rede „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“, 2024, Suhrkamp Verlag, und Jean Amérys „Der neue Antisemitismus“, 2024, Klett-Cotta.

Hochmotiviert schickte ich mich also an, um je ein Belegexemplar der Bücher anzufragen. Bei Klett-Cotta bekam ich sofort ein Exemplar zugeschickt, vom Suhrkamp Verlag erhielt ich die Information das „Kontigent an Rezensionsexemplaren“ sei „begrenzt“. An irgendwelche dahergelaufenen Blogger könne man also keine Bücher mehr ausgeben. Nicht einmal für das derzeit in der Buchbranche relativ beliebte obligatorische PDF war wohl noch Geld da. Schweren Herzens entschied ich mich also meine letzten zehn Euro dem Suhrkamp Verlag zu spenden, der diese wohl dringlicher braucht als ich.

Im Winter 1962 hielt Adorno in Wiesbaden bei einer Tagung des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit einen Vortrag mit dem Titel „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“, der im Suhrkamp Verlag nun in Buchform vorliegt. Zunächst hinterfragt Adorno die Behauptung der „Meinungsforscher“, dass der Antisemitismus „kein aktuelles Problem“ in Deutschland sei, eine Formel, der man auch heute wieder bis recht kürzlich gerne anhing – ausgenommen davon natürlich rechtsextreme Formen von Antisemitismus. Adorno betont Antisemitismus als „Teil eines ‚Tickets‘“, als „Mittel“ ansonsten „divergierende() Kräfte eines jeden Rechtsradikalismus auf die gemeinsame Formel zu bringen“ (12).

Dass der Antisemitismus nicht nur „divergierende Kräfte“ des „Rechtsradikalismus“ eint, sondern noch ganz andere Kräfte, die sich bis vor kurzem noch spinnefeind waren, sieht man bei Betrachtung der Querfronten, die sich seit dem siebentem Oktober 2023 gebildet haben. Nur zu bekannt klingen da auch Adornos damalige Worte über jene, die sich „derart (…) dem Gerücht zuwende(n)“. Auch auf der einen oder anderen Demonstration gegen Israel finden sich genug Menschen, die sich als Teil einer „heimlichen, wahrhaften und durch die Oberflächenformen der Gesellschaft nur unterdrückten Gemeinschaft“ (16) imaginieren. Niemand interessiere sich für das Leid der Palästinenser, alle Medien seien auf Seite der Israelis, nichts könne man öffentlich sagen, brüllt es da im Chor tausender Stimmen ins Megaphon.

Adorno nennt diese Art der Selbstdarstellung einen der „wesentlichen Tricks von Antisemiten“, die Tendenz „sich als Verfolgte darzustellen; sich zu gebärden, als wäre durch die öffentliche Meinung, die Äußerungen des Antisemitismus heute unmöglich macht, der Antisemit eigentlich der, gegen den der Stachel der Gesellschaft sich richtet, während im allgemeinen die Antisemiten doch die sind, die den Stachel der Gesellschaft am grausamsten und am erfolgreichsten handhaben“ (16-17).

Das beliebte Argument führe zur Schlussfolgerung, „wenn man nichts gegen die Juden sagen (dürfe), dann (…) sei an dem, was man gegen sie sagen könnte, auch schon etwas daran.“ Dies bezeichnet er als „Projektionsmechanismus“, durch den „die Verfolger (…) sich aufspielen, als wären sie die Verfolgten“ (27), ein Phänomen, das man bei Karl Kraus als „verfolgende Unschuld“ kennengelernt hat, und das, in Bezug auf Antisemitismus, der Soziologe David Hirsh später konkreter als Livingstone-Formulierung bezeichnete: eine Verweigerung sich mit einem Antisemitismus-Vorwurf auseinanderzusetzen, und dem Ankläger stattdessen vorzuwerfen, dieser sei an einer Verschwörung zur Unterdrückung der Redefreiheit beteiligt.

Nach Adorno führt der „Krypto-Antisemitismus (…) von selbst auf den Autoritätsglauben“ (17). Adorno kommt auch auf Möglichkeiten zu sprechen eine solche Form von Antisemitismus langfristig zu bekämpfen: einerseits, bei Kindern die noch formbar seien, durch den Versuch einer Ausbildung des autoritären Charakters entgegenzuwirken, bei jenen, wo diese Charakterstruktur sich aber bereits verfestigt habe, dürfe man nicht davor zurückscheuen, ebendiese von ihnen geliebte Autorität gegen sie zu wenden, „um ihnen zu zeigen, daß das einzige, was ihnen imponiert, nämlich wirklich gesellschaftliche Autorität, einstweilen denn doch noch gegen sie steht“ (18).

Der „antisemitische Charakter“ sei „wirklich der Untertan“, „die Radfahrernatur“, er gebe sich rebellisch, sei aber „ständig bereit, vor den Trägern der wirklichen Macht, der ökonomischen oder welcher auch immer, sich zu ducken und es mit ihr zu halten“ (34-35). Gleichzeitig sei Antisemitismus heute, anders als zur Zeit Hitlers, nicht so stark durch die väterliche Brutalität geprägt, sondern durch „Impfung“ im Elternhaus und familiäre Kälte (36-37), welcher man pädagogisch entgegenzuwirken habe, ebenso wie Gruppen- und Cliquenbildung, welche dem Phänomen des Antisemitismus ähnle. Es seien stattdessen individuelle Freundschaften zu fördern (40-41). Ebenso wichtig sei es, die „Identifikation von Juden und Geist“ zu brechen, das Vorurteil also, das Bildung mit dem Judentum identifiziert und Antiintellektualismus fördert, mit dem zur Zeit des Nationalsozialismus der Dualismus zwischen Geist und Geschicklichkeit (Körper) festgeschrieben wurde (44-45).

Adorno bezeichnet Antisemitismus als „Massenmedium“, das sich an bereits vorhandene unbewusste Neigungen anhaftet und diese potenziert, anstatt sie bewusst und damit „lösbar“ zu machen (22). Antisemitismus sei strukturell verwandt mit dem Aberglauben und der Propaganda und immer antiaufklärerisch. Adorno sieht in der massenmedialen Verbreitung, einer „rationale(n) Fixierung irrationaler Tendenzen“, eine der „gefährlichsten ideologischen Kräfte in der gegenwärtigen Gesellschaft“ (22). Man müsse sich daher gegen „alles Reklameähnliche wehren“ (23), auch im Kampf gegen den Antisemitismus, mit „empathische(r) Aufklärung, mit der ganzen Wahrheit, unter striktem Verzicht auf alles Reklameähnliche“ (24). Und an Reklame fehlt es in der medialen Berichterstattung um den Nahost-Konflikt und der demonstrativen Zurschaustellung auf diversen Kundgebungen nicht, in der schlagworthaften Verwendung von Begriffen wie „Genozid“, „Apartheid“, „Siedler-Kolonialismus“, „Kindermörder Israel“ etc., sowie der mantraartigen Wiederholung von „From the River to the Sea …“ und anderen Schablonen.

Adorno schlägt vor, sich erst gar nicht mit der Wiederlegung von „irgendwelche(n) Fakten und Daten, die nicht absolut sicher sein sollen“ zu befassen (25). Er bezieht sich hier explizit auf Trickgriffe der Holocaustleugnung, die Anzweiflung von 6 Millionen getöteten Juden. Heute zeigt sich ein ähnliches Muster auch wieder im Zweifel an den Zahlen der getöteten Israelis vom 7.10.23, den Vergewaltigungen israelischer Zivilistinnen; in vielen Fällen sogar im Zweifel daran, dass überhaupt etwas geschah. Adorno legt nahe, sich erst gar nicht auf „eine unendliche Diskussion innerhalb von Strukturen“ einzulassen, „die von den Antisemitinnen gewissermaßen vorgegeben sind“, da man hierbei wiederum „deren Spielregeln sich unterwerfen würde“. Die komplexe Wahrheit sei immer vorzuziehen, man solle sich nicht auf diverse Spielereien mit Zahlen und auf ein Aufrechnen einlassen (25).

Hier geht Adorno auch kurz auf die „Dresdner Verteidigung“ ein, jenes Tu-quoque-Argument, das bereits in den Nürnberger Prozessen durch die Verteidigung der Nationalsozialisten zur Anwendung kam, in der eine Gleichstellung der gezielten und grausamen Ermordung von Jüdinnen und Juden und des Vernichtungsantisemitismus der Nazis, mit der Tötung von Zivilistinnen bei der Bombardierung von Dresden versucht wurde. Das Deutsche Nachrichtenbüro hatte zudem direkt nach dem Luftangriff die Zahlen toter Zivilist*innen bereits stark übertrieben und als Massenmord dargestellt – die Rede war hier von 100.000-200.000 Opfern, heute geht man von ca. 25.000 Toten aus. Adorno besteht darauf, dass keiner bestreite, dass auch diese Bombardierung furchtbar gewesen sei, jedoch sei „das ganze Schema des Denkens“ zu bezweifeln, welches von einer „Vergleichbarkeit von Kriegshandlungen mit der planmäßigen Ausrottung ganzer Gruppen der Bevölkerung“ ausgehe (26). Auch im Falle des Pogroms von Oktober wird heute wieder eine ähnliche Tu-quoque-Argumentation herangezogen, wenn die Absicht eines Genozids – denn ja, für die Definition eines Genozids ist die Absicht von Bedeutung – durch Hamas ignoriert wird und die Reaktion darauf, die Kriegshandlungen Israels im Gazastreifen, stattdessen zum Genozid umgedeutet werden, wenn Zahlen dramatisiert werden und von Seiten Hamas tote Soldaten als tote Zivilisten ausgegeben werden etc. Die erst kürzliche teilweise Rücknahme der Zahlen bei den getöteten Frauen und Kindern im Gazakrieg vonseiten der UN spricht hier eine deutliche Sprache, wie verlässlich die Berichterstattung ist. Um die Hälfte weniger seien bisher tatsächlich identifiziert, was Zweifel an verbreiteten Behauptung, 72% der Todesopfer seien Frauen und Kinder, aufkommen lässt. Auf Seiten Nazi-Deutschlands gab es übrigens weitaus mehr zivile Opfer als auf Seite der Briten und Amerikaner. Wobei wir wieder bei jenen Zahlenspielereien wären, von denen Adorno uns doch gerade noch versucht hat abzubringen.

Für Adorno ist es wichtig die Juden als „wesentlich(e) Träger der Aufklärung“ (28) zu identifizieren. Das „antisemitische Potential“, sei ebenso nur mit einem Bekenntnis zur Aufklärung zu bekämpfen. Dem Vorwurf „Juden entzögen sich der harten körperlichen Arbeit“, solle man nicht mit Beispielen von Juden aus der Arbeiterklasse begegnen, sondern mit dem Hinweis darauf, dass „harte physische Arbeit heute eigentlich bereits überflüssig“ sei und „es etwas tief Verlogenes hat, einer bestimmten Gruppe Vorwürfe zu machen, daß sie nicht hart genug physisch arbeitet“, denn es sei „Menschenrecht, sich nicht physisch abzuquälen, sondern lieber sich geistig zu entfalten“. Die Argumentation der Verteidiger Israels, dass Juden in Israel „mit saurem Schweiß das Land fruchtbar machen“, entfiele dadurch einfach (29), denn diese sei „im Grunde nur der Reflex auf die furchtbare soziale Rückbildung, die den Juden durch den Antisemitismus aufgezwungen wurde“. Ebenso sei dem „Vorwurf des Vermittlertums der Juden“, welcher immer mit jenem der Verschlagenheit und der Unehrlichkeit einhergehe, zu begegnen. Denn eine „bürgerliche Tauschgesellschaft“ bedürfe eben einer solchen Vermittlerrolle (30): „Ohne die Sphäre des Vermittlertums, die von Handel, Geldkapital und Mobilität, wäre die Freiheit des Geistes, der sich von der bloßen Unmittelbarkeit gegebener Verhältnisse löst, unvorstellbar gewesen.“ (31)

Dass Adorno mit seiner Sorge um die Pädagogik und deren Einfluss auf die Ausbildung des antisemitischen Potentials Recht hatte, zeigt sich heute anhand der akademisch institutionalisierten Formen des Antisemitismus und des Antizionismus in der vermeintlich progressiven postmodernen Philosophie, die sich in den Sozialwissenschaften festgesetzt haben.

Detlev Claussen schreibt im Vorwort von Léon Poliakovs „Vom Antizionismus zum Antisemitismus“, dass die „antizionistische Selbststilisierung (…) ein Bedürfnis nach Weltanschauung“ dokumentiere „die von der Wirklichkeit in Geschichte und Gegenwart unabhängig macht“, die Flucht in ein manichäisches Weltbild, aus dem Wunsch heraus sich der „Auseinandersetzung mit einer widersprüchlichen Realität“ zu entziehen (Léon Poliakov: Vom Antizionismus zum Antisemitismus, S. 12). Lässig hüllt man sich an den Unis nun in die Kufiya, wobei man sich bei der Verwendung der roten oder schwarzen Variante dann nicht mehr ganz so sicher ist, und schminkt sich die Augenlider schwarz-rot-grün, während man aus Solidarität mit den „Freiheitskämpfern“ mit der AK-47 „We don’t want no two states, we want 48“, „Iran you make us proud“, „Burn Tel Aviv zu the ground“, „Long live the Intifada“, „Ya Hamas, we love you“ und „Jews, go back to Poland“ brüllt. Vergessen sind die Proteste im Iran 2022 unter dem Motto „Frau Leben Freiheit“, deren Protagonist*innen man im Nachhinein nur noch, im Einklang mit der Islamischen Republik Iran, als „kryptojüdische“ Agenten und Agenden zu identifizieren vermag.

Hat Adorno sich in seiner Rede explizit mit dem Antisemitismus der Rechten befasst, erkannte Jean Amérys Blick auf das Problem des Antisemitismus schon früh, dass nicht nur der Rechtsextremismus ein solches hatte, sondern dass die Linke – und er sah sich selbst als Teil davon – im Angesicht des Nahost-Konflikts zunehmend an der Aufgabe scheiterte zu den eigenen progressiven Werten zu stehen. Améry gab sich auch zeitlebens des Öfteren der Kritik der Dialektik der Dialektiker hin, wenn diese beispielsweise die Quäler mit den Gequälten beliebig gleichsetzte – denn schließlich war doch ein jeder irgendwann Opfer von irgendwem.

