Stefan: Am 7. Oktober 2023 hat die Hamas einen grausamen Terrorangriff auf Israel verübt. Im Anschluss daran ist es an deutschen Universitäten zu Pro-Hamas Kundgebungen gekommen. Die Teilnehmer_innen empfanden den generalstabmäßig geplanten Überfall auf wehrlose Menschen unter Beteiligung völlig enthemmter Zivilisten als eine legitime Form des Protestes gegen israelische Politik. Darüber hinaus scheint es so, dass viele der Pro-Hamas-Aktivist_innen in Europa lebende Juden als legitime Ziele ihres Hasses sehen; sie in Form von Sippenhaft für die Ereignisse im Nahen Osten verantwortlich machen. Es kam zu unzähligen Übergriffen. Der jüdische Student Lahav Shapira wurde ins Krankenhaus geprügelt. Eine Woche nach dem Angriff auf Shapira warfen Aktivisten dem Präsidenten der FU Berlin vor, seine „nichtarischen“ Studierenden nicht zu beschützen. Gemeint waren damit aber nicht die angegriffenen jüdischen Student_innen. Warum fällt dieser Wahn gerade auf den Unis auf so fruchtbaren Boden?
Ela: Ich habe das Gefühl, dass die Dead Kennedys 1980 mit „Holiday in Cambodia“ schon alles gesagt haben, was diese Fetischisierung von totalitären Regimen und Ideologien durch sogenannte linke „Intellektuelle“ und Student_innen anbelangt. Im Fall des Krieges in Gaza kommt dann halt noch erschwerend hinzu, dass es sich bei einer der Parteien in dem Konflikt um Israel handelt und die westliche Linke ja bereits in den 1960ern ihre Liebe zu „Freiheitskämpfern“ wie Leila Khaled entdeckt hat. Das hat inzwischen schon eine Tradition sozusagen, genauso wie Antisemitismus eine Tradition hat. Nur dass man heute halt so tut, als habe das nichts mit Antisemitismus zu tun, schließlich greife man ja „nur“ Zionisten an. Und das sei ja legitim. Nur war bekanntlich schon in der UdSSR der Schmäh beliebt, Juden ihren angeblichen Zionismus zum Vorwurf zu machen und sie der Verschwörung zu bezichtigen, um sich den eigenen Antisemitismus nicht eingestehen zu müssen.
Alex: Es ist eines der größten – interessierten – Missverständnisse, dass Antisemitismus etwas mit Bildung zu tun habe, genauer: dass Bildung vor Antisemitismus „schütze“ bzw. der Antisemitismus mit dem Grad der Bildung abnehme. Sieht man sich die Geschichte des modernen Judenhasses an, könnte man fast das Gegenteil annehmen. Der Antisemitismus war immer sehr stark an den Universitäten und in den akademischen Eliten, im – nicht nur – burschenschaftlich-studentischen Milieu verbreitet. Man denke nur an den Berliner Antisemitismusstreit von 1879 bis 1881 oder die antisemitischen Auseinandersetzungen an den Universitäten in den 1920er-Jahren. Der Antisemitismus versteht sich selbst als Gesellschafts- und Systemkritik; und Intellektuelle, die quasi ihrer Profession wegen damit beschäftigt sind, sich auf Sinnsuche in einer von Herrschaft charakterisierten Gesellschaft zu begeben, fühlen sich offensichtlich von der unangepasst und rebellisch auftretenden Dimension der antisemitischen Welterklärung angesprochen – die allerdings, eine konformistische, eine autoritäre Rebellion ist.
Dass der Antisemitismus heute an den Universitäten wieder so ein Comeback erlebt, und das besonders in den sich selbst als progressiv verstehenden Disziplinen und unter den sich als im weitesten Sinne links und kritisch verstehenden Studenten, hat auch etwas mit der Transformation des Judenhasses nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus und der militärischen Beendigung seines Vernichtungsprojekts zu tun. Einer der ersten, die das prägnant beschrieben haben, war Jean Améry mit seiner Rede vom „ehrbaren Antisemitismus“. Einerseits ist das nichts Neues, denn der Antisemitismus hat immer schon Wandlungen erfahren; andererseits ist das Neue, dass der Antisemitismus im Namen der Menschenrechte, des Antinationalismus, Antikolonialismus und anderer progressiver Bewegungen auftritt. So gilt als eine der Lehren aus dem Nationalsozialismus zum Beispiel, dass der Nationalismus überholt sei, zu Gewalt und Leid führe und deswegen überwunden werden müsse. Und im Namen dieses Anti- oder besser Post-Nationalismus wird den Juden, die heute in der Chiffre der „Zionisten“ angegriffen werden, dann vorgeworfen, sie hätten diese Lehre aus dem Nationalsozialismus nicht gezogen. Vielmehr hätten sie just zu dem Zeitpunkt, an dem die Welt das Übel des Nationalismus zu spüren bekommen, es darauffolgend erkannt und auf seine Überwindung gesetzt hätte, den Nationalismus für sich entdeckt. Das ist einer der Hauptvorwürfe gegen Israel heute: dass es atavistisch und anachronistisch sei, quasi das Überbleibsel wie paradigmatische Beispiel einer auf Nationalismus, Suprematismus und (Siedler-) Kolonialismus setzenden Welt; dass es statt der allgemeinen und universellen Menschenrechte auf partikulare (Staatsbürger-)Rechte setze und schon deswegen rassistisch sei.
