Dreidimensionales Schach mit Taube

Heute kam es im Gazastreifen zu einem vorübergehenden Waffenstillstand zwischen den israelischen Streitkräften und der Hamas. Die Vereinbarung sieht eine mindestens viertägige Unterbrechung der Kampfhandlungen vor. In der Zeit sollen mindestens 50 Frauen und Kinder der ca. 240 Geiseln, die am 7. Oktober entführt wurden, gegen 150 palästinensische weibliche und minderjährige Häftlinge ausgetauscht werden, die in israelischen Gefängnissen sitzen.

Doch nicht, dass man in der Waffenstillstand-Antizionismus-Fraktion nun kurzfristig zufrieden wäre. Nein, auch hier gibt es einiges zu bemängeln, z. B. die Anzahl der auszutauschenden Gefangenen. Doch man wird überrascht sein, sie sind nicht etwa zu wenige, sie sind zu viele! Die Anzahl der freizulassenden Gefangenen übersteigt jene der Geiseln.

In seiner Absurdität zur Spitze getrieben hat das Disproportionalitätsargument damit das Interview von Kay Burley auf Sky News mit dem israelischen Regierungssprecher Eylon Levy. Sie konfrontierte ihn mit der, in ihrem Kopf bestimmt überaus spitzfindigen, Einschätzung eines Geisel-Unterhändlers, der einen zahlenmäßigen Vergleich zwischen den 50 israelischen Geiseln und den von Hamas ausgehandelten 150 in israelischen Gefängnissen eingesperrten Palästinensern anstellte, was ihn zu der Frage brachte, ob Israel palästinensische Leben weniger schätze als israelische Leben. Eylon Levy entgleiste zunächst die Mimik merklich, ehe er Burley wissen ließ, „(…) wenn wir einen Gefangenen für jede Geisel befreien könnten, würden wir das offensichtlich machen. (…) Es ist nicht unsere Entscheidung diese Gefangenen, die Blut an ihren Händen haben, freizulassen (…) Fällt Ihnen auf, die Frage der Proportionalität interessiert Unterstützer der Palästinenser nicht, wenn sie dafür mehr ihrer Gefangenen freibekommen, aber es ist eine Frechheit zu suggerieren, dass die Tatsache, dass wir bereit sind Gefangene freizulassen, die für terroristische Straftaten verurteilt wurden, und zwar mehr als wir dafür von unseren eigenen unschuldigen Kindern zurückbekommen, irgendwie darauf hinweist, dass uns palästinensische Leben egal sind (…).“

Als wäre in letzter Instanz nicht der Geiselnehmer für die Festlegung der Zahl der freizulassenden Geiseln verantwortlich, die sich in seiner Gewalt befinden, vor allem nachdem dieser bereits mehrfach demonstriert hat, welchen (geringen) Wert deren Leben für ihn hat. Der Logik Burleys und ihres ominösen Unterhändlers zufolge wäre anzunehmen, dass die Freilassung aller Geiseln im Austausch für keinen einzigen palästinensischen Gefangenen wohl die Spitze der Wertschätzung für palästinensisches Leben dargestellt hätte.

Solcherlei Absurdität, die sich daraus ergibt, wenn das Gehirn damit kämpft die Realität an das bereits vorgefertigte Bild des Anderen anzupassen, von dem man nur das Allerschlimmste anzunehmen bereit ist, erinnert an die Behauptung der amerikanischen Queer-Theory Professorin an der Rutgers Universität New Jersey, Jasbir Puar, die in ihrem Buch „The Right to Maim“ behauptet hatte: „Die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) haben über Jahrzehnte hinweg nachweislich Leben verschont und eher auf Verstümmelung als auf Tötung hinaus geschossen.“ Die Tatsache, dass es nur wenige Vergewaltigungen palästinensischer Frauen durch die IDF gebe, weise zudem darauf hin, dass Israelis Palästinenserinnen so sehr dehumanisierten, dass sie sie nicht einmal mehr vergewaltigen würden. Es zeige sich, „dass das Fehlen von militärischen Vergewaltigungen lediglich die ethnischen Grenzen verstärkt und die Unterschiede zwischen den Ethnien verdeutlicht – genau wie es organisierte militärische Vergewaltigungen getan hätten.“* Jasbir Puar, die auch Anhängerin der These ist, dass Israel einen Genozid an Palästinensern begeht, wirft Israel einen Genozid mit gezielter Nicht-Tötung von Zivilisten zu Verstümmelungszwecken vor, andere Aktivistinnen werfen wiederum gezielte Nicht-Gruppenvergewaltigung von Zivilistinnen durch das Militär vor, welche aber dieselben Auswirkungen habe, wie Gruppenvergewaltigungen. Puar hatte ebenso an anderer Stelle behauptet Israel entnehme Palästinenserinnen Organe – eine moderne Version der Ritualmordlegende.  

*Ergänzung: Diese Behauptung stammt nicht von Jasbir Puar, sondern von der Soziologin Tal Nitzan.