„Den dialektischen Denkern sitzt allerwegen die Furcht vor der Banalität im Nacken – etwa der Banalität, Opfer Opfer und Quäler Quäler sein zu lassen, wie sie es beide waren, als geschlachtet wurde.“ (Jean Amery: Jargon der Dialektik [1967], In: Werke, Bd. 6 Aufsätze zur Philosophie. S. 290)

Dass Améry dieser Angst vor der Einfachheit nicht zum Opfer fiel, seine Erkenntnisse aber dennoch nie banal blieben, zeigt sich in der Textsammlung „Der neue Antisemitismus“. Im einleitenden Essay „Mein Judentum“, 1978 plädiert Améry für den Begriff „Judesein“, da ihm die Identität des Juden von außen aufgezwungen wurde. Er wuchs als Hans Mayer im katholischen Oberösterreich auf, mit Weihnachtsmesse und „Jessasmariaundjosef“, als Sohn eines nichtgläubigen Juden, der im Ersten Weltkrieg starb und einer Christin, mit teils jüdischen Vorfahren. Erst nach dem Umzug nach Wien wird ihm in der Auseinandersetzung mit dem „intellektuellen“ Antisemitismus und der „Lektüre (…) nationalsozialistischer Schriften“ langsam „das Eigenbild vom Gegner“ aufgeprägt (25). Als er 1935 in einem Kaffeehaus das „Nürnberger Reichsbürgergesetz“ liest, wird ihm erstmals wirklich sein „Judesein“ klar (29). 1938 flüchtet er mit seiner ersten Frau Richtung Belgien, wo er andere Juden trifft, die ihm aber, trotz „Schicksalsgemeinschaft“, fremd sind. Er hat „zwar“ prinzipiell „(s)ein Judesein angenommen“, praktisch „versagt()“ er aber (31).

Dass er nicht nur in Deutschland zum „Juden gemacht“ wird, sondern „(d)ie Welt“ ihn „als einen solchen“ haben will, erkennt er auf der Flucht, was dazu führt, dass er sich zunehmend ein „Gefühl der Solidarität mit jedem Juden“ abringt (32). In Frankreich bricht er aus dem Internierungslager aus und unternimmt den „letzten Versuch“ sich „dem Judesein (…) zu entziehen“, indem er sich dem Widerstand anschließt und zunächst als Widerstandskämpfer festgenommen wird (33). Als den Nazis aber seine jüdische Herkunft klar wird, bekommt er ohne Prozess das Todesurteil: Auschwitz (34). Sein „Judesein“ wird hierin bestätigt, mit dem „Judentum“ hat er nichts zu tun (35).

Und dieser Blick, der sich aus seiner Erfahrung speist, ist es auch, der Amérys klare Positionierung zu Israel bestimmte:

„Das einzige, was mich positiv mit der Mehrzahl der Juden der Welt verbindet, ist eine Solidarität, die ich mir längst nicht mehr als Pflicht gebieten muss, und namentlich die mit dem Staat Israel. (…) Für mich ist Israel keine Verheißung, kein biblisch legitimierter Territorialanspruch, kein Heiliges Land, nur Sammelplatz von Überlebenden, ein Staatsgebilde, wo jeder einzelne Einwohner noch immer und auf lange Zeit hin um seine physische Existenz bangen muss. Mit Israel solidarisch sein heißt für mich, den toten Kameraden die Treue bewahren.“ (36-37)

„Der ehrbare Antisemitismus“ von 1969 befasst sich mit dem, was wir auch heute noch in der Auseinandersetzung mit dem sogenannten Antizionismus der Linken sehen, einer Aktualisierung des klassischen Antisemitismus, seiner Anpassung an gegenwärtige Entwicklungen: Man redet vom „israelische(n) Unterdrücker, der mit dem ehernen Tritt römischer Legionen friedliches palästinensisches Land zerstampft“. Der „Sozialismus der dummen Kerle“ stand also bereits 1969 „im Begriff, ein integrierender Bestandteil des Sozialismus schlechthin zu werden, und so macht jeder Sozialist sich selber freien Willens zum dummen Kerl“ (40). Wo heute der Diskurs aber fest in der Hand von Godwins Gesetz liegt und der Vergleich nicht vor einer Gleichsetzung der Israelis mit den Nationalsozialisten, oder zumindest mit dem Apartheidsregime Südafrikas, haltmacht, war 1969 von Vergleichen mit Vietnam und Algerien dominiert, bzw. vom Klassiker, der guten alten David-gegen-Goliath-Analogie (41). Was heute der „Terrorstaat Israel“ ist, war 1969 der „Verbrecherstaat Israel“, das heutige „kolonialistische Gebilde“ ist der „Brückenkopf des Imperialismus“ der 60er-Jahre (42). Auch das bekannte Argument, man betreibe „Meinungserpressung“ „mit sechs Millionen“ erwähnt Améry (45).

Améry lenkt ein, dass Israel zwar „objektiv die unerfreuliche Rolle der Besatzungsmacht“ trage, doch das „Bestehen dieses Staatswesens“ ihm „wichtiger“ sei „als das irgendeines anderen“ (43), sein „Bestand“ sei „unerlässlich für alle Juden“ (44).

Er geht hier auf die linke Doktrin der Solidarisierung mit den Schwächeren ein, anders als viele Linke sieht er aber die Araber als die Stärkeren, „an Zahl“, „an Öl“, „an Dollars“ und sogar „an Zukunftspotential“ (46). Die Linke versäume es, zu sehen „dass trotz Rothschild und einem wohlhabenden amerikanisch-jüdischen Mittelstand der Jude immer noch schlechter dran ist als Frantz Fanons Kolonialisierter, sieht das so wenig wie das Phänomen des anti-imperialistischen jüdischen Freiheitskampfes, der gegen England ausgefochten wurde.“ Auch sei es nicht „die Schuld der Israelis, wenn die Sowjetunion vergaß, was 1948 vor der UNO Gromyko (…) vorgetragen hat“, namentlich die offizielle Anerkennung des Staates Israel und die Befremdung über „die Einstellung der arabischen Staaten (…) militärische Maßnahmen zu ergreifen mit dem Ziele, die nationale Befreiungsbewegung der Juden zu vernichten“ (46-47).

Améry zitiert hier auch den damaligen Unterrichtsminister von Syrien: „Der Hass, den wir unseren Kindern einprägen, ist ein heiliger Hass“ (49). Dass sich dieser heilige Hass inzwischen institutionalisiert hat, liegt auch daran, dass dieser mit Hilfe von u. a. von der UNRWA publizierten und durch die EU finanzierten Schulbüchern verbreitet wird, und damit bereits Kinder mit Antisemitismus „geimpft“ werden – hier nicken wir wieder kurz Richtung Adorno – was wohl ein gewichtiger Grund für die heutige Misere ist.

Améry weist das Argument zurück, das auf einer Trennung von Antisemitismus und Antizionismus besteht: „Fest steht: der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar.“ (42)

Améry lässt dazu den Philosophen Robert Misrahi zu Wort kommen: „Der Antizionismus ist ein von Grund auf reaktionäres Phänomen, das von den revolutionären progressistischen antikolonialistischen Phrasen über Israel verschleiert wird“ (49). Améry beschließt seinen Essay mit der Anklage „Die Allianz des antisemitischen Spießer-Stammtisches mit den Barrikaden ist wider die Natur, Sünde wider den Geist (…)“, einen „ehrbaren Antisemitismus“ gebe es nicht (50).

„Die Linke und der ‚Zionismus‘“ stammt von 1969 und beschäftigt sich mit dem, auch heute wieder stark spürbaren, „(E)nt-definieren“ des Begriffes „Zionismus“. Als „Zionisten“ werden auch hier bereits „fast alle Einwohner des Staates Israel, mit Ausnahme winziger Sekten, die, in diesem Staate und durch ihn lebend, das staatliche Gebilde Israel bekämpfen“, bezeichnet. Doch nicht nur das, auch Juden, welche in der Diaspora leben, und die für die Existenz Israels eintreten, würden unter dem Begriff summiert (51). Inzwischen werden unter dem Ausdruck überhaupt alle geführt, die für diese Existenz eintreten. Besonders nach dem 7. Oktober lebt die Tradition neu auf, die zur Unterteilung in „gute“ und „schlechte“ Juden führt, wobei es sich bei Zionisten um die „schlechten“ handelt.

Im Zusammenhang mit den Studentenbesetzungen an amerikanischen Universitäten wird periodisch die Trumpfkarte herausgezogen, wenn es heißt, diese seien maßgeblich von jüdischen Studierenden mitorganisiert worden. Als der ORF vor einigen Tagen über den „Protest“ eines Mannes gegen den Gazakrieg bei der Konferenz gegen Antisemitismus berichtete, bei dem dieser mehrere Liter Kunstblut verschüttete, wurden Kommentierende nicht müde darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Mann um einen Juden handelte. Zudem wird regelmäßig behauptet „viele Juden“ seien Anti-Zionisten – der nächste Name, der dann zumeist fällt, ist Norman Finkelstein – und selbst der ist nicht begeistert von der Verwendung des Slogans „From the river to the sea“, was man aber in der Protestbewegung geflissentlich ignoriert. Mit der Behauptung die Opfer vom 7. Oktober seien „nur“ Zionisten oder – noch schlimmer – IDF-Soldaten, wobei natürlich geflissentlich vergessen wird, dass die IDF ein Pflichtheer ist – und damit keine unschuldigen Zivilisten, kann man alle Gräueltaten relativieren.

Die Gleichsetzung von „Zionismus“ mit dem Nationalsozialismus stellt schon Améry fest, so nenne man ihn auch „National-Zionismus“. Er vermeint im Kampf gegen diesen „Zionismus“ den „Eifer“ der Jakobiner wiederzuerkennen, wenn Israel „als (…) Waffenträger westlicher, beziehungsweise amerikanischer imperialistischer Unterdrückung“ gezeichnet wird. Sarkastisch bemerkt er: „Unter Zionismus versteht die Linke ungefähr das, was man so vor rund dreißig Jahren in Deutschland als ‚Weltjudentum‘ genannt hat“. Das „Israel-Bild“ der Linken sei „gekennzeichnet durch die hässlichen Züge militaristischer, so nicht faschistischer Gewalttätigkeit“, was dann logischerweise dazu führe, dass man sich den „verschiedenen arabischen Freikorps“ – gemeint ist hier die Fatah – zuwende (52). Spiegelbildlich findet sich dies heute wieder in der Liebe zur rechtsextremen Hamas, deren zugrundeliegender Orientalismus (wenn Saids Theorie schon bedient werden muss) wohl kaum zu leugnen ist. Die „Widerstandskämpfer“ der Fatah wurden durch die noch extremere Hamas ersetzt.

Doch wenn bereits 1969 „die Nazi-Katastrophe tiefe Geschichte“ (53) war, wie will man heute erst die linke Bewegung zur Selbstreflexion bringen? Denn, davon ist Améry überzeugt: „Um das Phänomen Israel zu verstehen, muss man (…) vollumfänglich die jüdische Katastrophe begreifen. In Israel ist, metaphorisch gesprochen, jedermann Sohn, Enkel, eines Vergasten; in Deutschland und im übrigen Europa kann man es sich leisten, überhaupt nicht ‚Sohn‘, nicht ‚Enkel‘ zu sein.“ (54)

Dem Einwand, was die Palästinenser*innen denn dafür könnten, hält Améry entgegen, dass „die arabischen Flüchtlinge bei einigem guten Willen der arabischen Staaten in diesen Aufnahme hätten finden können, während vor den unter Hitler verfolgten und mit Mord bedrohten Juden alle Türen zufielen“ (55). Dem Argument, das so gerne vorgebracht wird, bei Israel handle es sich um ein ganz und gar unnatürliches Staatengebilde, ganz im Gegenteil zu den anderen hunderten ganz und gar natürlichen Staatengebilden, begegnet Améry mit einem lapidaren Hinweis darauf, dass der Staat Israel nun einmal existiere und „nicht mit weniger völkerrechtlicher Legitimation geschaffen“ wurde „als irgendein anderer“ (55).

Als „Besatzer“ könne Israel sich aber natürlich nicht „dem Mechanismus von Gewalt und Gegengewalt“ entziehen. Die Frage, welche Wahl Israel aufgrund seiner historischen Lage habe, wolle man sich aber in der Linken nicht stellen: „Ein für allemal haben sich für die in erschreckender Vereinfachung die Fronten gebildet: hie der israelische Unterdrücker, da der arabische Freiheitskämpfer!“ (56)

Der alte Antisemitismus findet da auch ein „zudem noch als Alibi geltendes Ventil durch den Antizionismus der Junglinken“; es seien die Juden „welche da als Unterdrücker stigmatisiert werden“, die schließlich „immer schon den Popanz des Weltfeindes abgeben mussten“ (59). Améry warnt mit dem „Antizionismus“ reiche man „dem Antisemitismus jenen kleinen Finger (…) dem unweigerlich die ganze Hand nachfolgen“ müsse (61), und zusätzlich laufe man Gefahr die Juden weltweit „ins reaktionäre Lager“ abzudrängen (60). Ebendies ist inzwischen Realität, aber vielleicht nicht auf die Weise, wie Améry es gemeint hat – schließlich sind in der westlichen Welt Jüdinnen und Juden in progressiven und linken Bewegungen bis heute in beträchtlicher Anzahl vertreten und wählen auch oft linke Parteien – sondern insofern als sie als Zionisten automatisch als Reaktionäre kategorisiert werden. Was die Politik in Israel betrifft, so setzt sich der Großteil der israelischen Bevölkerung inzwischen aus Mizrachim – Juden aus dem Nahen Osten – zusammen, die tendenziell eher Parteien rechts der Mitte wählen und hier auch aktiv in der Politik vertreten sind (siehe: Ben-Gvir), während die von der Linken so verteufelten Ashkenazim (Stichwort: „Go back to Poland!“) eher linke Parteien bevorzugen.