Wenn man sich ein wenig in der Geschichte des Antisemitismus auskennt, erkennt man, dass auch diese Figur nicht neu ist. Schon zu Zeiten der europäischen Aufklärung wurde den Juden von Aufklärern vorgeworfen, „verstockt“ zu sein und an ihrem alten religiösen, jüdischen und damit partikularen Gesetz zu hängen, statt sich den universalen Forderungen der Vernunft und des Fortschritts anzuschließen. Eine ganz ähnliche Figur lässt sich heute beobachten: Da wird den Juden, die Israel nicht ablehnen, vorgehalten, „verstockt“ am Prinzip des Nationalstaats festzuhalten und sich partikularen Schutz und Sicherheit von ihm zu erwarten, anstatt sich den postnationalen Vorstellungen und Versprechungen eines universalen Weltbürgerrechts oder ähnlichem anzuschließen. Dieser „Wahn vom Weltsouverän“, wie Gerhard Scheit das so treffend genannt hat, ist allerdings bloße Ideologie: eine regressive Wunschvorstellung, die dem Kapitalverhältnis entspringt. Einerseits stellt sie eine ideologische Verdopplung des Weltmarkts im Politischen dar, die andererseits zugleich den imaginierten Weltsouverän an die Stelle des von Vermittlungen geprägten realen Weltmarktes setzen möchte. Da dies aber nicht möglich ist und es keinen Einheit stiftenden Weltsouverän in der immer schon herrschaftlich in sich gespaltenen Gesellschaft des Kapitals geben kann, deswegen kann die ersehnte Einheit nur negativ hergestellt werden: indem ein Störenfried ausgemacht wird, der der schönen neuen Weltordnung im Wege stehen soll. Die Fahndung nach diesem Störenfried, nach dem bösen Souverän nationaler Macht, der den guten Souverän des (Völker-)Rechts unterminiere, das ist es, was sich im Hass auf Israel und in den Projektionen, mit denen dieser Hass bebildert wird, Ausdruck verleiht.
Stefan: Gerhard Scheits wunderbare Studie über die „Dramaturgie des Antisemitismus“ behandelt das Bedürfnis der Antisemiten den Hass auf Juden ‚spielbar‘ zu machen, wie er schreibt. Dieses „obsessive Bedürfnis, jene, die man verfolgt, vertreibt und ermordet, gleichzeitig mit verteilten Rollen zu spielen“. Es geht um die Inszenierung eines „erfundenen Judentums“, das sich möglichst gut für die Projektion des eigenen Sündenbockbedürfnisses eignet. Haben wir es bei diesen Protestinszenierungen an den Unis nicht auch ein wenig mit solchen Motiven zu tun?
Alex: Ganz definitiv. Ich habe hier etwa Bilder antiisraelischer Studentenproteste vor Augen, ich weiß leider gerade nicht wo genau diese stattgefunden haben, auf jeden Fall aber nach dem 7. Oktober, auf denen zu sehen ist, wie eine als israelische Soldatin verkleidete Aktivistin, auf als Palästinenser kostümierte Aktivisten zugeht, diese nur berührt oder mit einer Art Pulver oder Puder besprüht, und sie sinken theatralisch „tot“ zu Boden: Es ist das alte Bild des jüdischen Giftmischers oder Brunnenvergifters, das hier aktualisiert auf die israelischen Streitkräfte projiziert wird. Wie oben schon kurz angesprochen: Der Hass muss und will bebildert werden, das abstrakte Gefühl allein scheint nicht auszureichen, weil es noch nicht unmittelbar genug ist. Daraus speist sich der Konkretionswahn des Antisemitismus, der Vermittlung und – psychoanalytisch gesprochen – Symbolisierung nicht kennen möchte: Das Gefühl und das Bild muss unmittelbar mit der Person verschmolzen werden, damit – in einem nächsten Schritt – zusammen mit der Person auch das Bild und das Gefühl aus der Welt geschafft, vernichtet werden kann. Till Gathmann hat in der demnächst erscheinenden Ausgabe der sans phrase einen sehr instruktiven Artikel über diese Funktion des Bildes für den Antisemitismus – auch nach dem 7. Oktober – geschrieben.