In „Juden, Linke – Linke Juden“ von 1973 kritisiert Améry bereits die Verklärung von Terroranschlägen zur „Gegengewalt“, mit der man versuche „jede Art von Grausamkeit zu rechtfertigen“ (65). Auch hier fühlt man sich an die Wortmeldungen nach dem 7. Oktober und – vielfach – seither erinnert. An die Rechtfertigung der Vergewaltigungen und die Brutalität gegen Kinder, die man dann im Slogan „Kindermörder Israel“, der sich obendrauf der uralten Ritualmordlegende bedient, nur dem israelischen Militär vorwirft. Eine weitere Entwicklung, die Améry bereits feststellte, ist die Tendenz das „Wort eines Juden“ nicht zu akzeptieren, wenn dieser sich proisraelisch äußert, und nur noch das Wort jener Juden gelten zu lassen, das dem linken Selbstverständnis nicht entgegensteht. Diese Meinung sieht Améry aber nicht als repräsentativ für einen Großteil der Juden weltweit. Dennoch ist es Améry wichtig zu betonen, dass diese Bindung an den Staat Israel nicht bedeute, man stimme allem widerspruchslos zu, was in der israelischen Politik passiert (66). Heute spiegelt sich die Tendenz das Wort des „schlechten“ Juden nicht zu akzeptieren, auch in der Tendenz wider, jede pro-israelische Aussage mit der Frage zu beantworten, ob derjenige, der sich so äußert, vielleicht selbst Jude oder zumindest Kryptojude sei.

Dies erinnert stark an das, was Léon Poliakovs Essay von 1969 bereits thematisierte. Er befasste sich mit der „Entstehung“ des Begriffs Antizionismus – wie er heute gern gebraucht wird – in Russland, wobei er auf die Russische Revolution eingeht, die Rolle jüdischer Revolutionäre, sowie Antisemitismus und Verfolgung zur Zeit der Sowjetunion, die in Schauprozessen in den 1950ern mündeten, die sich nur vordergründig gegen „Zionisten“, in Wahrheit aber gegen Juden richteten. Anstatt sie in den Akten als Juden zu kennzeichnen, nannte man sie Zionisten. Den Angeklagten wurde zumeist Verschwörung, Verrat und „zionistische“ Spionage vorgeworfen. Die sowjetische Zeitung „Krasnaja Swesda“ schrieb am 20. Februar 1953 „(d)er Kampf gegen den Zionismus (…) habe mit Antisemitismus nicht das Geringste zu tun“ (Poliakov, 68). Auch hier zeigte sich, wer Jude war, musste Zionist sein und wer Zionist war, war höchstwahrscheinlich auch Jude (Poliakov, 66).

In „Der neue Antisemitismus“ von 1976 fragt Améry „Was sagt der neue Antisemit? (…) Er sei nicht der, als den man ihn hinstelle, nicht Antisemit also sei er, sondern Anti-Zionist!“ (75) So ist es 1976 bereits gang und gebe „Schlagt die Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot!“ zu rufen, zweifelsfrei ohne den eigenen Antifaschismus je hinterfragen zu müssen, bzw. ohne sich an „das ganz eindeutige ‚Juda verrecke‘ der Nazis“ erinnert zu fühlen (76). Antizionismus sei also „die Aktualisierung des uralten, offensichtlich unausrottbaren, ganz und gar irrationalen Judenhasses von eh und je“ (77). Der Wille des Antisemiten sei es, im Juden, egal was dieser tue, als „das radikal Böse“ zu sehen (79). In seiner Rede „Der ehrbare Antisemitismus“ zur Woche der Brüderlichkeit 1976 bemerkt Améry die Rolle der UdSSR für die Meinungsbildung der Linken, für die Israel „ein imperialistisches Krebsgeschwür“ sei und „die Juden im Allgemeinen Komplizen des kapitalistischen Komplotts in Permanenz“ (86).

Im Gegensatz zu den Behauptungen der Antizionisten, sei die „Funktion“, die Israel im jüdischen Bewusstsein einnehme, Améry zufolge, eine psychologische: „Seit es Israel gibt, weiß er, der Jude ist nicht, wie der Antisemit es ihm so lange eingeredet hatte, bis es zur Überredung schließlich gekommen war, feige, unfähig zu manueller Arbeit, geboren nur zu Geldgeschäften, untauglich zum Landbau, ein faselnder Stubenhocker und bestenfalls geistreichelnder Schwätzer. Er weiß aber noch mehr: Nämlich, dass, wenn immer es ihm, wo immer, an den Kragen ginge, ein Fleck Erde da ist, der ihn aufnähme, unter allen Umständen. Er weiß, dass er solange Israel besteht, nicht noch einmal unter schweigsamer Zustimmung der ungastlichen Wirtsvölker, günstigenfalls unteren deren unverbindlichem Bedauern, in den Feuerofen gesteckt werden kann.“ (Améry, 68)

Dass es dabei als „einzigen Alliierten“ die USA an seiner Seite habe, sei der Tatsache geschuldet, dass es eben nicht besonders viel Auswahl gebe: „Es hat die einzige Hand ergriffen, die sich ihm hilfreich entgegenstreckte.“ (70)

„Müssten nicht eben sie [Anm.: die Linken], die mehrheitlich akademisch gebildet sind und auch einige Geschichtskenntnis haben, verstehen, dass prinzipiell die Lösung der palästinensischen Frage nur eine technische ist, während der von soviel Hass umbrandete Judenstaat, wenn er unterginge, seinen Bewohnern als Erbstück nichts hinterlassen würde als das Schlachtmesser des bereits zum Mord erzogenen Gegners?“ (82), fragt er.

Améry ist der Überzeugung, dass die Linke dies insgeheim wisse, es aber verdränge, und diese Indifferenz sei es, welche schließlich den Kreis schließe zum „Spießer-Antisemitismus“. Die größere Gefahr gehe inzwischen von diesem linken Antisemitismus aus, der aus einer Mischung aus Ignoranz, aber auch „antisemitischer Tradition“ schöpfe und „mit historisch-moralischem Pathos“ auftrete (82-83).

Auch die typische Argumentation, dass man ja nichts gegen Juden habe, sondern ein Problem mit Israel, wird hier wieder klar. Dagegen bringt Améry seinen Namensverwandten Hans Mayer ins Feld, der schrieb „Wer den Zionismus angreift, aber beileibe nichts gegen die Juden sagen möchte, macht sich oder anderen etwas vor. Der Staat Israel ist ein Judenstaat. Wer ihn zerstören möchte, erklärtermaßen oder durch eine Politik, die nichts anderes bewirken kann als solche Vernichtung, betreibt den Judenhass von einst und von jeher. Wie sehr das auch am Wechselspiel von Außenpolitik und Innenpolitik beobachtet werden kann, zeigt die Innenpolitik der derzeitigen anti-zionistischen Staaten: Sie wird ihre jüdischen Bürger im Innern virtuell als ‚Zionisten‘ verstehen und entsprechend traktieren.“ (87)

Und so komme es in der Auseinandersetzung mit dem Nahost-Konflikt zu einer Solidarisierung der Linken mit dem „dummen Antisemitismus“ und dem Antisemitismus der Bourgeoisie, die „atmet erleichtert auf, dass sie hier für einmal im Gleichschritt marschieren kann mit der ansonsten von ihr als Ärgernis angesehenen jungen Generation“, Menschen, die selbst „oftmals noch keinen Juden von Angesicht zu Angesicht sahen“, „(u)nd es ist ihnen wohl beim Gedanken, dass ausnahmsweise auch sie sich in Richtung des objektiven Geistes bewegen“. Der Antisemitismus sei in diesem Zusammenschluss „ehrbar“ geworden (89).

Améry stellt das „Recht“ der Palästinenser*innen klar, die sich zu jener Zeit noch „in der Phase der Nationwerdung“ befanden, die es bis dahin „als Nation nicht gab“ (93). Jene, die innerhalb Israels lebten, hätten das Recht gleiche Bürgerrechte auszuüben, jedoch auch eine Pflicht auf Loyalität mit dem Staat. Jene, die außerhalb lebten, sollten jedoch endlich anerkennen, dass Israel als Staat existiere und dass es sich beim Zionismus um eine „nationale Befreiungsbewegung“ handle (94).

Schon 1976 schreibt Améry über das gängige Argument, dass die Juden im Islam „stets friedlich“ mit den Muslimen gelebt hätten und verweist auf die Dokumentation Albert Memmis, eines tunesisch-jüdischen Schriftstellers, die dieser Argumentation bereits damals widersprach. Antisemitismus sei auch hier Alltag gewesen, Juden hätten stets als „Bürger zweiter Klasse“ gelebt und dies gelte auch für die wenigen, die immer noch in arabischen Ländern lebten (98-99). Pessimistisch stellt er fest, heute werde „(a)us der Nahost-Frage (…) im Nu eine neue Judenfrage“ und wie diese gern beantwortet werde, „das wissen wir aus der Geschichte“. Das „ebenso vorsichtige wie deutliche Abrücken von Israel“ (101) sehen wir gegenwärtig wieder deutlich.

Améry geht zudem auf die UN-Resolution von 1975 ein, die mit Hilfe der UdSSR und einiger arabischer Staaten adaptiert wurde, nach der Zionismus fortan als Form von Rassismus und rassistischer Diskriminierung zu gelten habe. Er erwähnt nun Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre, die er sarkastisch als „weitum als Knechte des Imperialismus bekannte Persönlichkeiten“ bezeichnet, als Beispiel für jene kleine Gruppe von Linken, die gegen diese Resolution protestierten, die aber im Endeffekt keinerlei Macht hatte (95). „Wo Macht ist, vom Weißen Haus in Washington bis zum Palais d’Elysée, von Downing Street bis zum Kreml, wo man längst verdrängt hat, dass es mehrheitlich Juden waren, die das Vaterland aller Werktätigen aus dem Boden des alten Russland stampften, ist man, diplomatisch mehr oder weniger paraphrasierend, bereit, das ‚Recht der Araber‘, das sich in Petro-Dollars quantifizieren lässt, zu verteidigen und das Recht der Juden, welches das ewige Unrecht der Armen ist, für ein paar Silberlinge zu verkaufen.“(95)

„Öffentliche Meinung“, so Améry, setze sich aus „Meinungen über Meinungen“ zusammen. Er stellt hier eine maßgebliche Änderung in der öffentlichen Wahrnehmung Israels fest und hebt dabei auch die Rolle des Vatikans hervor, was die Bereitschaft anging, diese UN-Resolution zu unterstützen. So sprach der Papst vom „islamischen Charakter Jerusalems“ und einer notwendigen Vermeidung der „Judaisierung der Stadt“ (96), wohlwissend, dass Ostjerusalem erst 1948 von Jordanien besetzt worden war, wobei man das jüdische Viertel zerstörte – in der Altstadt von Jerusalem wurden 35 Synagogen demoliert und der Friedhof verwüstet, wobei Jordanien anschließend die Grabsteine für den Straßen- und Latrinenbau verwendete. Im Sechstagekrieg 1967 wurde Ostjerusalem wieder von Israel erobert.

Améry kommt im Laufe seiner Essays immer wieder auf die Rolle zu sprechen, die Israel für alle Juden der Welt spiele – auch für jene, die sich selbst als Antizionisten bezeichnen. So sei dieser „ein Gemeinwesen, das die Juden gelehrt hat, sich ihr Eigenbild nicht von Antisemiten aufprägen zu lassen“ (80). Für Améry ist dabei die „Virtualität (…) entscheidend“ (92). Seit es diesen Staat gebe, „haben die Juden für alle Fälle ein virtuelles Asyl“. Israel bedeutete endlich jüdische Souveränität. Juden waren nicht mehr dem Gutdünken der „Wirtsvölker“ ausgeliefert, die sich jederzeit entscheiden konnten, diese zu vertreiben, ihnen Besitz und Vermögen abzunehmen, sie zu ermorden, zu unterwerfen und des Landes zu verweisen. Ihr Schicksal lag nun vielmehr in ihrer eigenen Hand und hing von ihrem Sieg ab (81). Die Bindung an Israel habe nichts mit „Blut- und Rassemythen“ gemeinsam, sondern die Existenz Israels habe „alle Juden der Welt den aufrechten Gang wieder gelehrt“ (91).

Nach einer Reise nach Israel sieht sich Améry in seiner Position bestätigt, die Reise habe ihm aber „die allerletzten Illusionen genommen, dass ebendiese Position auch nur die geringste Chance hat, die Öffentlichkeit zu überzeugen“ (117).

Diese Desillusion zieht sich schließlich weiter durch seinen Text von 1977 „Grenzen der Solidarität“. Berichte über Folterungen in israelischen Gefängnissen schockieren ihn, doch das führt nicht dazu, dass er sich gegen Israel stellt, auch wenn er „in der Haut eines jeden Gefolterten (…) stecke“. Der Moral sei stets der Vorrang zu geben. Er warnt zudem davor, „rabbinische Gesetze zur Grundlage einer sozialen Gemeinschaft“ zu machen und damit die Legitimität des Staates von „Legenden“ abhängig zu machen (122-123).

Er appelliert an die Humanität der Israelis, selbst im Angesicht der Mordlust der Nachbarn, auch in Anbetracht der Diaspora, denn was in Israel passiere, werde auf alle Juden projiziert (125). „Bringt es nicht dahin, dass die unaufkündbare Solidarität, die uns an euch bindet, zur Katastrophengemeinschaft miteinander Untergehender werde.“ (125)

Améry ist überzeugt, sollte Israel zerstört werden und Israelis in der Folge gezwungen sein des Landes flüchten, werde auch die Linke endgültig zerstört, welche im Falle von Despotien der Welt, die nicht westlich seien, stets schweige. Dieser Konflikt sei eine Möglichkeit für die Bewegung sich die Frage zu stellen, ob sie noch für „humanistische() Werte“, Demokratie und Gerechtigkeit eintrete (106-107), ob sie also noch ein „Kind der Aufklärung“ (111) sei. Das „politische Hexeneinmaleins“ aber, sei die „totale Verwirrung der Begriffe, der definitive Verlust moralisch-politischer Maßstäbe“ (107).

Während Juden in den 30-er Jahren „empfohlen“ wurde nach Palästina auszuwandern, wird ihnen heute „empfohlen“ nach Polen – und damit zwischen den Zeilen in die Gaskammern – zurückzukehren, und wiederholt damit die revisionistische Behauptung, nach der Israel nur aus europäischen („weißen“) Juden, Kolonialisten und Siedlern bestehe. Wenn es sich bei Israel aber um ein kolonialistisches Projekt handelt, wo liegt dann das Zentrum des jüdischen Staates, in das die Zionisten heute zurückkehren sollen? Im Falle von Polen ist die Forderung doppelt hinterfotzig, hatte man sich seiner jüdischen Bevölkerung doch zwischen 1968 und 1972 ein zweites Mal – diesmal unter Federführung der Kommunisten – entledigt, als man ihnen zurief „Zionisten zurück nach Zion!“, sie zu Staatsfeinden erklärte und ihnen die Pässe abnahm.

Wenn das der Antizionismus ist, der sich so stolz und klar vom Antisemitismus abheben soll, warum klingt er dann so altbacken, als komme er mit der Zeitmaschine geradewegs aus dem Jahr 1894 angerattert, frisch wie die Patina auf der wiederbelebten Dolchstoßlegende? Doch nicht jeder Antizionist ist ein Antisemit, wie nicht jeder Holocaustleugner ein Holocaustleugner ist. Der Vorwand ist eben doch die harte Währung des Antisemitismus, demnach man die Juden präventiv schon für die Gründung Israels in die Gaskammern geschickt habe und ganz bestimmt in Zukunft weiterhin schicken werde, bis Palästina endlich frei sei.

Wer aber „die Existenzberechtigung Israels in Frage stellt, der ist entweder zu dumm, um einzusehen, dass er bei der Veranstaltung eines Über-Auschwitz mitwirkt, oder er steuert bewusst auf dieses Über-Auschwitz hin.“ (71)

Österreichische Ruinen. Recht. Kaputt. Von Nikolaus Dimmel und Alfred J. Noll

Aus Anlass des Regierens in Österreich könnte man zur Erkenntnis kommen: Jetzt reichts. Nikolaus Dimmel und Alfred J. Noll reichts und sie haben ein 800-seitiges Buch darüber geschrieben. Es nennt sich im Untertitel „Eine Ruinenbesichtigung“, und trotzdem wollen sie „nicht in das allenthalben zu vernehmende Verfallsgejammere einstimmen“ (702). Gleich in der Vorbemerkung fällt allerdings dieser Satz: „Das Recht hat seine (seit jeher bescheidene) Funktion, berufbares Widerlager gegen latent delinquente Kapitalverwertungspraktiken und Zaunpfahl gegen sozialen Rückschritt zu sein, fast durchgehend verloren.“ (13)

Also was jetzt? Gibts Verfall und jammern wir drüber, oder doch nicht? Die Widersprüchlichkeit erhält sich durch den ganzen sehr lesenswerten Text, in dem die Autoren keinesfalls moralisieren wollen (vgl. 702), bei allen Themen aber, die nicht unmittelbar juristisch sind, so weit an der Oberfläche bleiben, dass mehr als ein paar moralische Appelle leider meist nicht überbleiben. Dem korrespondiert, dass für sie progressiv zu sein bedeutet „an Wendepunkten der Geschichte oder in Transformationskrisen konservativ zu werden“ (25). Und sie sagen auch ganz offen worum es ihnen beim Konservativwerden geht: die „Bürgerlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft [soll] aufrecht erhalten bleiben“ (266).

Im ersten Teil, in dem es um die Funktionen des Rechts und das Verhältnis von Staat, Markt und Recht geht, kommen sie weitgehend ohne moralisierende Rhetorik auf die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft zu sprechen. Dass knapp 600.000 Menschen in Österreich aus Rechtsunkenntnis, Angst, Scham, Verzichtshaltung, Sanktionsandrohungen sowie durch passive Institutionalisierung der Behörden keine, oder zu wenig Sozialhilfeleistungen beantragen. Aus meiner Berufspraxis kann ich sagen, ich habe solche Fälle oft, wie zuletzt einen Herrn, der über Jahre in einem Einzelmietzimmer mit Kochplatte und Toilette am Gang von 550 Euro Mindestsicherung gelebt hat, ohne Wissen über die darüber hinausgehenden Möglichkeiten.

Im zweiten Teil „Recht vermessen“ stellen die beiden auf lesbare und verständliche Weise ihre Rechtsaufassung dar. Sie wollen „Recht als sozialen Geltungszusammenhang“ (65) thematisieren. Hier fallen zwar die moralisierenden Begriffe „Gangster-Kapitalismus“, „Polit-Kasperl-Theater“, „Schmieröl-Psychologen des Politikberatungsgewerbes“ wieder dichter (alle gefunden auf einer einzigen Seite, 132), aber zugleich arbeiten sie sehr klar die Problematik heraus, die zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Rechts in Österreich besteht, wenn die „Angemessenheit von Recht […] anhand der schaustellerischen Authentizität und medialen Performance der Rechtssetzer beurteilt“ wird. Also gesellschaftliche Fakten bei der Bewertung von Politik vom Souverän geflissentlich ignoriert werden, zugleich das Recht von ihm aber als „Ausdruck der eigenen Enteignung begriffen“ (132) wird. Anschaulich wird das in der Rechnung die die Autoren spitzfindig aufmachen. Aggregiert man die Betriebskosten des politischen Systems in Österreich „so konsumiert [es] etwa 8,5% des BIP“ (133), während die Sozialleistungen nach den radikalen Kürzungen der letzten Jahre (Das Arbeitslosengeld beträgt nur mehr 55% des letzten Gehalts!!) für Arbeitslose bei 5,5% Anteil an den gesamten Sozialausgaben liegt. (Laut Statistik Austria Pressemitteilung 13 110-138/23)

Die Autoren wissen sehr viel und zeigen das auch. Der Aufbau des Buches verrät tiefe theoretische Kenntnisse in Verbindung mit praktischer Erfahrung, auch wenn man sich an manchen Stellen wünschen würde, die praktischen Beispiele würden stärker in den Fokus geraten. Um einen Beitrag in der politischen Debatte zu leisten, muss der bürgerliche Citoyen, der von den Autoren als Voraussetzung für den funktionierenden demokratischen Rechtsstaat herausgearbeitet wird, auch die praktische Seite der Probleme erkunden können. Zwei praktizierende Anwälte könnten da eventuell handfestes Wissen zur Darstellung bringen, das es schafft das Arkanum, das über der politischen Juristerei liegt, ein wenig zu lüften. Vielleicht wird es ja in einem Anschlussband noch nachgereicht.

Das Kapitel über die Rationalität des Rechts ist wieder brillant erzählt und auf einem hohen theoretischen Niveau und endet mit dem nachdenklich stimmenden Satz: „Der Marktfundamentalismus der Gegenwart mit seiner auf Dauer gestellten kommissarischen Verwaltung des ökonomischen Notstands (Vielfachkrise) operiert mit einem Besteck, welches der materiellen Rechtsstaatlichkeit des Faschismus wesensgleich ist.“ (414)

In der Auseinandersetzung damit, was das Recht (nicht mehr) leistet, ermitteln die Autoren dann die Probleme, die sie kritisch bearbeiten wollen. Das Recht wird ökonomisch nur mehr „als Standortfaktor verstanden und seine relative Selbständigkeit abgeschliffen“. Darüber hinaus wurde der Zugang zum Recht „und dessen wirkungsvolle Mobilisierung für untere soziale Strata verschüttet“. Und „die sozialen Reproduktionsinteressen der Lohnabhängigen (Bildungsbeteiligung, gute Arbeit, Teilhabe durch Konsum, Finanzplanung und Kredit, menschenwürdiges Wohnen, Rechte auf Gesundheit, Pflege oder Sicherung vor Armut etc.) [sind] schlicht aus dem Recht ausgewandert“ (427). Eine treffende Analyse!

Der Bogen wird auch danach noch weit gespannt. Es geht um Offshoring, darwinistische Narrative in Wirtschaft und Counter Culture, um Ideologie und Kritik und immer wieder um etwas seltsam anmutende Begriffe wie „Kapitalozän“, die neben der durchaus brauchbaren sonstigen Begriffsarbeit seltsam deplaziert wirken.

Das Buch von Dimmel und Noll ist nicht historisch angelegt, die vielen gestreuten Hinweise darauf, dass die heutige Situation bewusst herbeigeführt worden ist, muss man ihnen an vielen Stellen glauben. Der vorliegende Text spielt weitgehend in der Gegenwart und oft nicht einmal in Österreich. Denn immer, wenn es ans Eingemachte des Kapitalismus geht, fehlen offenbar die lokal spezifischen Studien. Dann kommen die üblichen Allgemeinplätze von den üblichen Autoren. So wie eher Nancy Fraser, die universale Theoretikerin des Kapitalismus und seiner feministischen Kritik, zu Wort kommt als Chantal Mouffe, obwohl zweitere doch zumindest über die österreichischen Verhältnisse geschrieben hat (Über das Politische 2007). Überhaupt geht es sehr eklektisch zu und nicht immer ist vollkommen klar warum ein bestimmter Theorieteil gerade an dieser Stelle steht, oder warum sich manche Argumentation im Buch mehrmals wiederholt und andere sang- und klanglos verschwindet, nachdem sie einmal aufgebracht wurde. Sichtbar etwa bei der Aufnahme Giorgio Agambens in den Text, dessen Beitrag für die Argumentation der Autoren überhaupt nicht notwendig gewesen wäre. Dem darüber hinaus aber auf Seite 561 großflächig widersprochen wird, wenn es um die zentrale These seines frühen Werkes, dem Verständnis des Ausnahmezustands geht. Und 10 Seiten später, auf Seite 571, wir dieser wieder hervorgeholt um eben diesen Begriff vom Ausnahmezustand zustimmend heranzuziehen. Einmal im „Gegensatz zu“, dann wieder „in Anlehnung an“. Beide Male geht es um die Außerkraftsetzung der Rechtsgültigkeit des Rechts im Ausnahmezustand.

Agamben mit seinem metaphysischen Begriff des Individuums bräuchte man dafür nicht. Wie sich auch Dimmel und Noll bewusst sind, wenn sie sich theoretisch damit auseinandersetzen, dass die Ruinierung des Rechts den Ausverkauf des Staats zur Voraussetzung gehabt hat. Sie sehen 45 Jahre neoliberale Gegenreformation als Grund dafür, dass das Recht „in vielerlei Belangen seine sozial wie ökologisch kompensierende Funktion weitgehend verloren“ (418) hat.

Gerda Marx hat das am Beispiel des „Immobilienmanagement des Bundes“ in ihrer 2007 publizierten Dissertation aufgezeigt: „In den letzten Jahrzehnten ist die Besorgung von öffentlichen Aufgaben in zunehmendem Ausmaß privatrechtlich organisierten Rechtsträgern zugewiesen worden.“ Allerdings ohne, dass „die angestrebte Straffung und Vereinheitlichung des Liegenschaftsmanagements“ erreicht worden wäre. Im Gegenteil, die angestrebte Koordination des Raummanagements wurde nicht erreicht, sondern die unklare Abgrenzung der Kompetenzen und Aufgaben zwischen den Ressorts und der BIG wurde noch verschärft. Nebenbei ist es bis 2007 nicht gelungen eine vollständige Feststellung des tatsächlichen Immobilienbesitzes des Bundes durchzuführen, was dazu führte, dass „die im Zuge der Privatisierung übereigneten Liegenschaften vielfach nicht bestimmbar“ sind.

Damit waren die idealen Voraussetzungen für Korruption geschaffen. Und just in dieser Zeit wurde das derzeit stattfindende Schmierentheater aus Politikerdarstellern und solchen die es gerne werden möchten und die mal nur wegen dem Gehalt dabei sind, politisch sozialisiert. Ein Haufen neoliberaler Schwachmaten mit dem politischen Anspruch eines Head of Backoffice in einer Filiale der Raiffeisen Bank International, die für ihre besonders sauberen Geschäfte mit Russischen Kunden berühmt ist. (Ich darf moralisieren, ich habe es mir nicht selbst verboten.) Vorgemacht haben es Größen wie der ehemalige Bundeskanzler und SPÖ Grande Alfred Gusenbauer, der eigentlich seit seinem Ausscheiden aus dem Amt beinahe ausschließlich durch Negativschlagzeilen aufgefallen ist und natürlich just im aktuellsten Skandal um die Signa-Pleite des Rene Benko auch wieder als honorarnotenstellende Fußnote aus dem Rahmen fällt.

Der Standard berichtet online am 01.12.2023: Gerade einmal drei Wochen nach seinem Rücktritt als Kanzler heuerte Gusenbauer laut „News“ bei der Signa an, für eine jährliche Pauschale von 280.000 Euro, „wobei von einem Zeitaufwand von einer Arbeitswoche pro Monat ausgegangen wird“. Inzwischen sitzt Gusenbauer neben dem Beirat auch in den Aufsichtsräten der wichtigsten Signa-Immobiliengesellschaften Signa Prime und Signa Development.

Und: Auch er kassierte Millionenhonorare. Für eine „Beratung“ im Zusammenhang mit staatlichen Corona-Hilfszahlungen in Deutschland an die Benko-eigene Kaufhauskette Galeria Kaufhof etwa stellte der Altkanzler der Signa Holding im März 2020 drei Millionen Euro exklusive Umsatzsteuer in Rechnung. Im September 2021 waren es dann nochmals zwei Millionen Euro.

Pikant daran ist nicht nur, dass Gusenbauer im Juni 2022 in der ORF-Sendung „Eco“ abstritt, dass er beratend für die Signa tätig sei. Auch lassen sich in seinen Engagements Interessenkonflikte ausmachen: Der Altkanzler berät neben Benko nämlich auch noch den Baukonzern Strabag von Hans Peter Haselsteiner, in dem er als Aufsichtsratsvorsitzender fungiert. Haselsteiner – er hält 15 Prozent der Signa Holding – liegt aber seit längerem im Streit mit Benko. Der Strabag-Gründer war federführend beteiligt an jenem Aufstand der Signa-Mitinvestoren Anfang November, der Benko von der Konzernspitze der Signa verdrängen sollte. Gusenbauer ist also geschäftlich, wenn man so will, auf beiden Seiten zu Hause.

Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass auch Ex-Kanzler Kurz mit Benko gute Geschäfte macht.

Aber zurück zum Thema: Dem Text von Dimmel und Noll vorangestellt ist ein Zitat Theodor Wiesengrund Adornos, der sich allerdings im Literaturverzeichnis nicht auffinden lässt. So wie überhaupt die textorientierte Rezeption der kritischen Theorie sich auf Jürgen Habermas beschränkt. Die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Adorno kommt zwar mal vor (160) bedarf aber offenbar keines Nachweises oder eines Zitates, weshalb sich auch dieser Text nicht im Literaturverzeichnis findet. Max Horkheimer darf mit zwei kurzen Aufsätzen reüssieren, die aber ebenso unpräzise und wie eine Pflichtübung absolviert werden. Obwohl er mit der Racket-Theorie die brauchbarste Version einer Kritik an Bandenherrschaft und politischer Korruption liefert, die uns heute zur Verfügung steht, wird öfter auf die „Soziologie des Parteienwesens“ Robert Michels Bezug genommen. Michels, zugegebenermaßen als Parteienforscher ein Begründer der modernen Politikwissenschaft, ist 1928 der Partito Nazionale Fascista Benito Mussolinis beigetreten und hat sich von da an mit der Erarbeitung einer faschistischen Theorie des Korporatismus beschäftigt.  