Ela: Man könnte den Antisemitismus als eines der ältesten Memes der Menschheitsgeschichte bezeichnen. Er ist so sehr in die Menschen und die Geschichten, die sie sich von der Welt erzählen, eingeschrieben, dass die Aktualisierung und Projektion auf die gegenwertigen Umstände ganz einfach „passiert“. Es ist ein manichäisches Weltbild, das sich da offenbart, und das wird momentan gerade von den Leuten zur Schau gestellt, die sonst immer die Meinung vertreten, man müsse alles „differenziert betrachten“. Und dann greifen sie eben gerne auf die altbekannten (Feind-) Bilder zurück, die sich über die Jahrhunderte schon bewährt haben, das hat dann fast etwas Beruhigendes, etwas Heimeliges. Wie Gerhard Scheit sagt, das Unheimliche am abstrakt gewordenen, sich selbst vermehrenden Reichtum wird auf das Objekt – die Juden – projiziert. Man schafft es also, das eigene Unbehagen mit der kapitalistischen Realität auszulagern, indem man ihm ein Gesicht verleiht, es zum konkreten, personifizierten Feindbild aufbaut, das man fortan, so glaubt man, vollkommen gerechtfertigt bekämpft, während man in Wahrheit nur seinen inneren Kampf, seine inneren verdrängten Wünsche, auf einen Feind im Außen projiziert. Das hat fast etwas Magisches.
Die wenig überzeugend nachgeschobenen Bekenntnisse durch Aktivist_innen, dass Antisemitismus natürlich überhaupt nicht gut sei und dass man das – neben XYZ – natürlich auch klar ablehne und bekämpfe, kann man ganz gut mit einem Satz von Adorno/Horkheimer zusammenfassen: „Wenn der Bürger schon zugibt, daß der Antisemit im Unrecht ist, so will er wenigstens, daß auch das Opfer schuldig sei.“ (Dialektik der Aufklärung, 203)
Die Personifizierung der Juden mit dem Geld, mit dem Zins, wird auch immer wieder von sogenannten Antizionisten aufgewärmt. 2019 hat z. B. die demokratische Kongressabgeordnete Ilhan Omar angedeutet, dass eine pro-israelische Lobbygruppe sich politischen Support erkaufe. Erst vor kurzem kam es zur Veröffentlichung mehrerer alarmistischer Videos von Influencern in den sozialen Medien, angesichts des Angriffs Israels auf die Pager von Hisbollah-Mitgliedern im Libanon, bei dem die Geräte explodierten und Menschen töteten, bzw. verletzten.
In einem der Videos behauptet eine junge Frau, Israel habe Zugriff auf die „Geräte von Zivilisten“, es sei schlimmer als jede Episode von Black Mirror: „Dieses Land ist so stark finanziert, dass es die (…) fortschrittlichste Kriegsführung der Welt hat (…), dass es in der Lage ist Menschen gezielt mit ihren Geräten anzugreifen, dass es in der Lage ist deren eigenen Geräte als Waffen gegen sie zu verwenden (…) wir hätten Israel nie unterstützen dürfen, das sind Terroristen mit viel Geld“ – dass Regime wie der Iran viel Geld aufwenden um Hamas oder Hisbollah zu finanzieren, spielt keine Rolle, da die Geldgeber keine Juden sind.
Hier kommt dann natürlich auch wieder die gute alte Legende von der jüdischen Barbarei und Grausamkeit zur Anwendung: Israel verwende Captcha (Completely Automated Public Turing Test to Tell Computers and Humans Apart), also jene Technologie, die von Computern verwendet wird, um Menschen und Computer auseinanderzuhalten, um gezielt Zivilisten anzugreifen. Das erinnert an die Memes über „jüdische Space Laser“: Die amerikanische Kongressabgeordnete Marjorie Taylor Greene hatte 2018 in den sozialen Medien die Vermutung aufgestellt, die Waldbrände in Kalifornien seien durch „jüdische Weltall-Laser“ ausgelöst worden. Auch Behauptungen im Zusammenhang mit Technologie und dem Einsatz von Tieren durch das israelische Militär sind immer wieder im Umlauf. Sämtliche Vogelarten in und um Israel wurden inzwischen schon bezichtigt, als israelische Spione zu arbeiten. Als 2010 in Ägypten mehrere Haiangriffe verzeichnet wurden, behauptete man israelische Agenten hätten die Haie mithilfe von GPS an die Küste gelockt. Seit ca. 2015 wird die Behauptung verbreitet, das israelische Militär verwende Delphine für Spionagetätigkeiten, und der Iran hat 2007 vierzehn Eichhörnchen festgenommen, denen ebenso Spionage für Israel vorgeworfen wurde.