Das vorangestellte Motto von Adorno thematisiert die Problematik der sich ein anspruchsvoller Text stellen muss. Man kann sich präzise, gewissenhaft, dem Problem angemessen äußern, dann riskiert man als schwer verständlich zu gelten, oder man kann lax und verantwortungslos formulieren und mit Verständnis belohnt werden. Das macht neugierig zumal auf ein Buch das in Österreich geschrieben wurde, wo sonst oft genug die Seichtheit und die Laxheit das Gütesiegel des Buchverkaufs ist.

Aber es ist natürlich auch eine launige Vorbemerkung von zwei Profis, die schon so manches Buch in Österreich publiziert haben und die vor allem den Ton des Feuilletons hier gut kennen. Wer sich der heimischen Journaille nicht inhaltlich anbiedert, wird oft hysterisch rezepiert und letztlich negativ rezensiert. Sie nehmen in ihrer ganzen auf das Motto folgenden Einleitung diesen hysterisierten Ton der Kritik und die mögliche Stoßrichtung der über das Buch eingereichten Mängelliste vorweg und versuchen dem politisch motivierten Raunzen vorneweg gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen.

„Ja wir haben uns viel vorgenommen, ja es ist schwierig zu lesen, ja wir haben nicht alles belegt, ja manches wird für Aufregung sorgen, aber wir wissen das, wir müssen es nicht mehr in der Rezension lesen.“

Man will sich nicht anbitzeln lassen, das Thema ist zu wichtig. Und sie haben auch Recht damit. Das Buch ist eine Grundlagenarbeit. Hier wird eine theoretische Perspektive eröffnet und der Stil ist ambitioniert unösterreichisch. Mit Kleinigkeiten halten sich die Autoren nicht auf. Sie haben ein Projekt vor sich das mit Kritik, mit Einspruch und mit Gegenwehr hantiert. Ein Projekt, das vom Duktus der Einwände gegen das bestehende System her durchaus einen Anspruch auf Veränderung setzt. Aber können sie zu einer utopischen Perspektive durchdringen?

Hier schreiben zwei Männer die schon lange in diesem Österreich erfolgreich sind. Deshalb ist bei aller kritischen Rhetorik immer zu spüren, dass ihnen nicht ganz geheuer ist bei dem was sie da sagen. Sie zitieren zwar ausgiebig Marx und Gramsci, vom operativen Impetus her sind sie aber eher bei Eduard Bernstein zu Hause. Auf Seite 523 sind sie sogar ein bissl wehleidig, was ihren eigenen Berufsstand angeht. Das Thema Digitalisierung streifen sie nur an der Oberfläche. Was verwundert angesichts des Versuchs eine zeitgemäße Darstellung der Probleme des Rechts anzufertigen. Julie E. Cohen und Ifeoma Ajunwa, die spezifisch zum Thema der Digitalisierung und dem Wandel des (Arbeits-)Rechts arbeiten, sucht man auf der, ansonsten beeindruckend langen, Literaturliste vergebens. Ebenso Simon Schaupps Kritik der digitalen Dequalifizierung von Arbeit und dem damit verbundenen Lohndumping fehlt. Aber auch Klassiker der Kritik des digitalen Kapitalismus, bei denen das Recht durchaus eine Rolle spielt, wie David Schiller und Wolfgang Fritz Haug, bleiben unerwähnt.

Empört sind Dimmel und Noll in Zusammenhang mit der Digitalisierung vor allem über das digitale „Ende des Anwaltsmonopols bei der Erbringung von Rechtsdienstleistungen“ (524). Das erleichtert zwar, wie sie selber zugeben, „einkommensschwachen Haushalten den Zugang zum Recht“ (523), aber gleichzeitig werden dadurch haufenweise legal assistants in den USA arbeitslos. Das kommt einer „Industrialisierung des Dienstleistungsmarkts auf dem Gebiet der Rechtsberatung gleich“ (524) und könnte auch damit in Zusammenhang stehen, dass „die Digitalisierung ein zentraler Treiber der Herausbildung eines autoritären Überwachungsstaates“ (ebda.) ist.

Als Berufsstandswahrer behält man sich vor abzuwägen, ob es besser ist, dass Arme gleichberechtigten Zugang zu Informationen über das Recht haben, oder Anwälte Jobs. Als in der Sozialarbeit tätiger Mensch kann ich nur sagen, das Ende des Anwaltsmonopols bei niedrigschwelliger Beratung wäre eine absolute Demokratisierung des Rechtsstaats und eine Unterstützung für alle, durch denselbigen, Deklassierten.

Gleichzeitig sind Dimmel und Noll an vielen Stellen zu Recht empört und bringen das auch selbstkritisch zum Ausdruck, wenn sie feststellen, dass ein „merklicher Teil der Krise des Rechts ganz offenkundig darin besteht, dass diese Krise innerhalb der Rechtswissenschaft kaum angemessen reflektiert wird“ (546).

Aber als gelernte Anwälte mit bürügerlicher Sozialisierung sind sie kaum gewillt, alle Verhältnisse umzustoßen in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes Wesen ist. Vielmehr scheinen sie zurück zu wollen in eine Zeit in der alles besser war, ohne, dass sie historisch klären würden, ob es diese Zeit je gab. Oder was die Gründe für ihren kurzen Bestand und ihr Ende waren. Wenn die neoliberale Gegenreformation seit 45 Jahren läuft, dann sind sie wohl mit David Harvey einig, dass der Neoliberalismus Ende der 1970er Jahre beginnt. Dimmel und Noll waren 1977, im Jahr der Versenkung der Lucona, 18 und 17 Jahre alt. Und sie haben trotzdem teilweise recht, denn der große Unterschied zu den jetzigen Verhältnissen ist, dass Nationalratspräsident Leopold Gratz und Innenminister Karl Blecha von der damaligen SPÖ zurücktraten. Das würde Wolfgang Sobotka von der jetzigen ÖVP niemals passieren.

In ihrem Abschlusskapitel überschrieben mit „Und jetzt, wohin?“, also der bürgerlichen Variante Lenins „Was tun?“, einigen sie sich darauf, dass es das Recht und die Anwälte weiterhin braucht, um zwischen partikularen Interessen zu vermitteln und vor allem Fragen der Umverteilung und Gerechtigkeit gesamtgesellschaftlich zu be- und verhandeln, anstatt sie immer mehr den Individuen zuzuschieben.

Sie bezeichnen das Recht als „Speerspitze der Durchkapitalisierung“ (561), was mit sich bringt, dass es zu einer zunehmenden „Flucht der Herrschenden und der von den bestehenden Verhältnissen Profitierenden aus dem Recht“ (427) kommt. Diejenigen die sich die Regeln machen können, halten sich nur daran, wenn sie ihren wirtschaftlichen Interessen entsprechen.

Dimmel und Noll wenden sich gegen die Ungerechtigkeiten die aus der „Nichtanwendung geltenden Rechts“ (546) resultieren, aus der fortgesetzten kommissarischen Verwaltung, die dafür sorgt, dass Niedriglöhne niedrig bleiben und zugleich Liftbetreiber und Hoteliers, die mit diesen Niedriglöhnen ihre Marge machen, während der Pandemie mit 6 Milliarden Euro unterstützt wurden. Um hinter die Perfidie dieser Situation zu steigen, braucht es für die Autoren, eine kollektive Vernunft. Und, wie jeder Jurist der Welt jedem juristischen Laien der Welt jederzeit für gutes Geld erklären wird: „Jede Form kollektiver Vernunft kann sich nur im System des Rechts entfalten.“ (684)

Das Recht soll sich nicht am Markt ausrichten. Aber rationale Rechtspolitik muss Leistung bringen. Die „Leistungskapazität des Rechts […] hängt […] davon ab, ob es ökonomische Bedarfsdeckung, ökologisch Nachhaltigkeit und soziale Inklusion bzw. normative Sozialintegration auf partizipative Weise, evidence-based und in einer den rechtsstaatlichen Grundprinzipien verpflichteten Weise organisieren und gewährleisten kann.“ (691) Überprüfen kann man das durch „rekursive Rückkopplung von Gesetzgebungsprozessen an außerrechtliche Wissensbestände und Expertisen, die Ersetzung des Bundesrats durch eine Kammer von Fachleuten, durch partizipative Verfahren der Rechtssetzung, etwa durch Kinder-, Stadtteil- und Bürgerparlamente durch unmittelbare Antragspositionen von Kontrollagenturen“ (691f.).

Widerstand bedeutet für die Autoren „die Entwicklung rechtlicher Argumentations- und Begründungsfiguren, welche dem Widerstand Legitimität (Rechtfertigung) Legalität (Berechtigung) verleihen, […] die Herauspräparierung antihegemonialer, alternativer Normenbegründungen“ (699).

Das Buch ist eine große Reise durch die Rechtsphilosophie und die bürgerliche Kapitalismuskritik. Es fordert zum Nachdenken heraus und es ist, mit all seinen Fehlern, das zur Zeit beste Buch auf diesem Gebiet. Man kann es im Regal allein schon wegen seines Umfangs sehr gut, neben Joseph Buttingers „Am Beispiel Österreichs“ platzieren und hätte zwei Klassiker nebeneinanderstehen. Einen vergangenen und einen künftigen.

Roger Waters war einmal ein Musiker

Als schmähstad bezeichnet man den österreichischen Zustand der Sprachlosigkeit in Anbetracht des Ausgeliefertseins an eine unerträgliche Realität, die einem auf der Zunge liegt wie ein rostiger Löffel. Das Pogrom in Israel vom 7.10.2023, das ca. 1.400 Menschen das Leben kostete und damit das größte Massaker an Juden in der jüngsten Geschichte darstellt, hatte leider nur bei den wenigsten Artgenossinnen eine solche Schmähstadheit zur Folge. Was sich die Jahre davor bereits „im Kleinen“ regelmäßig wiederholt hatte, führte nicht, wie von der kleinen Minderheit „nicht-israel-kritischer“ Linker angenommen, zur Erkenntnis, dass es sich um einen zivilisatorischen Bruch handelte und zur Solidarität mit den getöteten Israelis und ihren Familien, sondern entwickelte sich zum ausgewachsenen Relativierungsmanöver der antifaschistischenTM Internationale. Es stellte sich also, nicht wie von einigen naiverweise erwartet, ein großer Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung Israels ein, sondern es geschah, was auch bisher wiederholt der Fall war, wenn es sich um das Thema Israel handelte, die Verantwortung verschob sich auf die Angegriffenen, während man den Angreifern die Verantwortung entzog.

Organisationen wie Black Lives Matter Chicago, die zurecht auf rassistische Praxis und Strukturen in der US-amerikanischen Exekutive hingewiesen hatten, sahen sich bemüßigt sich über die 260 massakrierten Besucherinnen des „Supernova Sukkot Gathering“ lustig zu machen, indem Sie die schematische Darstellung eines Fallschirmspringers mit „I stand with Palestine“ Schriftzug teilten, ein Bild also jener Hamas-Kämpfer, die massenhaft in Fallschirmen auf dem Gelände gelandet waren, ehe sie sich über ihre Opfer hermachten. Fridays For Future Wunderkind Greta Thunberg veröffentlichte einige, im günstigsten Interpretationsfall, unbedarfte Äußerungen zum Terroranschlag der Hamas. Fridays for Future teilt mit den Kadern der Mordbande die Ansicht, die Killer von israelischen Babys seien „Märtyrer“.

Ereignisse wie diese sollten aber keine Überraschung sein, hatte sich ähnliches doch Jahr um Jahr wiederholt. 2019 behauptete die Black Lives Matter Aktivistin Tamika Mallory Trump habe sich mit seinen Reisebeschränkungen und Anti-Immigrationsgesetze ein Beispiel an Israel genommen. Unterstützerinnen von BLM zogen während der Demonstrationen nach der Tötung George Floyds durch die Polizei Parallelen zwischen seinem Schicksal und der Behandlung von Palästinenserinnen durch israelische Soldaten. Der ehemalige Musiker Roger Waters hatte zur selben Zeit in einem Interview behauptet der „Mord an George Floyd (…) wurde mit einer Technik verübt, die von den IDF, den Besatzungskräften, erfunden wurde. (…) Das ist eine israelische Technik, die den militarisierten Polizeikräften der USA von israelischen Experten beigebracht wird, die die USA in die Vereinigten Staaten fliegen lässt, um ihnen beizubringen, wie man Schwarze ermorden kann, weil sie gesehen haben wie effizient die Israelis bei der Ermordung von Palästinensern in den besetzten Gebieten waren (…)“

Apropos Märtyrer: Die ehemalige linke Vorzeigefeministin Nicole Schöndorfer postete am Tag nach dem Terroranschlag in Israel auf Instagram davon „auch die mehr als 300 Märtyrer von Gaza“ zu ehren, „die durch die feigen Luftangriffe des zerfallenden zionistischen Gebildes und seiner dezimierten Armee gefallen sind, die es nicht wagt, sich den heldenhaften Bewohnern des Streifens zu nähern, außer aus der Ferne in einem von den USA finanzierten Kampfflugzeug, das Bomben auf sie abwirft.“

Zwar wird ständig wiederholt Hamas repräsentiere nicht die Bevölkerung des Gazastreifens, was dann aber mit solchen Aussagen wieder zunichtegemacht wird. Wenn behauptet wird, dass die Palästinenserinnen nicht Hamas sind, Hamas aber dann doch den Freiheitskampf der Palästinenserinnen führt. Hamas repräsentiert übrigens buchstäblich die Bevölkerung des Gazastreifens. Denn Hamas ist die politische Vertretung des Gazastreifens. Wenn im Begriff „der Westen“ eine Deckungsgleichheit der Bevölkerungen sämtlicher westlicher Länder mit deren Regierungen mitschwingt, so gilt dies wohl auch für die Gazaner (44,45%), die Hamas 2006 gewählt haben. Wenn Teile der Bevölkerung noch dazu Süßigkeiten verteilen, um das Massaker zu feiern, sowie sich selbst an der Quälerei beteiligen, gilt dies umso mehr. Wenn man allerdings anerkennt, dass die politische Klasse und die Bevölkerung nicht zwingend deckungsgleich sind, muss man annehmen, dass dies auch nicht zwingend auf die Bewohner des Gazastreifens zutrifft. Auch die deutsche Bevölkerung stand nicht geschlossen hinter Hitler, jedoch geschlossen genug, dass diejenigen, die Widerstand leisteten, nicht deutlich genug ins Gewicht fielen. Ein vom palästinensischen Bildungsministerium 2004 herausgegebenes Schulbuch lehrt, zu den „Grundlagen des Zionismus, die auf dem Ersten Zionistenkongress 1897 beschlossen wurden“ gehöre „eine Gruppe vertraulicher Resolutionen (…) unter dem Namen ,Die Protokolle der Weisen von Zion‘“ mit dem Ziel der Weltherrschaft. Die Gründungscharta der Hamas spricht dezidiert von der Pflicht Israel zu erobern, da es sich um ein „islamisches Heimatland“ handle und damit für immer islamisch bleiben müsse. Ebenso in der Charta zu lesen ist „Das Jüngste Gericht wird nicht kommen, solange Muslime nicht die Juden bekämpfen und sie töten. Dann aber werden sich die Juden hinter Steinen und Bäumen verstecken, und die Steine und Bäume werden rufen: ,Oh, Muslim, ein Jude versteckt sich hinter mir, komm und töte ihn.‘“ Vom Fluss bis zum Meer!

Dass die andere Seite mittlerweile auch wahnhaft agiert, liegt nicht nur am Lagerkoller der nicht enden wollenden kriegerischen, terroristischen und propagandistischen Bedrängung durch die lieben Nachbarn, sondern auch daran, dass sich an der Spitze des israelischen Staates eine Clique breit gemacht hat, die mehr an ihrem Eigeninteresse als am Wohl ihrer Bürger, oder gar der Region orientiert ist.

„We don’t need no occupation – we don’t need no racist wall“ schrieb Roger Waters anlässlich eines Konzerts in Israel auf eine Schutzmauer an der Grenze zum Westjordanland und bringt damit den anti-israelischen Wahn auf eine Formel, die bei denen, die den so genannten Nahostkonflikt zu kompliziert finden, auf fruchtbaren Boden fällt. Denn natürlich sind Segregation und Rassismus dem friedlichen Zusammenleben nicht förderlich. Und natürlich ist die Besetzung eines anderen Landes ein völkerrechtliches Verbrechen. Und selbstverständlich ist eine Mauer das Symbol des Ausschlusses und der gewaltsamen Einhegung schlechthin.

Aber diese einfache Formel ist, wie man am 7.10. 2023 sehen konnte, in diesem konkreten Fall falsch. Denn die Mauer steht nicht nur als Symbol für die Spaltung, sondern auch als reale Schutzmöglichkeit vor eben dem Terror, der gerade verübt wurde. Bereits Aristophanes schreibt vor 2.500 Jahren: „Nicht von den Freunden, sondern von den Feinden lernen Städte die Lektion hoher Mauern.“ Die Mauer war jahrtausendelang ein Symbol der Verteidigungsfähigkeit von Gemeinschaften in einer kriegerischen Welt. Mauern sind in ihrer Funktion beschützend, nicht teilend, oder gar rassistisch. Aber Roger Waters lebt ja nicht gerade in der gefährlichsten aller Welten. Er kritisiert meist aus seinem Manhattan Townhouse mit Sicherheitsdienst und Portier heraus. Oder aus seiner 16,2 Millionen Dollar Villa im Vorort Bridgehampton nahe New York. Die historische Pferderennbahn dort wäre geeignet das Royal Ascot zu beherbergen.

Roger Waters selbst hat dieses Zweithaus übrigens an einer Stelle bauen lassen, an der sich ein aus dem 19. Jahrhundert stammendes historisches Wohnhaus befunden hat. Er hat es abreißen lassen, vermutlich mit Bulldozern, und mit einer Mauer umgeben, wie man sich auf virtualglobetrotting.com ansehen kann.

Das Mauerproblem wird in der Auseinandersetzung mit dem Konflikt gerne im Zusammenhang mit der Disproportionalität, von der der Konflikt dominiert sein soll, in den Raum gestellt. Zu viele Palästinenserinnen seien bisher im Konflikt gestorben, zu wenige Israelis. Man wirft also den Israelis vor, dass sie sich nicht oft genug ermorden lassen – man hofft wahrscheinlich auf einen weiteren Anlass zum Begehen eines Gedenktags – dass sie einfach nicht oft genug sterben, sich dagegen zu sehr und zu gut darauf eingestellt haben zu überleben, im Konflikt auf unfaire und unlautere Mittel zurückgreifen, die sie damit von den begrenzten Mitteln ihrer Angreifer abheben, um ihr eigenes Überleben sicherzustellen. So haben sie in Reaktion auf die Zweite Intifada 2000, als Reaktion auf Terroranschläge aus der Westbank also, mit dem Bau der Sperranlagen, der Mauer, erst begonnen. Zudem investierten sie, als Reaktion auf andauernde Raketenbeschüsse, in eine Luftabwehranlage, den Iron Dome. Der Vorwurf ist, dass der Staat Israel sich ein Raketenabwehrsystem zum Schutz der eigenen Bevölkerung leistet, während die hochsubventionierte Hamas ihre Bevölkerung für Special Effects verheizt? Mit welcher Begründung? Dass die Waffen des Gazastreifens schlecht sind? Dass gefälligst ausgeglichen oft gestorben werden soll? Dass gefälligst alle gleich schlechte Waffen haben sollten? Dass gefälligst beiden politischen Vertretungen die eigene Bevölkerung egal sein sollte? Ist eine strenge Kontrolle des Personenverkehrs an der Grenze eine disproportionale Reaktion auf Terroranschläge? Man weiß es einfach nicht. Seit Staatsgründung verzeichnete Israel über 1.600 Terroranschläge. Die Frage ist, ab wie vielen jüdischen Opfern wäre die Frage der Disproportionalität gelöst? Wie wäre es mit 6 Millionen? Wie wäre es mit 900.000 vertriebenen Juden aus den arabischen Ländern und der muslimischen Welt?

Disproportionalität. Wie wäre es mit einer Kriegserklärung gegen Israel einen Tag nach Ausrufung des Staates, durch fünf arabische Armeen, mit dem expliziten Ziel der Auslöschung aller Juden auf dem Gebiet des neuen Staates? Einer Kriegserklärung gegen das einen Tag alte Land ohne Heer, das nur mithilfe von paramilitärischen Gruppen siegte? Wie wäre es mit 103 Verurteilungen Israels vor dem UNO-Menschenrechtsrat zwischen 2006 und 2023, einem Rat in dem Saudi-Arabien 2015 den Vorsitz hatte? 2022 belief sich die Zahl der Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen gegen Israel auf 15, der Rest der Resolutionen wurden gegen 13 weitere Länder (je eine Resolution pro Land, bis auf Russland mit 6 Resolutionen) verhängt. Zu den Ländern zählten u. a. Nordkorea und Afghanistan.

Reden wir über Disproportionalität. Im Mai 2023 feuerte der Palästinensische Islamische Jihad 104 Raketen nach Israel, worauf Israel Luftangriffe flog, was wiederum zum Abschuss von 400 Raketen gegen Israel führte. Die Tagesschau kommentierte dies folgendermaßen „Aus Gaza sollen rund 400 Raketen auf Israel abgeschossen worden sein – als Reaktion auf die Luftangriffe.“ Disproportionalität. Ab wie vielen Raketen wäre ein Luftangriff Israels gerechtfertigt? Ab wie vielen israelischen Opfern wären Luftangriffe auf Hamas in Gaza gerechtfertigt?

Oder wollen wir über die Disproportionalität der Analogien sprechen? Was ist zum Beispiel Genozid? Und wie kann man einen jahrzehntelangen Genozid mit einem jährlichen Bevölkerungswachstum von 2,8% im Gazastreifen beschreiben? Als mäßig erfolgreich? Was ist nochmal ein Konzentrationslager? Was bedeutet Apartheid? Was Kolonialismus, Imperialismus, Nazismus, Faschismus? Wissen wir das? Gibt es dazu historische Forschung? Gibt es für diese Wörter überhaupt Definitionen? Wozu wurde Sprache erfunden? Etwa um zu kommunizieren? Ist es überhaupt noch notwendig, dass wir uns über die Bedeutung von Wörtern einig sind? Sollte es nicht möglich sein, dass man einfach alles mit allem vergleicht und jedes beliebige Wort für jedes beliebige zeitgenössische Phänomen verwendet?

Die UN stimmte nach dem größten Massaker an Juden in der jüngsten Geschichte über eine Resolution gegen Israel ab, damit es zum Waffenstillstand angehalten wird, eine Resolution die den Auslöser des Krieges, Hamas, mit keinem Wort erwähnte. 13 Länder stimmten dagegen.

Proportionalität. Israel ist das einzige Land der Welt, das dafür kritisiert wird, dass es LGBTQ-Rechte unterstützt und eine Gay Pride hat. Das nennt sich dann „Pinkwashing“. Die nicht vorhandenen Rechte von LGBTQ-Personen im Gazastreifen würdigte man zuletzt allerdings mit einer LGBTQ-Palestine-Crossover-Flagge bei einem Pro-Palästinensischen Protest in New York.

Proportionalität. Israel ist doppelt so groß wie Oberösterreich. Proportionalität. Ein jüdischer Staat weltweit. 50 muslimische Nationen weltweit. Juden machen 0,19% der Weltbevölkerung aus. Das sind 15 Millionen. Ca. 7 Millionen leben in Israel. 21% von Israels Bevölkerung sind muslimische Araberinnen, 5% gehören anderen Religionen an. Die letzte Zählung ergab dagegen eine Zahl von 13 Millionen Palästinenserinnen weltweit, Tendenz steigend. Warum? Auch weil der Flüchtlingsstatus der Palästinenserinnen vererbt wird. Sprechen wir noch einmal über das Rückkehrrecht? Im Gazastreifen leben keine Juden.

Proportionalität wäre auch gefragt beim Verteilen der Verantwortung. Denn Israel, das seit Jahren den Gazastreifen mit Wasser, Strom und Lebensmitteln versorgt, hat auch in Kriegszeiten das feindliche Gebiet mit Wasser, Strom und Lebensmitteln zu versorgen. Die Nichtlieferung in Zeiten des Krieges sei ein „Versuch den Gazastreifen auszuhungern“. Warum es im Gazastreifen allerdings keine funktionierende Wasserversorgung gibt und was mit den Trinkwasserrohren passiert ist, die vor Jahren aus Israel kamen, bleibt unbeantwortet. Man könnte meinen der Gazastreifen habe nur eine Grenze mit Israel. Wenn da nicht Ägypten wäre. Hungern eigentlich die Ägypter auch die Gazaner aus? Nein, so erfährt man in Diskussionen, denn „die Grenze zu Ägypten ist seit Jahren zu“ und „da bisher Lebensmittellieferungen aus Israel kamen“, war die „Konsequenz der ägyptischen Grenzsperre (…) nie, dass in den Gazastreifen keine Lebensmittel kommen“. Aha. Man könnte sich jetzt vielleicht fragen, ob die Konsequenz aus der ägyptischen Grenzsperre nicht doch ist, dass keine Lebensmittel in den Gazastreifen kommen. Israel hat zwar 2005 den Gazastreifen verlassen, aber: wer einmal liefert, hat eine lebenslange Verpflichtung, selbst im Kriegszustand, selbst wenn es sich um das feindliche Gebiet handelt, wer nie liefert, kann auch nie in der Pflicht sein zu liefern. Nun gut.

Ähnlich verhält es sich mit der Tötung von Zivilistinnen. Wenn Hamas sich hinter Zivilistinnen versteckt und von Krankenhäusern, Schulhäusern, Gebetshäusern aus Raketen schießt, damit also internationales Recht bricht, ist es Israels Schuld, wenn Zivilistinnen sterben, auch wenn Israel das Gebiet bombardiert, weil sich dort Terroristen und Kriegsmaterial befinden und davor Warnungen an die Zivilbevölkerung ausspricht das Gebiet zu verlassen. Wenn diesen Warnungen aus unterschiedlichen Gründen – weil beispielsweise Hamas die Bevölkerung nicht gehen lässt und damit internationales Recht bricht – nicht nachgekommen wird, ist es ebenfalls Israels Schuld. Die Bevölkerung des Gazastreifens verdient also keinen Schutz durch die eigene Führung, dafür soll der angrenzende Staat, mit dem man sich im Krieg befindet, auch Sorge tragen? Der Terrorakt sind nicht die entführten und gemetzelten israelischen Zivilistinnen und der andauernde Raketenbeschuss, sondern der Versuch Israels den Kriegsgegner und seine Waffenlager zu zerstören?

Natürlich ist es nur vernünftig, wenn man vollkommen absurde Dinge von Israel erwartet, die man von keinem anderen Staat der Welt verlangen würde, sich beschießen zu lassen zum Beispiel, seine Bürgerinnen der Metzelei freizugeben, ohne darauf reagieren zu dürfen. Oder die Bewohnerinnen des Gazastreifens – der unter der Kontrolle von Hamas steht – rechtlich genau gleich zu behandeln wie die eigenen Staatsbürger. Dann verfasst man Headlines wie „Israel erwidert trotz neuer Waffenruhe Beschuss aus Gaza“, ohne zu bemerken, dass eine Erwiderung eines Beschusses während eines Waffenstillstands wohl ohne vorangegangenen Beschuss während eines Waffenstillstands gar nicht notwendig gewesen wäre, und ohne sich zu fragen, ob man eigentlich irgendwo angerannt ist. Und wenn man dann doch drauf hingewiesen wird, brüllt man geistesgegenwärtig „Bitte, die unterstellen mir schon wieder Antisemitismus!“ Denn, wie weithin bekannt, ist der Vorwurf des Antisemitismus viel schlimmer als Antisemitismus selbst.

Mit Antisemitismus haben die sich seit dem 7. Oktober häufenden wahlweise „antizionistischen“, wahlweise „israelkritischen“ Ausschreitungen jedenfalls nichts zu tun. Eine Gruppe wahrscheinlich „israelkritischer“ Randalierer hat in Dagestan den Flughafen und ein Hotel gestürmt auf der Suche nach „Israelis“ oder „Juden“, so heikel waren sie dann nicht. Wahrscheinlich um zu diskutieren, man kennt es ja, da kann es schon mal heiß hergehen. Aber Putin weiß mehr. So machte er die Ukraine und den Westen für die Aufstände verantwortlich.