Auch die seit jeher beliebte antisemitische Ritualmordlegende hüllt sich in moderne Gewänder und feiert mit „Kindermörder Israel“ und der Parole, jede 10 Minuten sterbe in Gaza ein Kind, die die WHO verbreitete – im Zweifelsfalls bitte ich darum, die Rechnung selbst anzustellen –, sowie in der seit 2009 immer wieder verbreiteten Behauptung, die IDF entnähmen Zivilist_innen die Organe, bevor man sie töte, um damit zu handeln.
Stefan: In dem von dir mitgestalteten Sammelband „Gegenaufklärung“ erarbeitet ihr eine Kritik der postmodernen akademischen Philosophie, die „nicht nur eine philosophische Strömung, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Tendenz“ ist. Sie ist „sowohl Reflex der objektiven Unbrauchbarkeit der Welt unter den Verhältnissen spätkapitalistischer Vergesellschaftung als auch der Versuch einer Sinnstiftung ebendieser Verhältnisse“. Im Frühling hat sich ja Judith Butler wieder zum Terroranschlag vom 7. Oktober geäußert.
Alex: Der Poststrukturalismus ist auf eine Art eine ideologische Reaktion auf die Verhältnisse, wie ich es oben beschrieben habe. Auch er geht gegen die Vermittlung an und will in Anschluss an Heidegger, auf den sich fast alle namhaften Poststrukturalisten unmittelbar beziehen, an die Stelle der Vermittlung ein erstes Prinzip – sei es der Mangel, die Differenz, die Kontingenz, die Spaltung oder die Lücke –setzen, das als eine Art treibende Kraft alles aus sich heraus entlässt. Allerdings behaupten auch die Poststrukturalisten aus Heideggers Nationalsozialismus gelernt zu haben, sodass sie erklären, über die Metaphysik positiver Prinzipien hinaus zu sein – ganz ähnlich wie der Postnationalismus behauptet, über den Nationalismus hinaus zu sein und doch nur ein ideologischer Widerschein dessen ist, der die Souveränität einfach auf eine ganz allgemeine und universelle Ebene gehoben sehen will. Dass dieses erste Prinzip „vor-ursprünglich“ oder abwesend sei, ändert eben nicht das Geringste daran, dass es als erstes Prinzip fungiert. Das ist es, was wir in unserem Sammelband an einigen prominenten poststrukturalistischen Denkern zeigen; das ist es, was ich in der sans phrase an der neopaulinischen Wendung hin zu einem abstrakten Universalismus bei Alain Badiou oder auch Achille Mbembe illustriert habe – und das ist es auch, wodurch der Antisemitismus der meisten dieser Denker vermittelt ist.
Ähnlich wie der „Wahn vom Weltsouverän“ lässt sich der – wie man das vielleicht in Anlehnung nennen könnte – „Wahn von der An-Arché“ oder der „Wahn von der Vor-Ursprünglichkeit“ nur regressiv realisieren: indem man sich an all dem schadhaft hält, was an die Widersprüche der eigenen Denkform, die man nicht reflektieren, sondern denen man handstreichartig entkommen möchte, erinnert. Und wenig überraschend landet diese Bewusstseinsform dann letztlich auch beim absoluten Feind: dem jüdischen Staat, der überwunden und dekonstruiert werden müsste, um die schöne neue Welt der Kontingenzen und Differenzen zu verwirklichen. Das treibt nicht nur Judith Butler an, sondern die meisten dieser Denker, wie man an Büchern wie „Deconstructing Zionism“ sehen kann, deren Autorenliste sich wie ein Who-is-Who des aktuellen Poststrukturalismus liest und in dem Israel mit der Metaphysik (der Präsenz) gleichgesetzt wird, die dekonstruiert und überwunden werden müsse, um den herrschaftlichen Verstrickungen der Moderne zu entkommen.