In Istanbul gibt es wieder „israelkritische“ Hinweisschilder auf Büchergeschäften, schön inklusiv gehalten, mit „Jews not allowed“. Der Ladenbesitzer erklärt dies so „Vielleicht hätte es Zionisten oder Israelis heißen sollen, aber ich war wütend und emotional“. Wut und Emotionalität dürften länger angehalten haben, denn das Ausbessern des Schildes ist sich nicht ausgegangen. In Berlin wurden Häuser und Straßen mit Davidsternen beschmiert. In den USA wurde das Oberhaupt der Detroiter Synagoge Samantha Woll wahrscheinlich von einem „Israelkritiker“ erstochen. In London und Sydney riefen „antizionistische“ Pro-Palästina-Demonstranten „Gas the Jews!“. Wiener „Antizionisten“ haben den Vorraum der Zeremonienhalle am jüdischen Teil des Zentralfriedhofs niedergebrannt und Hakenkreuze an die Außenmauern gemalt.

Der gazanische „antizionistische“ Filmemacher Soliman Hijjy postete ein Foto von Hitler in den sozialen Medien und behauptete er befinde sich „in einem ähnlichen Zustand der Harmonie wie Hitler während des Holocaust“. Der „israelkritische“ Vorsitzende des Ausschusses für Nationales Erbe und Kultur des Senats von Pakistan, Afnan Ullah Khan, hat als Reaktion auf die Behandlung der Gazaner durch Israel ein Foto von Adolf Hitler geteilt, mit der Überschrift „Wenigstens weiß die Welt jetzt, warum er getan hat, was er getan hat!“ Die jüdischen Opfer der Vergangenheit sollen damit im Voraus für die Taten der Juden Israels der Gegenwart mit dem Tod bestraft worden sein. Fragt sich nur, warum die präventive Strafe anscheinend noch nicht gereicht haben soll. Der Hamas-Anführer Hamad Al-Regeb hat für die Auslöschung der Juden gebetet, nicht, wegen des Konfliktes um das Land, sondern weil diese „schmutzige Tiere“ seien, „Schweine“ und „Schimpansen“ und laut dem Koran für ihre Sünden büßen müssten.

Antisemiten erkennt man oft daran, dass sie jeden Tag hunderte „israelkritische“ Artikel verfassen und teilen, in großen Tageszeitungen und Verlagen publizieren, dass sie den Vorsitz in transnationalen politischen Organisationen haben und eigene Konferenzen zu ihrem Herzensthema organisieren, dass sie längst dem politischen Mainstream angehören, das aber selbst nicht erkennen mögen, dass sie auf Facebook begeistert Postings kommentieren in denen Wörter wie „hebräisch“, „Israel“ oder „jüdisch“ vorkommen, es dabei aber dennoch schaffen – ohne dabei zu lachen – zu behaupten, „Israelkritik“ sei ein Tabuthema und niemand höre die Stimme der Palästinenserinnen. Sie verfassen Kommentar über Kommentar über Kommentar unter den Social Media Postings von Musikerinnen, Künstlerinnen und inzwischen sogar unter den Reels von Instagram-Z-Promis, und drangsalieren sie dafür, dass sie entweder das falsche, oder gar nichts, oder zu wenig über die Menschen im Gazastreifen gepostet haben.

Am Ende kann man feststellen, dass alle diese Versuche Israel zu dämonisieren Früchte tragen. Dass es wirklich mittlerweile so ist, dass man, egal wo auf der Welt, als Jude in Gefahr ist. Und, dass es dadurch den Menschen in Gaza um keinen Deut besser geht. Oder um es mit den aktuellen Worten eines Vertreters der Hamas im Deutschlandfunk zu formulieren: Auf die Frage eines Korrespondenten, weshalb die Hamas die Tunnel nicht für die eigenen Leute zum Schutz nütze, sagte der Mann von der Hamas: „Die Tunnel sind für uns. Um die Bevölkerung kümmert sich die UNO.“

Ela & Stefan

Wo ist eigentlich „unterm Schirm“? – Ein Gespräch gegen Ladybrains und Schminkischminki


Dieser Text ist der Anfang eines langen und ausführlichen Gesprächs, das in seinem vollen Umfang in unserem nächsten Buch (im Print und als E-Book) beim Luftschacht Verlag erscheinen wird. Hier ein kurzer Teaser:


Gespräche gegen die Wirklichkeit

Von Sokrates haben wir gelernt, dass Selbsterkenntnis kein einsamer Akt ist, sondern nur im Gespräch mit anderen stattfinden kann. Sokrates war oft in Einigkeit mit der Wirklichkeit und hat an der Seite seiner Mitbürger so manche Schlacht für die Aufrechterhaltung seiner Polis gefochten. Einer Polis, die Sklaven und Leibeigene als Basis ihrer Ökonomie ausgebeutet, und die Frauenrechte mit Füßen getreten hat.

Im Gespräch lässt sich gleichzeitig Recht und Unrecht haben. Auch abwechselnd. Wir wollen beweisen, dass es längst überfällig ist, die Welt zu verändern. Wir wissen eigentlich, wie Freiheit geht. Aber mit Sokrates werden wir sie nicht erreichen. Die Welt ist falsch eingerichtet, dass sie aber gar so falsch eingerichtet ist, wäre noch dazu nicht einmal nötig. Sprechen wir darüber.


Stefan: Ich mach jetzt etwas, was wir sonst nicht tun und was eigentlich eh klar sein sollte. Aber ich stell jetzt erst mal was klar. Wir freuen uns natürlich auch bei diesem Text wieder auf sehr viele Zuschriften von wütenden Männern. Aber da wir möglichst wenige Zuschriften von wütenden Frauen haben wollen, soll trotzdem gesagt sein, dass dieser Text sich nicht gegen transsexuelle Menschen richtet. Es soll auf die Nöte von Frauen hingewiesen werden, die sich aus den vielen gesellschaftlichen und politischen Unklarheiten ergeben, die das Thema der Transsexualität begleiten.

Wir sind dafür, dass jeder Mensch seine sexuelle Identität auch in der Öffentlichkeit so ausleben kann, wie er/sie das gerne möchte. Wir fühlen uns solidarisch mit Menschen, die ihre sexuelle Identität offen leben oder wandeln wollen. Wir werten nicht die sexuellen Vorlieben oder Identitäten, die Menschen präferieren. Wir sprechen hier über ganz andere Dinge. Wir sprechen über Gewalt von Männern gegen Frauen. Über das Eindringen von Männern in absolut notwendige Schutzbereiche für Frauen und über Gewalt gegen Kinder. Wer Transrechte gegen die Rechte von Frauen und Kindern anwendet, ist selbst ein Täter und hat daher weder politische Toleranz und schon gar nicht den Schutz vor Polemik verdient.

Ich illustrier das mal mit einem Beispiel: Stell dir vor, du bist eine Frau, die sich ihr Leben lang für den Feminismus eingesetzt hat, mit allem was sie hat. 70 Jahre purer Feminismus in Wort und Schrift. Und dann kommt ein Mann, der, nachdem er sein Leben lang alle Vorteile eines heterosexuellen Mannes genossen hat, mit Ende seiner Karriere beschlossen hat, er ist jetzt auch eine Frau und lässt sich mit Lippenstift abbilden und kommt natürlich sofort aufs Cover der postfeministischen Nobelpreisjuryzeitschrift als „Frau des Jahres“. Und der Mann lässt dir dann über die Medien ausrichten, dass du eine alte weiße Frau bist und ab jetzt die Schnauze halten sollst.

Das ist übrigens wirklich passiert. Georgine Kellermann hat verdiente Feministinnen sehr undifferenziert als TERFs (Trans-Exclusionary Radical Feminist) bezeichnet und in den Kommentaren persönlich beschimpft. Da hat also ein Mann den Karriereschutzraum für Männer genutzt, um sein Leben lang eine schnelle Schiene nach oben zu haben und hat sich dann, als das alles vorbei war, entschieden, er ist jetzt auch eine Frau und will sozusagen sein Ruhestandsprivileg auch noch einfahren. Das ist prinzipiell nicht verwerflich. Was mich ankotzt daran ist, dass er es auf Kosten von Frauen tut, wenn er seine Selbstdefinition dann dazu nutzt feministische Frauen öffentlich anzupatzen. Und das ist genau, worum es hier geht. Nicht dass er eine Frau sein will, sondern, dass er seinen Status dazu benutzt Frauen runterzuziehen. Wie das ein klassischer Cis-Mann ebenso gemacht hätte.

Ela: Historisch betrachtet wurden Frauen immer durch Männer definiert. Wundert man sich da tatsächlich, dass sich Feministinnen (die sogenannte TERF-Fraktion) nun nicht schon wieder von Männern erklären lassen will, was jetzt eigentlich eine Frau ist? TERF ist man ja eigentlich schon, wenn man weiterhin als Feministin davon überzeugt ist, dass Gender ein – nicht nur für Frauen – schädliches Konstrukt von Stereotypen ist, das sie in der Entwicklung einschränkt; mit dessen Hilfe ihre Unterwerfung als natürlich legitimiert wurde und wird.

Stella: Kellermann sagte ja auch, er sei eine Frau, weil er zum Kaffee einen Eierlikör trinkt, hihi. Er mag denken, er hätte es scherzhaft gemeint, aber es lässt auf sein Frauenbild schließen, das im Grunde eine sexistische Karikatur ist. Ein Blick auf sein Twitterprofil bestätigt das: keine 63-jährige Journalistin, und schon gar keine, die es auf einen vergleichbar hohen Posten wie den des WDR-Studioleiters gebracht hat, würde in einer Tour Herzchen- oder Flamencotänzerinnenemojis und kesse Selfievideomontagen posten.

In einem Artikel für die ZEIT schreibt er: „Ich bin eine Frau, weil ich es schon immer war. Ich kann das auch nicht anders erklären. […] Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau. Das ist keine Frage äußerlicher Geschlechtsmerkmale. Da bin ich mir ganz sicher.“ Was bleibt also übrig von der Kategorie „Frau“, wenn man die Definition nicht anhand „äußerlicher Geschlechtsmerkmale“ festmacht? Klischees: die Vorstellung von einem Ladybrain, das auf Schminkischminki, Eierlikör und Stöckelschuhe steht – das sind die „inneren Geschlechtsmerkmale“, auf die er hinauswill. In Publikationen wie der ZEIT kann man das allerdings nur mehr implizieren, deswegen bleibt er beim beliebten Zirkelschluss „Frau ist, wer sich als Frau fühlt“. Umgekehrt heißt das dann, dass Frauen und Mädchen, die sich nicht mit stereotyper Femininität identifizieren wollen oder können, keine „echten“ Frauen sind (daher kommt meiner Meinung nach auch der plötzliche Anstieg an jungen Frauen, die sich als nicht-binär oder trans bezeichnen). Diese Denkweise steht Feminismus und Frauensolidarität diametral entgegen. Deswegen finde ich es mehr als bedenklich, dass besagter ZEIT-Artikel laut Kellermann in ein Schulbuch für Philosophie aufgenommen werden soll.

Stefan: Ich versuche gerade angestrengt nachzudenken, was Philosophie in dem Zusammenhang bedeuten könnte? Um welche Disziplin geht es da? Wenn ich Schulbuch höre, dann denk ich an Ethik. Aber Kellermann denkt doch sicher auch an die Anthropologie. Dort steht ja, neben der Abstammung und dem Wesen des Menschen, auch seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung unter Beobachtung. Der Mensch sollte als Subjekt untersucht werden. Und in der Hand der einschlägigen Philosophen ist dieses Subjekt gleich zu etwas Unangenehmem geworden.

Bei Althusser findet sich in seinen „Notizen zur Ideologie“ der Gedanke, dass die Ideologie die Individuen als Subjekte „anruft“. Er meint wir nehmen uns selbst als Subjekte nur wahr, weil wir „in den praktischen Ritualen des allereinfachsten Alltagslebens funktionieren“. Also beim Händedruck, bei der Nennung unseres Namens usw. Ein faszinierender Satz, wenn man ihn ernst nimmt. Es klingt als könnten sich alle durch Sprache definieren. Aber zugleich ist diese Anrufung auch ein Ritual. Diese Formulierung: „Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau.“, ist ja eine Anrufung. Also im Grunde ein magischer Satz, der eine Wirklichkeit erzeugen oder bestätigen soll, die eben nicht wirklich ist. Und darin kommt das ganze Tragische dieser Situation zum Ausdruck. Weil hier nicht unterschieden wird zwischen dem Anspruch alles durch Sprache erzeugen zu können, und der Möglichkeit Wirklichkeit durch Sprache zu erschaffen. Nicht die Wirklichkeit soll verändert werden, sondern die Sprache darüber.

Stella: Der mantraartig wiederholte Satz „Trans women are women“ funktioniert genauso. Es ist ein Glaubenssatz. Einerseits sollen damit Tatsachen geschaffen werden, die nicht diskutiert werden dürfen, andererseits sehe ich hier auch eine Art „Credo quia absurdum“, etwas, das man als Transaktivist, als guter Ally, als guter Mensch schlechthin glauben muss, auch wenn es offensichtlich der Realität, der eigenen Wahrnehmung widerspricht. Gewissermaßen eine Ermahnung, an sich selbst und die anderen in der Gemeinschaft der Guten: Don’t believe your lying eyes. Seht her, ich bin so tolerant, so un-transphob, so sophisticated, so gut, ich glaube etwas, das für den gemeinen Pöbel, der das alles nicht ist, augenscheinlich falsch ist.

Das Perfide an dem Satz ist außerdem, dass er für Menschen, die nett und höflich sein wollen, und sich nicht näher mit der Thematik auseinandergesetzt haben, als Falle fungiert. Wenn man glaubt, es geht hier nur um eine winzige, diskriminierte, harmlose Minderheit, die mit Geschlechtsdysphorie zu kämpfen hat und deshalb einfach ~Anerkennung~ und eine medizinische Behandlung haben möchte, fällt es leicht, diesen Satz als nicht wörtlich gemeinte Höflichkeitsfloskel zu wiederholen. Wer möchte schon jemanden, der darunter leidet, als „das falsche Geschlecht“ geboren worden zu sein, deswegen möglicherweise schon schwere Operationen und viele mühsame Amtswege hinter sich gebracht hat, mit (vermeintlicher) Pedanterie à la „Du bist aber keine richtige Frau!“ verletzen oder vor den Kopf stoßen? Niemand, es sei denn, man legt es darauf an, als unsensibles Arschloch aufzutreten. Sobald einem dann auffällt, dass Transrechtsaktivisten diese Floskel zu 100% wortwörtlich verstanden sehen wollen, in allen Lebensbereichen, also auch bei aus guten Gründen geschlechtergetrennten Schutzräumen wie Umkleiden und Frauenhäusern oder im Sport, und dass mit „trans Frauen“ auch solche gemeint sind, die sich keinerlei medizinischer oder kosmetischer Transition unterzogen haben (da Geschlechtsdysphorie für das Label „trans“ nicht mehr als Grundvoraussetzung gilt), sie sich von „cis“ Männern also nur durch eine subjektive Selbstidentifikation als Frau unterscheiden, ist es zu spät, um zurück zu rudern. Man hat zudem etwa an dem Backlash gegen J.K. Rowling gesehen, was einem bei Widerspruch droht, und möchte sich dem nicht aussetzen.