Ela: Judith Butler hat ja in ihrer Rede für BDS 2013 ebendiese Punkte angesprochen (Judith Butler’s Remarks to Brooklyn College on BDS | The Nation), die Israel erfüllen müsste, diese „schöne neue Welt“ zu verwirklichen. Und ein besonderer Dorn im Auge dürfte eben das israelische Rückkehrgesetz sein, das zwar „Juden aus allen Teilen der Welt auf Antrag“ einwandern lässt, „während dieses Recht den Palästinensern verweigert wird, die 1948 oder später durch illegale Siedlungen und neu gezogene Grenzen gewaltsam ihrer Heimat beraubt wurden“. Folglich sieht Butler als weiteren kritischen Punkt die Tatsache, dass jene „die die Staatsbürgerschaft anstreben, sich zu Israel als jüdisch und demokratisch bekennen, wodurch die nichtjüdische Bevölkerung erneut ausgegrenzt und die gesamte Bevölkerung an eine bestimmte und umstrittene, wenn nicht gar widersprüchliche Version der Demokratie gebunden wird“. Wenn man also Israel seines jüdischen Charakters beraubte, wäre es denkbar für Butler Israel anzuerkennen. Zudem stellt sich die Frage, warum gerade die Identität Israels als jüdischer Staat ein solches Problem darstellt, während die demokratische Identität sämtlicher sonstwie religiös begründeter Staaten anzuzweifeln Butler kaum in den Sinn käme.
Warum der jüdische Charakter des israelischen Staates für die Juden weltweit aber von größter Bedeutung sein könnte, hat bereits Jean Améry in seinen Texten über den „neuen Antisemitismus“ herausgearbeitet: Demnach sei Israel jener Staat, der den Juden der Welt zumindest „virtuelles Asyl“ (Der neue Antisemitismus, 91) sei, denn seit es Israel gebe, wissen diese „dass, wenn immer es ihm [Anm.: dem Juden], wo immer, an den Kragen ginge, ein Fleck Erde da ist, der ihn aufnähme, unter allen Umständen. Er weiß, dass er solange Israel besteht, nicht noch einmal unter schweigsamer Zustimmung der ungastlichen Wirtsvölker, günstigenfalls unteren deren unverbindlichem Bedauern, in den Feuerofen gesteckt werden kann.“ (68) Im weiteren Verlauf der Rede wird einem dann aber klar, dass es Butler gar nicht so sehr um eine tatsächlich ernsthafte Auseinandersetzung mit den Positionen der „anderen“ Seite geht, sondern vielmehr um die immergleiche Verbreitung sogenannter „Fakten“, wie zum Beispiel dem von Butler behaupteten Ausschluss von Palästinenser_innen vom Militärdienst in Israel, der dazu führe, dass diese auch vom „Zugang zu Wohnraum und Bildung“ ausgeschlossen seien. Dass in Israel lebende Araber_innen in Israel mitnichten vom Militärdienst ausgeschlossen sind, sondern vielmehr im Gegensatz zu Juden nicht dazu verpflichtet sind, dass diese Nichtverpflichtung auch für alle anderen nichtjüdischen Einwohner_innen Israels, sowie ultraorthodoxe Jüd_innen gilt, denen jedoch ein freiwilliger Dienst in der Armee offensteht, so genau ist Butler nicht, liefe das doch ihrer Botschaft zuwider. Schon allein der Aufmacher der Rede ist ein Witz, denn da freut man sich, dass das Brooklyn College die BDS-Veranstaltung, trotz einer versuchten „Kampagne sie zum Schweigen zu bringen“ ermöglicht habe, und damit das „Prinzip der akademischen Freiheit“ hochhalte, das wohl für israelische Akademiker_innen nicht zu gelten scheint, wenn man sich BDS-Kampagnen ansieht und deren notorische Versuche Israelis von Campussen fernzuhalten.
Stefan: Es scheint so, als hätten die, die sonst wegen nichts ein Unrechtsbewusstsein haben, dann bei den Juden umso mehr ein Unrechtsbedürfnis. Jeffrey Herf hat 2016 ein Buch über „Undeclared Wars with Israel“ geschrieben. Also eine Geschichte des ostdeutschen Regimes und der westdeutschen Linken im Umgang mit Israel in den Jahren von 1967 bis 1989. Darin dokumentiert er unter anderem die unzähligen Waffenlieferungen der STASI und des ostdeutschen Verteidigungsministeriums für die PLO. Eine Antisemitismusinterpretation derer sich Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung annehmen, sieht den Antisemitismus als politisches Ventil: Unterdrückte Schichten erhalten erlaubte Objekte der Aggression. Das passt auf den akademischen Antisemitismus nicht. Sie ergänzen, die antisemitische Reaktionsweise sei eng mit Formen der faschistischen Kollektivbildung verbunden und ohne diese und das Kapitalverhältnis nicht denkbar. Fehlt den akademischen Antisemiten „schlicht“ ein Begriff vom Kapital?