Ela: Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie hat vor Jahren schon einmal mit der ihr wenig kontrovers erscheinenden Aussage einen Shitstorm ausgelöst, für sie seien Transfrauen Transfrauen und man solle nicht so tun als erlebten Frauen dieselben Probleme wie Transfrauen, da diese oftmals eine Sozialisierung als Mann erfahren hätten.

Den Begriff Transsexualität hat man ja inzwischen durch den Unsinnsbegriff Transgender ersetzt, unter dem sich inzwischen so ziemlich alle versammeln können, denen danach ist. Gender-Bender, Crossdresser, Transvestiten, Transsexuelle und auch Autogynephile. Und als Feigenblatt streut man eine Prise Intersex drüber und hofft, dass niemand bemerkt, dass man die genitale Verstümmelung von 0,001 % der Weltbevölkerung („assigned at birth“) dazu nutzt, allen anderen unter diesem Schirmbegriff zusammengewürfelten Gruppen, ob verdient oder nicht, zu mehr Legitimität zu verhelfen, selbst wenn dies auf Kosten von Frauen geschieht.

Stella: Es gibt zum „Transgender Umbrella“ auch dutzende schöne Grafiken, die illustrieren, dass quasi jeder trans ist, der als Frau keine personifizierte Barbiepuppe oder als Mann keine GI-Joe Actionfigur ist. Der Wunsch, möglichst inklusiv sein zu wollen, führt zu einer Begriffsaufweichung, niemand weiß mehr genau, wovon bei „trans(gender)“ oder „gender“ generell überhaupt die Rede ist, Debatten werden durch die schwammigen Begriffe verunmöglicht und sie heißen je nach argumentativem Bedarf etwas anderes. Gleichzeitig schaffen sich Transrechtsaktivisten so einen viel größeren Zuständigkeitsbereich, indem sie die Identifikation mit dem Begriff erleichtern – denn wer will schon so eine fade, konformistische „cis“ Person sein – , inkludieren Menschen, die nicht inkludiert werden wollen, erklären retrospektiv historische Persönlichkeiten (hauptsächlich gegen gesellschaftliche Restriktionen rebellierende Frauen, wie etwa Jeanne d’Arc oder Frauen, die sich als Mann ausgeben mussten, um arbeiten oder selbstbestimmt leben zu können) zu Transmenschen, und können so sagen, Transmenschen habe es immer schon gegeben.

Ela: Lustigerweise hab ich kürzlich erst auf Facebook das Posting eines Bildes von Salvador Dalí gesehen, in dem er sich selbst als Mädchen gemalt hat, da er sich im Alter von sechs Jahren für ein Mädchen hielt, was einen Kommentierenden dazu inspiriert hat, sich zu fragen ob Salvador Dalí transgender war.

Stefan: Dalí ist faszinierend. Ein Verwandlungskünstler, der Uneindeutigkeiten geliebt hat. So sehr, dass er sie zum zentralen Erkenntnismittel erhoben hat. Mit seiner paranoisch-kritischen Methode fordert er Wahnbilder als Wirklichkeitsbilder zu betrachten. Im Text „Der Eselskadaver“ schreibt er, dass der Paranoiker über „unfaßbaren Scharfsinn“ verfügt und mit seiner Methode „zum Ruin der Wirklichkeit“ beitragen kann, um begleitet von surrealistischer Aktivität „zu den klaren Quellen der Onanie, des Exhibitionismus, des Verbrechens und der Liebe“ zurückzuführen. Ein Wahn-Projekt, in dem diese letzte Aufzählung im Zusammenhang mit der Möglichkeit von sexueller Gewalt einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlässt. Von Sigmund Freud war er bei ihrem Treffen in London jedenfalls enttäuscht. Vielleicht war er ihm nicht paranoisch genug.

Michel „IchbinkeinStrukturalist“ Foucault hat ja auch in seinem Urteil über Freud geschwankt. Freud ist für ihn, je nach Schaffensphase, der Schöpfer einer kritischen Gegenwissenschaft (Wahnsinn und Gesellschaft) oder im Spätwerk Diktator einer Disziplinarwissenschaft. Aber Foucault teilt mit Dalí die Liebe für das Uneindeutige, bis hinein in seine Methode. Und einige seiner gesellschaftstheoretischen Denkmodelle sind eindeutig paranoisch, wie z.B. der Panoptismus.

Foucault hat von dem Strukturalisten Claude Lévi-Strauss so viel gelernt, dass er eine ganze in sich widersprüchliche Methodenlehre entwickelt hat, in der sich die Systematik der Analyse des „wilden Denkens“, die Lévi-Strauss begonnen hat, wiederfindet. Das magische Denken, so Lèvi-Strauss „bildet ein genau artikuliertes System“, das zwar nicht die gleichen Ergebnisse wie das Wissenschaftssystem erbringt, aber ihm „bezüglich der Art der geistigen Prozesse“ gleicht, die sie jeweils voraussetzen. Magisches Denken erscheint als „Ausdrucksform eines Glaubens an eine zukünftige Wissenschaft“.

Die Erforschung von Dispositiven entstammt einem ähnlich magischen Denken. Nur, dass es sich hierbei um den Glauben an die Macht der Schrift über die Natur handelt. In dem Buch von Foucault über Hermaphrodismus befindet sich im Nachwort eine selten klare Darstellung von dieser Gedankenwelt. Hier wird im Grunde die Auffassung vertreten, dass die juristische moralische psychologische Sprache die Sexualität der Moderne erschaffen hat. Sie erzeuge einen Diskurs, der in „endlosen Oszillationen zwischen biologischen und kulturellen Determinanten den Ort und die Ontologie der Geschlechter vorantreibt“. Der moderne Körper ist „konstruiert“. Das bemerkenswerte an diesem magischen Glauben ist aber das Frankenstein-Grundelement. Denn so fährt der Verfasser fort: Der Körper der modernen Menschen wächst um das „Implantat seines Geschlechts“ herum. Das Geschlecht ist also nicht nur diskursiv konstruiert und durch Sprachmagie wirklichkeitsmächtig gemacht, sondern auch implantiert und somit nicht biologisch gewachsen, sondern von vornherein künstlich erzeugt und damit natürlich auch im Nachhinein beliebig amputierbar.

Ela: Judith Butler hat sich beim „Unbehagen der Geschlechter“ ja eh auf Foucault berufen. Wenn die Subjekte durch die Macht erst konstituiert werden, ist das feministische Subjekt – die Frau – auch durch das politische System – das auf Geschlechterbinarität aufbaut – diskursiv geschaffen. Sowohl Sex, wie auch Gender seien kulturell konstruiert, in den Begriff Sex sei bereits der politische Zweck hinter der Kategorisierung und Differenzierung, die Reproduktion, eingeschrieben, denn das System basiere auf Zwangsheterosexualität. Geschlecht (sowohl Sex als auch Gender) sei ein endloser performativer Prozess. Dem biologischen Geschlecht seien die Geschlechterrollen eingeschrieben und würden unablässig reproduziert und imitiert.

Butler schlägt vor, sich aus feministischer Perspektive darüber Gedanken zu machen, warum es überhaupt eines feministischen Subjektes – Frau – bedürfe, ob man sich nicht einfach gleich mit Geschlechtsidentität an sich und deren Repräsentation befassen sollte – da der Feminismus von einem Fundamentalismus geprägt sei, der die Subjekte einschränke, die er eigentlich befreien wolle – oder – in letztes Konsequenz – das feministische Subjekt einfach fallen lassen, und sich von jeder Einschränkung befreien.

Aber ist ein Feminismus ohne Frauen als politisches Subjekt, der situationselastisch heute diese, morgen jene Identität vertritt, ein Feminismus der Individuen, überhaupt ein Feminismus? Hat er Potenzial politische Veränderung zu erzielen? Und warum ist Butler der Meinung, dass man dieses Ziel nur unter Aneignung des Feminismusbegriffs erreichen kann? Und ist es Zufall, dass so ein Vorschlag gerade beim Feminismus gemacht wird, und beispielsweise nicht bei anderen Befreiungsbewegungen? Daraus ist meiner Meinung nach dann auch der Irrtum entstanden, dem der Liberale Feminismus aufsitzt, dass man nämlich jede unterdrückte Identität vertreten muss, wenn man eine richtige Feministin sein will.

Butler und andere Aktivisten zitieren dann auch gern Beauvoirs „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu (gemacht)“, und manche meinen darin bestätigt zu sehen, Beauvoir habe behauptet, dass eine Frau sei, was auch immer eine Frau sagt, dass sie ist. Self-Identification. So behauptet Butler, dass in Beauvoirs Formulierung von einem „Handlungsträger“ ausgegangen wird, der sich eine „Geschlechtsidentität“ aneignet und prinzipiell „auch eine andere Geschlechtsidentität annehmen könnte“. Doch Beauvoir befasst sich schon im ersten Kapitel von „Das andere Geschlecht“, „Schicksal“ mit der weiblichen Biologie:

„Die biologischen Gegebenheiten sind außerordentlich wichtig: sie spielen in der Geschichte der Frau eine herausragende Rolle und sind ein wesentliches Element ihrer Situation (…) Denn da der Körper das Instrument für unseren Zugriff auf die Welt ist, stellt sich diese, je nachdem, ob sie auf die eine oder auf die andere Weise erfaßt wird, ganz anders dar. (…) Was wir aber ablehnen, ist die Vorstellung, daß sie für die Frau ein festgelegtes Schicksal bedeuten. Sie reichen nicht aus, eine Hierarchie der Geschlechter zu bestimmen; sie erklären nicht, weshalb die Frau das Andere ist, und sie verurteilen sie nicht dazu, diese untergeordnete Rolle für immer beizubehalten.“

Für Beauvoir „entsteht“ Weiblichkeit im Zusammenspiel von biologischen und kulturellen Faktoren, die für die „weibliche Erfahrung“ konstitutiv sind. Der Entstehung der Ideen und Mythen rund um die Weiblichkeit geht aber die Existenz eines weiblichen Körpers voraus.

Andererseits haben wir ja dann auch auf der anderen Seite Feministinnen die dem „Transfrauen sind Frauen“ nichts als „Eine Frau ist ein erwachsener weiblicher Mensch“ entgegenzusetzen haben. Was ja dann auch nicht mehr als eine Phrase ist. Ich meine, dass die beiden Positionen schon alleine deswegen keine gemeinsame Basis finden können, weil sie aus zwei komplett unterschiedlichen Annahmen hervorgehen und aneinander vorbeiargumentieren.

Die eine Seite geht davon aus, dass die Geschlechtsidentität inhärent ist. Ein Mensch weiß demnach instinktiv welchem Geschlecht er sich zugehörig fühlt, mit welchem sozialen Geschlecht er sich identifiziert. Wie ein Mann weiß, dass er ein Mann ist, und eine Frau weiß, dass sie eine Frau ist, kann es der Annahme nach manchmal passieren, dass das Selbstkonzept eines biologischen Mannes abweicht und er sich den Frauen zugehörig fühlt. Er „weiß“ es sozusagen. Nur was genau dieses Gefühl ausmacht, ist oft ein diffuses Schweigen, unterspickt mit grellen Klischees.

Auf der anderen Seite hat man eben verstanden, dass es die Biologie ist und die Annahme, dass aus dieser Biologie heraus sich quasi „natürliche“ zugehörige Rollenkonzepte ergeben – das Konstrukt Gender – die den Frauen jahrhundertelang in einer unheiligen Liaison des Todes ihr Leben zur Hölle gemacht haben, ihnen Möglichkeiten verwehrt, ihr Leben in die Hand zu nehmen, und ökonomische und soziale Nachteile nach sich zogen. Und all das soll nun nebensächlich sein und einer willkürlichen Selbstdefinition Platz machen, basierend auf dem vermeintlichen innerlichen Gefühl einer Gruppe von vorwiegend MtF—Transitionern. Eine Frau wird aber nicht dadurch weniger Frau, dass sie gerne „Stirb langsam“ schaut, denn das macht sie nicht immun gegen sexistische Kommentare und sexuelle Übergriffe.

Stella: Ich denke, dass der Satz „Eine Frau ist ein erwachsener weiblicher Mensch“ (die Übersetzung der Definition „Woman: adult human female“) eher eine Erwiderung auf den unsinnigen Zirkelschluss „Frau ist, wer sich als Frau definiert“ ist, und als solche legitim ist, wobei diese Definition natürlich nur der Ausgangspunkt ist, von dem aus weitere Auseinandersetzungen möglich sind, und nicht zu einer hohlen für sich selbst stehenden Phrase wie „Trans women are women“ verkommen sollte.

Ela: Ja du hast Recht, als Erwiderung ist es sinnvoll.

Stefan: Mir kommt vor, die Debatte, die von manchen Transaktivisten geführt wird, klammert bewusst das Problem der Gewalt aus. Also viele Aspekte der Kritik am Feminismus die durch Transaktivisten vorgenommen wird, kann nur unter Absehung der wirklichen Verhältnisse passieren. Dass man einfach nicht erwähnt, dass Frauen überproportional oft Gewalt von Männern ausgesetzt sind, während es umgekehrt eine verschwindend geringe Anzahl an Männern gibt, die unter Gewalt von Frauen leiden müssen. Das verbindet diese Positionen übrigens mit denen von so genannten Männerrechtlern. Die sich ja auch weniger für die Rechte von Männern, als gegen die Rechte von Frauen einsetzen.

Ela: Da muss man ein bisschen ausholen.


Die Fortsetzung dieses Textes findet sich in unserem nächsten Buch „Gespräche gegen die Wirklichkeit“.