Alex: Ja, aber nicht in dem Sinne, dass man ihnen den nur präsentieren müsste, und dann würden sie schon von ihrem Antisemitismus lassen, weil sie ja irgendwo doch das Richtige wollen: eine Welt ohne Herrschaft. Das ist so ein Moment, das auch im – mittlerweile außer Mode gekommenen – Begriff vom „verkürzten Antikapitalismus“ mitschwingt, dass man den nur um einen Begriff vom Kapital „verlängern“ müsste. Den akademischen Antisemiten geht es gar nicht um Kritik und Abschaffung der Herrschaft. Vielmehr wollen sie sich selbst oder das Prinzip, das sie als Souverän projizieren, an die Stelle des Kapitals und seiner Vermittlungen setzen – und behaupten dann, dieses herrschaftliche Gebaren sei die Abschaffung der Herrschaft. Auch hier besteht wieder eine Parallele zur Aufklärung, in deren politischen Theorien ja auch behauptet wurde, wenn alle herrschten, herrsche niemand und die Herrschaft sei abgeschafft. Dass das offensichtlicher Widersinn ist, wird dadurch gelöst, dass alle negativen Seiten des Souveräns, als der man sich selbst setzen möchte, von diesem Souverän abgespalten und auf den jüdischen Staat projiziert werden, der solcherart zum ultimativ Bösen schlechthin mutiert, von dessen Überwindung das Wohl und Wehe der Menschheit abhänge: „Palestine will set us free“, rufen die Aktivisten, deren Antisemitismus, so gesehen, nicht Ausfluss ihrer Herrschaftskritik, sondern ihres gegen das Bestehende aufbegehrenden Wunsches und Drangs nach unmittelbarer Herrschaft ist. Erneut zeigt sich hier der Charakter der konformistischen oder autoritären Rebellion, von der ich eingangs gesprochen habe.
Stefan: Detlev Claussen hat über die „gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus“ gearbeitet und versucht die Erkenntnisse aus der Dialektik der Aufklärung auf ein neues Fundament zu stellen. Ein Schlüsselsatz für die heutige Situation darin ist: „Die antisemitische Apologie gilt nicht der Gesellschaft, sondern der eigenen Gewalttätigkeit. Exakt trifft dies auf den nach dem 11. September vermehrt von Islamisten propagierten Antisemitismus zu, der keineswegs neu ist. Der Bezug auf Israel und die Juden ist vollkommen willkürlich, um ubiquitär Anschlagsziele und die Maßlosigkeit der eigenen Gewalt zu legitimieren.“
Ela: Ich finde dieser Wille zur Herrschaft zeigt sich auch gut im Versuch von BDS-Aktivist_innen bzw. Free-Palestine-Aktivist_innen, in den sozialen Medien den Diskurs zu dominieren, und Künstler_innen und Medienschaffende online zur Positionierung zu zwingen, indem man diese permanent mit Positionierungswünschen und -drohungen zumüllt. BDS hat ja schon immer – mehr oder weniger erfolgreich – versucht, mit Druck, Drohungen, Belästigung und Zwang die Leute dazu zu bringen, sich zu fügen und seine Message zu verbreiten. Da werden einfach Kommentarspalten unter sämtlichen Videos zugespamt, die nicht einmal annähernd etwas mit Israel oder dem Gazastreifen – teilweise ja noch nicht einmal etwas mit Politik – zu tun haben, bis die Betroffenen sich endlich dazu durchringen, „halt zumindest irgendwas“ zum Konflikt zu sagen. Virtue Signaling ist die harte Währung in diesem Konflikt, das rote Dreieck und die Wassermelone sind ihre Erkennungszeichen. Künstler_innen und Medienschaffende, die sich dem verweigern, die sich nicht dazu zwingen lassen Stellung zu beziehen, die sich nicht davon abhalten lassen in Israel aufzutreten, wird „Genozid-Artwashing“ vorgeworfen bzw. ihnen unterstellt – und das scheint ja derzeit die schlimmste aller Beleidigungen zu sein – „Zionisten“ zu sein.
Stefan: Mit dem Sieg über den nationalsozialistischen Antisemitismus sehen Adorno und Horkheimer das Aufkommen eines völkerrechtlich verbrämten Neo-Antisemitismus. Die Begriffe Ticketmentalität und progressives Ticket kommen in den Fokus. Adorno benutzt die Formulierung, den Neo-Antisemitismus zeichne „psychologischer Totalitarismus“ aus, in dem mit dem Verschwinden des manifesten Antisemitismus zugleich die Hemmungen fallen, die antisemitischen Phantasien zu zügeln.
Ela: Diese Ticketmentalität zeigt sich auch in den Studentenprotesten pro Palästina. Konsequenterweise müssten sogenannte progressive Kräfte doch auch in diesem Fall progressive Kräfte unterstützen. Israel ist bekannt für seine progressive Politik, wenn es um LGBTQ-Rechte geht etc. Aber wir wissen, als ordentlicher Linker ist man einfach nicht Pro-Israel. Deswegen hat man eigens für Israel den Begriff des „Pinkwashing“ erfunden. Und deswegen kauft man meistens mit der Position Pro-Palästina auch die Position Pro-Freiheitskämpfer und akzeptiert, dass diese Freiheitskämpfer dann eben nicht für LGBTQ-Rechte einstehen, sondern eher für das Gegenteil. Und natürlich nimmt man mit dem Ticket dann auch den mehr oder weniger offenen Antisemitismus in Kauf, den diese Freiheitskämpfer und ihre Anhänger gern vom Stapel lassen und schreit sich in Rage und verbreitet noch die krudesten Verschwörungstheorien über Israel. Am Ende richtet sich die Wut gegen all jene, die anderer Meinung sind und damit nicht zur „Gemeinschaft der Rechtschaffenen“ gehören. Am Ende „verwandelt der sich ausbreitende Verlust der Erfahrung auch die Anhänger des progressiven Tickets (…) in Feinde der Differenz“. (Dialektik der Aufklärung, 216)
Stefan: Die KPÖ hat sich ja auch hervorgetan wieder mal. Die Publikationen auf der offiziellen Homepage sind ja sehr gemäßigt im Vergleich zu den persönlichen Wortmeldungen ihrer Mitglieder, die als erste Reaktionen zum Terroranschlag der Hamas gekommen sind. Offiziell ist man gegen Krieg und für Abrüstung, also gegen die „Kriegslogik“. Dass zur Kriegslogik dazugehört, dass man ohne militärische Mittel sich gegen diese nicht zur Wehr setzen kann, wird dabei unterschlagen. Darüber hinaus sind die wütenden Stellungnahmen gegen Putin bei seinem imperialistischen Angriffskrieg gegen die Ukraine weitgehend ausgeblieben. Da stand stets die „Komplexität der Situation“, die „Provokation durch die NATO Erweiterung“ und der diffuse Wunsch nach „aktivem friedenspolitischen Engagement“ im Vordergrund. Bei Israel war der Ton von Anfang an viel schärfer. Man könnte zusammenfassend sagen, die KPÖ ist gegen Angriffskriege, außer Genosse Putin führt sie durch. Vielleicht liegt es aber auch am neu entdeckten Antiimperialismus in der KPÖ. Der ja mit der postmodernen Philosophie wieder starken Auftrieb erhalten hat.
Alex: Ich glaube nicht, dass bei der Einschätzung des Ukraine-Kriegs durch die KPÖ „die Komplexität der Verhältnisse“ im Vordergrund stand. Um Komplexität ging es doch gerade nicht in den schablonenhaften und gehaltlosen Phrasen von einer angeblichen „Provokation durch die NATO-Erweiterung“ oder ähnlichem. Stattessen hat da der alte, noch aus Sowjetzeiten stammende prorussische, Reflex eigesetzt – der über weite Strecken einfach ein antiwestlicher ist. Daran anschließend glaube ich auch nicht, dass diese Leute den Antisemitismus auf einem Ticket in Kauf nehmen; dieser ist vielmehr Ausdruck ihres eigenen Weltbilds und der Art und Weise, wie sie sich einen Reim auf das gesellschaftliche Rätsel des Kapitals und seines Souveräns machen. Es ist der alte Antiimperialismus, der modernisiert und in neue, postmoderne oder postkoloniale Gewänder gekleidet fröhliche Urständ feiert. Mit ML-Rhetorik lockt man heute kaum noch einen Hund mehr hinter dem Ofen hervor, und auch wenn Leute wie Willy Langthaler oder Michael Pröbsting mit dem 7. Oktober ihren zweiten oder vielleicht sogar schon dritten Frühling erlebt haben, sind sie auf eine Art doch Auslaufmodelle, was man nicht zuletzt daran merkt, dass auch sie ohne den postmodernen oder postkolonialen Jargon nicht mehr auskommen.
Interessant ist aber, wenn man etwa Judith Butler hernimmt, wie sehr all diesem Jargon und dieser Phraseologie zum Trotz, das zugrundeliegende Weltbild sich letztlich auf ganz ordinären Antiimperialismus reduziert. Sexualität als Herrschaftspraxis übe letztlich nur der Westen aus. Die Burka, die der islamistischen Geschlechtersegregation der Taliban Ausdruck verleiht, stellt für sie hingegen eine „Übung in Bescheidenheit und Stolz“ dar, mit der die Frauen, die sie tragen, nicht nur einen Zusammenhang mit ihrer Familie und Kultur präsentieren sollen, sondern mit der sie vor allem ihrem Widerstand gegen die westliche Hegemonie und deren Sexualitätsdispositive Ausdruck verliehen. Die Attentäter von 9/11 sollen die USA „affiziert“ und ihnen eine Lektion in Sachen „vor-ontologischem“ Gefährdet-Sein und unaufhebbarer Verletzbarkeit des Lebens erteilt haben. Dieses Gesprächsangebot hätten die USA jedoch im Namen von Sicherheit und Souveränität ausgeschlagen, im Namen einer uneinlösbaren Illusion, der nur durch die Vernichtung der angeblichen Gefährder Genüge getan werden könne: der War on Terror erweise sich so als antiislamischer Krieg gegen die mittels des Begriffs Terrorismus aus der Menschheit Ausgeschlossenen. Ganz ähnliche Vorwürfe macht Butler auch den Israelis, die sich und ihre Sicherheit über alles stellten, was nur gelinge, wenn sie ein Mauer um sich zögen, um die Anderen draußen zu halten und sie als Personifizierung des – prinzipiell unaufhebbaren – Gefährdet-Seins unterjochen, verfolgen und vernichten.
Insofern gibt es dann doch einen Unterschied des postmodernen zum klassisch marxistisch-leninistischen Antiimperialismus. Während letzter noch ebenso hehre wie hohle Phrasen von Befreiung mit sich herumschleppte, ist ersterer von einem zutiefst resignativen Zug geprägt, der aber zugleich herrisch auftrumpft. Die allgemeine Misere wird verallgemeinert und als „vor-ontologischer“ Zustand der Verletzlichkeit und des Ausgeliefertseins präsentiert, dem man sich zu fügen und in den man sich einzufühlen habe. Mit aller Wut und allem Hass wird hingegen derjenige verfolgt, der sich diesem verallgemeinerten Opferzustand nicht fügen möchte: wenig überraschend, dass diesen Denkern und Denkerinnen der Zionismus, der sich die Überwindung der jüdischen Opferrolle im Bestehenden zum Ziel gesetzt hat, als absoluter Feind ins Fadenkreuz gerät.
Ela: Dara Horn schreibt in „People love Dead Jews“, dass Juden nur interessant sind, wenn ihr Tod einen „klaren Zweck“ erfüllt, nämlich jenen, „uns etwas zu lehren“. Juden sind damit nur in ihrer Funktion als Metapher von Bedeutung, wenn man an ihrem Beispiel aufzeigen kann, was passieren könnte, wenn man z. B. eine Gruppe von Menschen ausgrenzt, wohin dieses und jenes letztendlich führen könnte, als einprägsames Beispiel, als „Dienst an der Menschheit“.
Man wirft aber absurderweise den Israelis vor, dass sie sich diesmal nicht ohne Widerstand ihrer Auslöschung ergeben, dass sie nicht einfach „leise sterben“, um dann wieder posthum betrauert werden zu können. Die Diskussion um Sicherheitsmaßnahmen, die Diskussion um die Mauer ist ja vollkommen absurd, wenn man sich bewusst macht, wie viele Terroranschläge es in Israel allein im Jahr des Beginns des Mauerbaus, 2002, gegeben hat. Das waren um die 20 Anschläge. Das waren Bombenanschläge, das waren Messerattacken, das waren Raketenbeschüsse. Wenn man sich die Liste der Terroranschläge in Israel ansieht, erkennt man außerdem, dass es seit 1953 kaum ein Jahr gab, in dem keine Anschläge passierten. Dieses Jahr waren es ja bereits 8 Angriffe, wenn man von den Raketen absieht, die täglich reingeschossen werden. Das öffentliche Interesse am vergangenen Leid von Juden lässt sich eben nicht in gegenwärtigen Respekt für lebendige Juden übersetzen.
Dara Horn formuliert lapidar: „Juden sind Menschen, die aus moralischen und erzieherischen Gründen eigentlich tot sein sollten.“